Ron Taber: Ein Blick auf den Leninismus

Gefunden auf anarchist library, die Übersetzung ist von uns. Die Einleitung für diesen Text erscheint uns etwas schwieriger als sonst. Die Kurzfassung wäre, man stelle sich eine marxistisch-leninistische Gruppe (um genauer zu sein, eine trotzkistische) vor, die in der eigenen Publikation eine Textreihe beginnt, die eine Reflexion/Selbstkritik an den eigenen Positionen beginnt und schlussendlich aus dieser Selbstkritik (nicht sofort, aber darauffolgend) sich auflöst und sich der anarchistischen Bewegung anschließt. Unter anderem beteiligten sich einige ihrer Mitglieder an der Gründung der Publikation „Love and Rage“ die in den Vereinigten Staaten und Mexiko eine ansehnliche Präsenz hatte (abgesehen von interessanten Positionen die darin vertreten waren).

Dies ist aber nicht der Hauptgrund für die Veröffentlichung dieses Textes, sondern eher die einerseits (teilweise) sehr interessante und sehr eloquente Kritik am Bolschewismus-Marxismus-Leninismus, die eben von jener trotzkistischen Organisation, die Revolutionary Socialist League (RSL), niedergeschrieben wurde. Es wäre aber dennoch falsch zu erwarten, dass dieser Text von einer anarchistischen Gruppe geschrieben wurde, oder als ob es sich hier von einer anarchistischen Kritik am Leninismus handeln würde, obwohl gegen Ende des Textes diese Entwicklung schon sehr deutlich wird. Einige Aspekte was der Text als solches kritisiert, wie das „undemokratische“ Wesen an Lenin´s Theorie – oder zumindest das „undemokratische“ Handeln der Bolschewiki während der Revolution –, verteidigen automatisch die Idee der Demokratie im positiven Sinne, was wir entschlossen ablehnen. Oder ob Lenin bewusst oder unbewusst einen so fatalen Weg einschlug den Stalin später nur konsequenterweise weiter führte. Die pathologisierte Kritik (was Lenin verrückt?) ist weder seriös noch zielführend oder irgendwie erwünscht (die Waffen der Kritik müssen scharf sein, sonst sind sie stumpf), die Kritik an die leninsche Ideologie muss inhaltlich sein und auf ein wesentliches Merkmal reduziert werden, die Bolschewiki waren eine Partei-Organisation die Machtfrage stellte und sie zu ihren Bedingungen und Interessen löste und dies gewiss mit allen Konsequenzen die dazugehörten (Terror, Kapitalismus und Staat aufbauen, Konterrevolution…). Daher kann die Frage nicht alleine auf die Figur von Lenin reduziert werden, Herrschaft funktioniert komplett anders wie wir sehr gut wissen, denn wenn diese auf die Figuren Einzelner sich wirklich manifestieren würde, dann wäre die Abschaffung dieser ein leichter Unternehmen, aber dass ist es nicht. Die Herrschaft des Kapitals manifestiert sich genauso durch die soziale Verhältnisse die es erschafft und dadurch die komplette Welt erfasst.

Dieser Text ließt sich wie die Veränderung einer gläubigen Person zu einer atheistischen. Wenn auch mit vielen Kritiken und vielen Fehlern. Leider ist diese Entwicklung meistens dennoch umgekehrt, Menschen die einst von sich selbst behaupten anarchistisch gewesen zu sein schließen sich leninistische Organisation an oder kämpfen für den Erhalt eines Staates (Ukraine, Israel z.B.), oder für die Gründung eines neuen (Palästina und Kurdistan, auch wenn letzter, der in gewissen Regionen schon einer ist, diesen Titel nicht tragen wird, „ce ne pas une pipe“) und dies ist auch nicht gerade ein neues Phänomen.

Die Kritik am Marxismus-Leninismus kann und wird nur auf einer inhaltlichen und praktischen Art und Weiße effektiv sein (die Waffen der Kritik müssen scharf und nicht stumpf sein). Sie muss als eine Ideologie, als eine falsche Opposition, als eine konterrevolutionäre Position die von der (radikalen) Linken des Kapitals nicht zu trennen ist, entlarvt werden.

Was die Zitate von Lenin´s Werken angeht die im Text vorkommen, haben wir versucht alle offiziellen Übersetzungen zu verwenden, was einerseits nicht immer uns gelungen ist, und anderseits unterscheiden sich anscheinend die Satzstruktur der englischen Ausgaben mit der deutschsprachigen Ausgabe, was dazu führte dass wir längere Passagen nehmen mussten, damit die Sätze überhaupt Sinn ergeben. Es soll uns verziehen werden. Was wir nicht gefunden haben, aus mangelnder Lust uns durch die Lenin-Werke durchzuwühlen, haben wir nach und mit bester Intention aus dem englischen übersetzt. Anscheinend ist der größte Unterschied beider Ausgaben die Sprache selbst, die deutschsprachige Ausgabe wirkt manchmal, wie bei Marx, etwas altertümlich, manchmal sogar archaisch.

Hier also ein weiterer Beitrag in der Kritik am Leninismus, weitere Texte dazu auf unseren Blog: Kritik am Leninismus (sowie deren Derivate).

Soligruppe für Gefangene (auch bekannt als Freundinnen und Freunde von Fanny Kaplan und Marusya Nikiforova)


Ron Taber: Ein Blick auf den Leninismus

Vorwort

Das Buch, das du in den Händen hältst, wurde ursprünglich als eine Reihe von Artikeln in der Zeitung Torch/La Antorcha geschrieben, die 1987 und Anfang 1988 von der Revolutionary Socialist League herausgegeben wurde. Die Ideen, die in diesen Artikeln vorgestellt werden, hatte ich schon seit einiger Zeit im Kopf. Sie waren vor allem ein Nebenprodukt meiner Arbeit an einem früheren Buch, „Trotskyism and the Dilemma of Socialism“ (mit Christopher Z. Hobson), einer Geschichte des Trotzkismus und einer Kritik an Leo Trotzkis Theorie über die Natur der Sowjetunion.

Während ich das Buch schrieb, wurde mir klar, dass Trotzkis Tendenz, die Schuld für die Entwicklung des sowjetischen Regimes, die zum Totalitarismus führte, allein Joseph Stalin zuzuschreiben und Lenin von jeglicher Verantwortung freizusprechen, zumindest einseitig war. Die Frage1 Welche Rolle spielten der Gründer und Anführer der bolschewistischen Partei, W. I. Lenin, sowie seine Theorien und praktischen Aktivitäten bei der Errichtung dieser unterdrückerischen Gesellschaft (die wir als Staatskapitalismus bezeichnen)? – stellte sich mir.

Das Ergebnis war eine Menge zusätzlicher Lektüre über die Oktoberrevolution, den Bürgerkrieg und seine Folgen, verschiedene philosophische Fragen und die erneute Lektüre einer Reihe von Werken Lenins selbst. Teilweise Schlussfolgerungen aus diesem Programm wurden in einer Reihe von Entwürfen für Dokumente festgehalten, die für interne Diskussionen in der Revolutionary Socialist League bestimmt waren, sowie in einem Vortrag, der 1986 auf dem Kongress dieser Organisation gehalten wurde. Ich war jedoch mit keiner dieser Darstellungen meiner Schlussfolgerungen zufrieden.

An einem bestimmten Punkt meiner Neubewertung des Leninismus kam mir der Gedanke, dass die grundlegende Weltanschauung und Mentalität Lenins und der bolschewistischen Partei insgesamt überwiegend autoritär waren, und ich konnte meine Akzeptanz des Leninismus nicht mehr mit meinem grundlegenderen Bekenntnis zu einem revolutionären libertären Sozialismus in Einklang bringen. Als einer der führenden Anführer der RSL konnte ich diese Schlussfolgerung nicht guten Gewissens für mich behalten. Die Reihe von Artikeln, die jetzt in diesem Buch zusammengestellt sind, war mein Versuch, mein Denken zu erklären und zu begründen.

Da sie über einen Zeitraum von 13 Monaten für eine Zeitung und damit für ein ziemlich breites Publikum geschrieben wurden, oft unter dem Druck von Terminen, sind die Artikel gelegentlich repetitiv, während einige Themen etwas vereinfacht behandelt werden. Außerdem wurden einige Themen – zum Beispiel Lenins Haltung gegenüber der Bauernschaft – aus Zeit- und Platzgründen weggelassen.

Trotzdem geben die Artikel meine aktuelle Einschätzung des Leninismus ziemlich genau wieder, sodass sie es wert sind, in Buchform neu veröffentlicht zu werden. Ich hoffe, dass die Schwächen des Buches nicht verhindern, dass es für diejenigen, die nach einer revolutionären und antiautoritären politischen Perspektive und Strategie suchen, von Wert ist.

Ich möchte mich besonders bei Bruce Kala für seine Zeit und Geduld bedanken, die er sowohl für den Satz der Originalartikel als auch für die Einfügung der verschiedenen kleineren redaktionellen Änderungen seitdem aufgewendet hat. Für alle Fehler bin natürlich allein ich verantwortlich.

Einleitung

In der folgenden Diskussion wird unter Leninismus die Theorie und Praxis der politischen Strömung/Fraktion/Partei innerhalb der russischen revolutionären Bewegung unter der Führung von W. I. Lenin von etwa 1900 über die Oktoberrevolution 1917 bis zu den ersten Jahren des bolschewistischen Regimes angeführt wurde. Obwohl andere Individuen in verschiedenen Phasen der bolschewistischen Strömung eine wichtige Rolle spielten, war Lenin als Theoretiker, Organisator und oberster Anführer die mit Abstand dominierende Persönlichkeit. Der Bolschewismus war überwiegend seine Idee. Und obwohl sich Lenins Ideen und Politik im Laufe seiner politischen Karriere veränderten, gibt es doch genügend Einheit und Kontinuität zwischen ihnen, um sie als Leninismus zu beschreiben und zu analysieren.

Diese Reihe soll kein vollständiges Werk über den Leninismus sein. Sie soll auch keine „Bilanz” sein, also eine sorgfältige Abwägung von Vor- und Nachteilen. Da wir uns während unserer gesamten Geschichte als Tendenz als Leninisten verstanden haben, besteht unsere Aufgabe jetzt nicht darin, das Positive zu betrachten, sondern im Interesse einer aufschlussreichen Analyse den Fokus auf das Negative zu legen und nach den Schwächen des Leninismus zu suchen. Eine Diskussion der Vorteile – im Lichte der Nachteile – und eine Bilanz können später folgen.

Unser verbindendes Thema ist aber nicht Negativität an sich, sondern eine bestimmte Frage oder ein bestimmtes Problem. Das lässt sich grob wie folgt beschreiben: Welche Verantwortung trägt der Leninismus/Bolschewismus für das Sozialsystem und die Verbrechen dessen, was wir allgemein als Stalinismus und genauer als Staatskapitalismus bezeichnet haben?

Wie die meisten Leser von Torch/La Antorcha wissen, glauben wir nicht, dass die sozialen Systeme, die in Russland, China, Kuba, Osteuropa, Vietnam usw. existieren, sozialistisch sind, sich in Richtung Sozialismus bewegen, Arbeiterinnen und Arbeiterstaaten oder gar fortschrittlich sind. Stattdessen betrachten wir sie als stark verstaatlichte Varianten des Kapitalismus – als Staatskapitalismus. In diesen Gesellschaften werden die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie andere unterdrückte Menschen, denen politische Rechte und Macht über den Staat vorenthalten werden, von einer bürokratischen Elite ausgebeutet, die sich um den ökonomischen, politischen und militärischen Apparat der Partei-Staat herum gebildet hat.

Ich habe nicht vor, diese Position hier zu begründen, geschweige denn zu beweisen. (Wir haben sie an anderer Stelle schon oft diskutiert.) Sie ist eine Prämisse dieser Reihe. Ausgehend davon interessiert mich besonders die Entstehung des allerersten staatskapitalistischen Regimes – nämlich in Russland –, das das Ergebnis der Oktoberrevolution (der Bolschewiki) von 1917 war. Diese Revolution und dieses Regime waren nicht nur Inspiration und Vorbild für die Revolutionen und Prozesse, die zur Errichtung der anderen staatskapitalistischen Systeme führten. Aufgrund des Charakters der Oktoberrevolution selbst waren der Aufstand und das von ihm errichtete bolschewistische Regime auch entscheidende Faktoren, die die Illusion nährten, dass die staatskapitalistischen Regime sozialistisch seien.

Wir glauben, dass die Oktoberrevolution in hohem Maße eine Revolution war, die von der Arbeiterklasse durchgeführt und von der Bauernschaft unterstützt wurde. Die bolschewistische Partei, die die Revolution anführte (zusammen mit den Linken Sozialrevolutionären und verschiedenen Anarchistinnen und Anarchisten), hatte die Mehrheit in den Sowjets (Arbeiterräten, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern selbst nach der Februarrevolution gegründet worden waren), den Fabrikkomitees und anderen Massenorganisationen gewonnen. Die meisten dieser Sowjets hatten einige Wochen vor der Revolution Resolutionen verabschiedet, in denen sie „Alle Macht den Sowjets“ forderten.

Der Aufstand selbst wurde von einer ziemlich großen Anzahl von Arbeiterinnen- und Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenorganisationen durchgeführt, von denen die meisten nicht Teil der bolschewistischen Partei waren oder gar unter ihrer festen Kontrolle standen. Darüber hinaus wurde der Aufstand nach seinem Ausbruch vom Allrussischen Sowjetkongress und anderen Massenorganisationen gebilligt. (Der Aufstand wurde auch de facto – ja sogar erst ermöglicht – von der Masse der Bauern unterstützt, die im Sommer und Herbst 1917 sich erhebten und die Landgüter beschlagnahmten und aufteilten.)

Mit anderen Worten: Die Oktoberrevolution war nicht einfach ein Staatsstreich der Bolschewiki, der gegen den Willen und hinter dem Rücken der Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern durchgeführt wurde.

Trotz des populären Charakters des Aufstands war das Regime, das schließlich aus der Revolution, dem Bürgerkrieg und Stalins Machtkonsolidierung hervorging, eine schreckliche totalitäre Diktatur, die den Arbeiterinnen und Arbeitern jegliche Kontrolle über die Fabriken entzogen, den Bauern das Land wieder weggenommen, beiden die Kontrolle über den Staat sowie praktisch alle politischen Rechte genommen und dabei Millionen von Menschen getötet hatte.

Früher haben wir die Schuld für diese Entwicklung meistens 1) Joseph Stalin gegeben, der nach Lenins Krankheit und Tod die Führung der bolschewistischen (kommunistischen) Partei übernommen hat, und 2) den objektiven Bedingungen. Mit anderen Worten, in Anlehnung an die Analyse von Leo Trotzki glaubten wir, dass bestimmte objektive Bedingungen – das Scheitern der Arbeiterinnen und Arbeiter in anderen Ländern, erfolgreiche Revolutionen durchzuführen, die konterrevolutionären Versuche und imperialistischen Interventionen in Russland, die historische Rückständigkeit und Armut Russlands sowie die durch den Ersten Weltkrieg, die Revolutionen und den Bürgerkrieg verursachten Störungen und Verwüstungen – die bolschewistische Regierung daran gehindert hätten, sich zu einer gesunden proletarischen Diktatur („ein Staat, der bereits zu einem Nicht-Staat wird“, ein „kommunistischer Staat“ usw.) zu entwickeln. Stattdessen ermöglichten sie es einer von Stalin geführten und organisierten Bürokratie, die Macht zu ergreifen, die letzten Überreste der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter über Ökonomie und Staat zu beseitigen, die Bauern zu zerschlagen und sich als staatskapitalistische herrschende Klasse zu festigen.

Aber ist das schon die ganze Geschichte? Ist es wirklich möglich, die Verantwortung/Schuld allein den objektiven Bedingungen und Stalin zuzuschreiben und die Bolschewiki und Lenin von jeder Schuld freizusprechen? Ich glaube nicht.

Es gibt eine Reihe von Fragen, deren bloße Formulierung nahelegt, dass die Bolschewiki selbst (also Lenin und die Partei als Ganzes, bevor Stalin seine Macht über sie etablierte) zumindest eine gewisse Verantwortung für das Geschehene tragen. Zum einen: Wie kam Stalin an die Spitze der Partei? Warum war ein Mann wie er überhaupt in der Partei? Was für eine Partei würde es jemandem wie Stalin ermöglichen, in ihr aufzusteigen, viele Jahre lang als wichtiger Anführer zu fungieren und sich schließlich als ihr oberster Anführer zu etablieren?

Warum hat Lenin Stalin in das Organisationsbüro und das Sekretariat der Partei berufen, geschweige denn zum Generalsekretär der Partei ernannt oder ihm erlaubt, dieser zu werden? Warum haben sich so viele Bolschewiki auf die Seite Stalins gestellt und sich gegen Trotzki und, wie es scheint, gegen die ursprünglichen Ideale des Bolschewismus gestellt? Was hat es Stalin ermöglicht, so leicht den Mantel des Leninismus zu übernehmen? Warum haben sich nicht mehr Bolschewiki organisiert, um Stalin zu stoppen? Warum ließen sie sich von ihm ohne ernsthaften Widerstand „liquidieren“?

All diese Fragen deuten zumindest für mich darauf hin, dass es etwas in der Theorie und Praxis der bolschewistischen Partei, ihrer Politik und Methoden, ihrer Atmosphäre und ihrem „Ethos“ gab, das 1) Stalin hervorbrachte und 2) dazu beitrug, die Umstände zu schaffen, die es ihm ermöglichten, den Staatskapitalismus in Russland zu festigen.

Dass Lenin und die Bolschewiki (und der Leninismus) zumindest teilweise für die Einführung des Staatskapitalismus verantwortlich gemacht werden, ergibt sich nicht nur aus den oben genannten Fragen zu Stalin und der Partei, sondern noch mehr aus einer objektiven Betrachtung des Staates und der Gesellschaft, die sich in Russland nach dem Ende des Bürgerkriegs (als Lenin noch lebte und bei guter Gesundheit war) etabliert hatten.

Zu diesem Zeitpunkt war die Sowjetregierung ein Einparteienregime, das vollständig von den Bolschewiki geführt wurde. Die Partei dominierte die Sowjets, die kaum mehr als Instrumente zur Umsetzung der von den Bolschewiki beschlossenen Politik waren und nicht mehr der Ort, an dem die Arbeiterinnen und Arbeiter die Politik bestimmten und ihre Führung wählten und kontrollierten. Auch die Fabriken oder andere Teile der Ökonomie wurden nicht von den Arbeiterinnen und Arbeitern geführt. Die Fabrikkomitees waren längst durch eine „Ein-Mann-Führung” ersetzt worden – bolschewistische Beauftragte, die in keiner Weise von den Arbeiterinnen und Arbeitern gewählt oder kontrolliert wurden und ihnen gegenüber auch nicht rechenschaftspflichtig waren.

Fast alle anderen politischen Parteien waren entweder verboten oder wurden nur knapp toleriert (bis sie 1922 verboten wurden) und von der Tscheka (politische Polizei) schikaniert. Nachdem im März 1921 das Verbot innerparteilicher Fraktionen in der bolschewistischen Partei beschlossen worden war, verfolgte die Tscheka auch oppositionelle Kräfte innerhalb der Partei. Die Gewerkschaften/Syndikate waren fast ausschließlich Arme des Staates, und obwohl einige Streiks unter der NEP (Neue Ökonomische Politik, verabschiedet 1921) legal waren, wurden Streiks stark unterbunden, und Streikende, insbesondere Streikführer, wurden schikaniert und verhaftet.

Im weiteren Sinne war die bolschewistische Partei von den Volksklassen, darunter die überwiegende Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern, isoliert. Dies zeigt sich in der Niederschlagung des Aufstands in der Marinefestung Kronstadt, den Massenaufständen der Bauern in einer Reihe von Provinzen (z. B. Tambow) und dem Beinahe-Generalstreik in Petrograd, das lange Zeit die wichtigste politische Basis der Bolschewiki gewesen war – all dies ereignete sich gegen Ende des Bürgerkriegs Anfang 1921. Kurz gesagt, obwohl der Sowjetstaat noch weit von dem stalinistischen Albtraum entfernt war, zu dem er werden sollte, waren bis 1922 die Grundlagen eines staatskapitalistischen Regimes geschaffen worden, komplett mit Zensur (Bibliotheken wurden regelmäßig gesäubert, um „anstößiges“ Material, einschließlich veralteter bolschewistischer Schriften, zu entfernen), Geheimpolizei, Arbeitslagern usw.

Der Punkt hier ist nicht, dass das Regime in Russland nach dem Bürgerkrieg vollständig staatskapitalistisch und totalitär war. Es geht auch nicht darum, dass die Bolschewiki allein für die Errichtung eines solchen Regimes verantwortlich waren und daher nichts anderes als eine staatskapitalistische politische Kraft waren. (Ich denke, die Frage ist komplizierter als das.) Es geht darum, darauf hinzuweisen, dass eine objektive Betrachtung des Problems nahelegt, dass die Bolschewiki zumindest teilweise für die Errichtung des Staatskapitalismus und der stalinistischen Hölle in Russland verantwortlich gemacht werden müssen. (Hoffentlich wird im Laufe der Serie deutlich werden, inwieweit sie dafür verantwortlich sind.)

Warum ist die Frage des Leninismus und seiner Beziehung zum Stalinismus/Staatskapitalismus für uns so wichtig? Dafür gibt es zwei miteinander verbundene Gründe. 1) Als die Revolutionary Socialist League gegründet wurde, haben wir uns im Wesentlichen als „orthodoxe Trotzkisten” definiert, mit einer staatskapitalistischen Position zur Natur Russlands und der anderen sogenannten „sozialistischen Länder”. Unser Trotzkismus beinhaltete den Glauben an einen orthodoxen Leninismus und Marxismus, mehr oder weniger so, wie er von Trotzki definiert wurde. Wir haben das selten genau so formuliert, aber das war es, was wir meinten, als wir den Trotzkismus als „Fortführung” des Marxismus und Leninismus bezeichneten.

Im Gegensatz zu anderen linken Gruppen gaben wir uns aber nicht damit zufrieden, uns auf eine bestimmte „orthodoxe“ Weise zu definieren und dann unsere Politik einfach so zu lassen. Aus verschiedenen Gründen (einer davon war der Einfluss der Frauen- und der Lesben- und Schwulenbewegung) haben wir unsere Politik immer wieder hinterfragt. Insbesondere haben wir angefangen, den Trotzkismus genauer zu untersuchen.

Ein wichtiger Impuls für diesen Prozess kam aus unserer eigenen Theorie. Konkret wurde uns klar, dass, wenn Trotzki sich in Bezug auf die Natur Russlands geirrt hatte, dieser Fehler wahrscheinlich kein Einzelfall war und auch Auswirkungen auf andere Aspekte seiner Politik und Methoden hatte. Unter anderem erkannten wir, dass es neben den positiven, pro-sozialistischen Aspekten von Trotzkis Politik (die ihn letztendlich dazu veranlassten, eine Revolution gegen Stalin zu fordern und eine Mehrparteiendemokratie unter einem Arbeiterinnen- und Arbeiterstaat zu befürworten) auch sogenannte „staatskapitalistische” Aspekte oder Tendenzen gab, die den Staatskapitalismus rechtfertigten oder implizierten. Es waren diese Tendenzen, die Trotzkis Anhänger in der Vierten Internationale nach der Ausbreitung des Staatskapitalismus in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg dazu veranlassten, zu kapitulieren und zu Apologeten des Staatskapitalismus zu werden. (Wie dies nahelegt, war der offensichtlichste staatskapitalistische Aspekt des Trotzkismus Trotzkis Position, dass Russland unter Stalin ein „degenerierter Arbeiterstaat“ sei, und die damit verbundene Schlussfolgerung, dass ein Staat ein Arbeiterstaat sein kann, auch wenn er nicht von den Arbeiterinnen und Arbeitern kontrolliert wird – ja, sie sogar unterdrückt.)

Kurz gesagt, wir kamen zu dem Schluss, dass der Trotzkismus eindeutig staatskapitalistische Aspekte aufwies und dass wir diese ablehnen, die „pro-sozialistischen“ Aspekte beibehalten, die anderen nach Bedarf modifizieren und uns generell von einer „orthodoxen“ (formalistischen, dogmatischen) Auffassung von Politik hin zu einem eher synthetischen (manche würden sagen: eklektischen) Ansatz bewegen sollten. Letzteres beinhaltet, dass wir uns andere linke politische Traditionen, wie zum Beispiel den Anarchismus, anschauen und von ihnen lernen.

Im Rahmen unserer sich entwickelnden Kritik am Trotzkismus begannen wir, der Zeit von der Oktoberrevolution über den Bürgerkrieg bis zu Lenins Arbeitsunfähigkeit und seinem faktischen Rücktritt Ende 1922/23 besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dies war laut Trotzki die Zeit, in der das bolschewistische Regime ein relativ gesunder Arbeiterinnen- und Arbeiterstaat war (es gab „bürokratische Verzerrungen”, wie Lenin es ausdrückte). Uns wurde aber klar, dass das weit von der Realität entfernt war, vor allem wenn man es vom marxistischen Ideal eines bereits im Verfall begriffenen Staates usw. aus betrachtet.

Wie bereits angedeutet, war das Sowjetregime zu diesem Zeitpunkt stark bürokratisiert (staatskapitalistisch), und ein Großteil davon war das direkte Ergebnis der Maßnahmen, die die Bolschewiki selbst ergriffen hatten: Sie konzentrierten die ökonomische und politische Macht in ihren eigenen Händen, schafften die direkte Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Fabriken ab, unterdrückten andere politische Strömungen, beschlagnahmten mit Gewalt Getreide von den Bauern, richteten eine Geheimpolizei ein, bauten eine Armee nach hierarchisch-bourgeoisem Vorbild auf usw. Auch wenn diese Maßnahmen als Reaktion auf die ebenso harten, wenn nicht sogar härteren Maßnahmen der Gegner der Bolschewiki ergriffen wurden, waren sie dennoch extrem bürokratisch, zwanghaft und brutal. Außerdem rechtfertigten und verherrlichten die Bolschewiki sie sogar und unternahmen nach dem Ende des Bürgerkriegs keine ernsthaften Anstrengungen, sie rückgängig zu machen (mit Ausnahme der Zwangsrequisitionen).

Am wichtigsten ist jedoch, dass diese Maßnahmen, aus welchen Gründen auch immer sie ergriffen wurden, ob gerechtfertigt oder nicht, die faktische Zerstörung der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Ökonomie und den Staat zur Folge hatten. Die Betrachtung dieser Tatsache warf zumindest die Frage auf, die ich nun zur Diskussion stellen möchte: Wie viel Verantwortung für den Staatskapitalismus trägt der Leninismus, oder wie viel Staatskapitalismus steckt im Leninismus?

Es gibt einen allgemeineren Grund für unsere Beschäftigung mit der Frage des Leninismus, und dieser hat unser theoretisches Interesse schon vor der Gründung der RSL geweckt. Das ist eine andere Frage: Wie konnte der revolutionäre Sozialismus, eine Weltanschauung und Bewegung, die behauptet, sich für die Befreiung der Menschheit durch eine Revolution der am stärksten unterdrückten Klassen einzusetzen, eines der unterdrückerischsten und am wenigsten befreienden Sozialsysteme schaffen, das die Welt je gesehen hat? Was auch immer die Errungenschaften der staatskapitalistischen Länder sein mögen (die wir hier nicht bestreiten oder diskutieren wollen), diese Errungenschaften wurden durch das Leiden und den Tod von Millionen von Menschen erkauft. (Die Schätzungen der Menschen, die infolge von Stalins erzwungener „Kollektivierung” und der daraus resultierenden Hungersnot sowie den massiven Säuberungen starben – ohne die Todesfälle im Zweiten Weltkrieg –, reichen von 20 Millionen aufwärts. Siehe Robert Conquest, The Harvest of Sorrow, Oxford, 1986, und The Great Terror, Macmillan, 1968. Die Schätzungen der Todesopfer von Maos „Großer Sprung nach vorn” und der Kulturrevolution in China gehen in die Millionen.)

Außerdem sind die Ergebnisse dieses unglaublichen menschlichen Opfers keine dynamischen und prosperierenden Gesellschaftssysteme, in denen die Menschen in Überfluss und Sicherheit leben. (Mit einer Ausnahme stagnieren diese Länder derzeit; die Ausnahme, China, bewahrt sich zumindest vorläufig vor der Stagnation, indem es eine Politik des freien Marktes, d. h. des traditionellen Kapitalismus, verfolgt.) Diese Länder sind auch keine Vorbilder für sozialistische Demokratie oder bewegen sich gar in diese Richtung.

Diese Tatsachen müssen revolutionäre Sozialisten, vor allem diejenigen, die sich als Leninisten verstehen, anerkennen und Verantwortung dafür übernehmen. Es reicht nicht aus, so zu tun, als hätten die Gräueltaten der Stalinisten/Maoisten nie stattgefunden, ihr Ausmaß und ihre Schwere herunterzuspielen, sie als bloße vorübergehende „Ausrutscher” zu betrachten oder sich selbst vorzumachen, dass so etwas nicht wieder passieren kann. Für diejenigen, die Augen und Geist offen halten, bleibt das Problem bestehen: Das konkrete historische Ergebnis des Programms der sozialistischen Revolution hat nicht zu dem geführt, was es versprochen hat, sondern zu einer ungeheuren menschlichen Tragödie. (Der relativ harmlose Charakter der kubanischen und sandinistischen Revolutionen sollte uns nicht die Augen vor den Realitäten in Russland, China und … Kambodscha verschließen.)

Was auch immer der Rest der Linken tun mag, wir von der Revolutionary Socialist League fühlen uns politisch und moralisch verpflichtet, so gründlich wie möglich zu untersuchen, warum dies geschehen ist. Wie können wir den Arbeiterinnen und Arbeitern und anderen unterdrückten Gruppen einen Weg in die Zukunft vorschlagen oder behaupten, wir hätten eine Lösung für ihre Probleme und für die Krise des Weltkapitalismus, ohne die Gründe für das historische Scheitern des revolutionären Sozialismus zu untersuchen? Es ist einfach, gegen Dinge zu sein – Armut, Rassismus und Sexismus, die Verschwendung und Brutalität des Kapitalismus, die Zerstörung enormer menschlicher Ressourcen und der Umwelt, die moralische Korruption usw. –, ohne viel zu theoretisieren. Aber um eine tiefgreifende soziale Transformation und die Schaffung eines neuen Sozialsystems zu befürworten und dies auf verantwortungsvolle Weise zu tun, muss man sich intensiv Gedanken darüber gemacht haben, wofür man eintritt und ob und unter welchen Umständen dies funktionieren wird. Sich einfach auf „historische Gesetze” oder die „Wissenschaft” des historischen Materialismus zu berufen, ist dasselbe wie wenn der Papst sich auf „Glauben” und „Offenbarung” beruft, und genauso gefährlich.

EINS — Welche Art von Revolution?

In diesem Teil unserer Serie konzentrieren wir uns auf die Frage der allgemeinen Strategie, insbesondere darauf, welche Art von Revolution die Bolschewiki in der Zeit vor der Oktoberrevolution befürworteten und auf die sie sich vorbereiteten.

Die meisten Leute, die sich mit der Geschichte des Marxismus nicht so gut auskennen, denken oft, dass Leute und Organisationen, die sich als Marxisten oder Kommunisten bezeichnen, immer für sozialistische Revolutionen eintreten und versuchen, diese durchzuführen – Revolutionen, um den Kapitalismus zu stürzen und den Sozialismus zu errichten. Doch obwohl solche Revolutionen in der Regel als „endgültiges Ziel“ solcher Gruppen deklariert wurden, haben marxistische Sozialisten in sogenannten „unterentwickelten“ Ländern im Allgemeinen bourgeoise (kapitalistische) Revolutionen als „erste Stufe“ des revolutionären Prozesses in ihren jeweiligen Ländern befürwortet. Die russischen Marxisten waren da keine Ausnahme. Bis April 1917 befürwortete und strebte die gesamte marxistische Bewegung, einschließlich Lenin und der Bolschewiki, eine bourgeoise („bourgeois-demokratische“) Revolution in Russland an.

Diese Position stand im Einklang mit dem, was damals als „orthodoxer Marxismus“ galt, und war ein wesentlicher Bestandteil davon. Diese Orthodoxie wurde weitgehend von Karl Kautsky, dem wichtigsten Theoretiker der damaligen internationalen marxistischen Bewegung (der Zweiten oder Sozialistischen Internationale), definiert.

Basierend auf einer mechanischen Auslegung der wichtigsten Texte des Marxismus und einer allgemein formalistischen Denkweise bestand diese Orthodoxie darauf, dass jedes Land der Welt alle als notwendig erachteten Stufen – Produktionsweisen – der menschlichen Gesellschaft zwischen dem Urkommunismus und dem Sozialismus/Kommunismus durchlaufen müsse. Diese waren die antike Sklavengesellschaft, der Feudalismus und der Kapitalismus.

Russland hatte um die Jahrhundertwende eindeutig keine entwickelte Form des industriellen Kapitalismus – es gab einen König, den Zaren, einen Landadel, Bauern, die erst kürzlich aus der Leibeigenschaft befreit worden waren und immer noch durch Schulden an das Land gebunden waren, keine politischen Rechte usw. Die Marxisten dieser Zeit betrachteten die russische Gesellschaft als eine Form des Feudalismus oder als eine Gesellschaft, die gerade aus dem Feudalismus hervorgegangen war. Und die Revolution, auf die sich das Land ihrer Meinung nach zubewegte und für die sie sich einsetzten und vorbereiteten, war eine bourgeoise Revolution. Das heißt, die Revolution würde den Zaren stürzen, den Landadel zerstören, die Bauern befreien und eine Art bourgeoises demokratisches politisches System errichten, das politische Rechte garantieren würde, darunter das Recht auf Streik und die Gründung politischer Parteien, Pressefreiheit usw.

Nicht zuletzt würde die Revolution den Weg für die vollkommene Entwicklung des Kapitalismus ebnen. Erst nach einer Phase kapitalistischer Entwicklung von unbestimmter Dauer, in der das Land industrialisiert würde und die Arbeiterklasse wachsen, sich organisieren und sich ihrer Stellung in der Gesellschaft sowie der Notwendigkeit, ihre eigene Herrschaft zu etablieren, bewusst werden würde, würde eine zweite, sozialistische Revolution stattfinden. Da nach der marxistischen Theorie der Sozialismus eine moderne Industrie und materiellen Überfluss erfordert und eine sozialistische Revolution nur von einer modernen Arbeiterklasse durchgeführt werden kann, wurden die Marxisten in Russland ironischerweise zu Befürwortern einer bourgeoise Revolution und … des Kapitalismus.

Mit fast wenigen Ausnahmen (Leo Trotzki nach 1905 war eine davon) schloss sich die gesamte marxistische Bewegung in Russland in der einen oder anderen Form dieser Theorie an. Sie glaubten nicht nur selbst daran, sondern argumentierten auch vehement gegen diejenigen, die anderer Meinung waren, darunter Anarchistinnen und Anarchisten sowie Populisten, die sich nach 1902 in der Sozialrevolutionären Partei organisierten. Der Marxismus, die „Wissenschaft der Gesellschaft“, „wissenschaftlicher Sozialismus“ – so behaupteten sie – ging davon aus, dass Russland, feudal, halbfeudal oder gerade aus dem Feudalismus hervorgegangen, die „historische Stufe“ des Kapitalismus nicht „überspringen“ könne. Und jeder, der das behauptete, war ein Träumer, ein Wirrkopf oder, schlimmer noch, ein Utopist. Die kommende Revolution in Russland würde eine bourgeoise Revolution sein und musste es auch sein.

In allen Debatten – Polemiken –, die Lenin bis 1917 mit anderen Individuen, Strömungen und Parteien führte, stellte er den bourgeoisen Charakter der russischen Revolution nie in Frage. In Lenins Debatten mit seinen wichtigsten marxistischen Gegnern, wie den „Ökonomen“ und den Menschewiki, war die Frage nach dem grundlegenden (bourgeoisen) Charakter der bevorstehenden Revolution beispielsweise nie explizit ein Thema.

In Lenins verschiedenen Büchern und Artikeln zur „Agrarfrage”, auf die er sich gut auskannte, war es eines seiner Hauptziele, Maßnahmen zu fordern, die die größtmögliche Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft garantieren würden. Bezeichnenderweise waren in einem Großteil der Zeit zwischen 1905 und 1917 die wichtigsten Agitationsslogans der Bolschewiki (die sich an die „breiten Massen“ richteten), bekannt als die „drei Wale“, grob gesagt der Achtstundentag, Land für die Bauern und eine demokratische Republik. Das sind alles bourgeois-demokratische Forderungen.

Erst Anfang 1917, nachdem die Februarrevolution den Zaren gestürzt hatte, dachten die Bolschewiki, dass die Revolution, die sie machen wollten, eine sozialistische sein würde. (Einige meinen, Lenin hätte diese Position schon Ende 1914 eingenommen. Zwar änderte sich Lenins Denken ab dieser Zeit – dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale – erheblich, aber es ist nicht klar, ob sich seine Sicht auf die Revolution vor Ende 1916/Anfang 1917 geändert hatte. Auf jeden Fall war Lenin in dieser Zeit von den meisten seiner Anhänger isoliert, und seine veränderte Denkweise dürfte vor seiner und ihrer Rückkehr nach Russland nach der Februarrevolution kaum viele Bolschewiki beeinflusst haben.)

Ich möchte hier nicht über den Kern der Frage diskutieren, nämlich ob die russischen Marxisten mit ihrer Auffassung richtig oder falsch lagen. Ich möchte vielmehr betonen, dass der Bolschewismus während seiner gesamten Entstehungsphase als politische Strömung/Bewegung/Partei nicht eine sozialistische Revolution, sondern eine bourgeoise Revolution befürwortete und anzustreben versuchte. Ist es angesichts dessen wirklich so überraschend, dass die Revolution, die die Bolschewiki in Russland durchgeführt haben, gemessen an ihren langfristigen Ergebnissen im Grunde genommen eine bourgeoise Revolution war, d. h. dass sie eine kapitalistische Gesellschaft geschaffen hat und keine sozialistische?

Ich will hier nicht mit Worten spielen oder billige Argumente vorbringen. Ich möchte einen grundlegenden Punkt ansprechen. Eine politische Bewegung wird nicht nur durch ihr langfristig erklärtes Ziel definiert, sondern noch mehr durch das, worum sie sich in der Gegenwart und in der nahen und mittleren Zukunft organisiert. Was sie tut, ist wichtiger als das, was sie sagt, dass sie „letztendlich” will.

Revolutionäre Marxisten, einschließlich Leninisten, haben die Gültigkeit dieses Punktes in Bezug auf die Parteien der Zweiten Internationale immer anerkannt. Obwohl diese Parteien langfristig den Sozialismus befürworteten, funktionierten sie im Großen und Ganzen wie reformistische sozialistische Organisationen. Sie leiteten die Gewerkschaften/Syndikate und andere Massenorganisationen, kämpften im Parlament für arbeiterfreundliche und andere fortschrittliche Gesetze usw. Der Sozialismus war in erster Linie für Reden am 1. Mai und anderen Feiertagen der Arbeiterklasse gedacht.

Während Lenin also überrascht war, als die Zweite Internationale zu Beginn des Ersten Weltkriegs zusammenbrach (die meisten ihrer Mitgliedsparteien unterstützten die räuberischen Kriegsziele „ihrer“ jeweiligen herrschenden Klassen, anstatt sich gegen den Krieg als Ganzes zu stellen), können wir rückblickend erkennen, dass dies die wahrscheinlichste Entwicklung war. Und einige scharfsinnige zeitgenössische Beobachter, wie Rosa Luxemburg, die lange Zeit zur Linken der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) gehörte, hatten bereits 1910 die wahre Natur der Mehrheit der Bewegung erkannt.

Wenn das Argument in Bezug auf die Sozialdemokratie gültig ist, warum wird es dann plötzlich falsch, wenn es auf die Bolschewiki angewendet wird? Ich wiederhole: Während des größten Teils ihrer Geschichte haben sie eine bourgeoise Revolution befürwortet und sich darauf vorbereitet. Ist das von Bedeutung?

Die Frage ist nicht, ob die Bolschewiki wirklich Reformisten und keine Revolutionäre waren, sondern welche Art von Revolutionären sie waren, sozialistische oder bourgeoise. Wenn wir unserer Analyse der Zweiten Internationale treu bleiben wollen, müssen wir meiner Meinung nach die Antwort geben oder zumindest offen für die Idee sein, dass die Bolschewiki eine Art (zugegebenermaßen eine besondere Art) bourgeoise Revolutionäre waren!

Ich bring dieses Argument nicht vor, um zu beweisen, dass die Bolschewiki eher bourgeoise als sozialistische Revolutionäre waren, sondern um zu zeigen, dass diese These plausibel ist. Für mich ist die Tatsache, dass sie während fast ihrer gesamten Geschichte vor der Oktoberrevolution eine Art bourgeoise Revolution befürworteten und sich darauf vorbereiteten, sehr aufschlussreich. Unter anderem macht es das scheinbare Paradoxon, wie sozialistische Revolutionäre letztendlich eine Form der bourgeoise Gesellschaft schufen, weniger paradox.

Gegen das, was ich hier sagen will, kann man einiges einwenden. Ein Argument ist, dass die bolschewistische Strömung/Bewegung/Partei hauptsächlich aus der Arbeiterklasse bestand. Das war aber eigentlich nur zu bestimmten Zeiten so, zum Beispiel während revolutionärer Umbrüche. Zu anderen Zeiten kann der „Klassencharakter” der Bewegung nicht einfach als proletarisch angesehen werden. Sie hatte zwar Mitglieder aus der Arbeiterklasse, aber auch viele Mitglieder, die zur Intelligenz gehörten, einer Schicht von Intellektuellen mit unterschiedlichem Hintergrund, die in etwa der modernen Mittelklasse entspricht. Es stellt sich auch die Frage, wie man jemanden mit Arbeiterhintergrund einordnen soll, der hauptberuflich als Parteifunktionär tätig ist. Alles in allem müsste man den Klassencharakter der bolschewistischen Bewegung während eines Großteils ihrer Geschichte als deklassiert betrachten, also als außerhalb der Klassenstruktur Russlands stehend.

Auf jeden Fall wird die Natur einer politischen Bewegung/Partei nicht in erster Linie durch die Klasse definiert, der ihre Mitglieder und Anhänger angehören. Die meisten Mitglieder der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten sind heute zum Beispiel wahrscheinlich Arbeiterinnen und Arbeiter, aber das macht die Partei nicht zu einer Arbeiterinnen- und Arbeiterpartei.

Ein weiteres Argument gegen meine Hypothese, dass die Bolschewiki (trotz ihrer selbst) bourgeoise Revolutionäre waren, ist, dass sie sich selbst als Marxisten betrachteten, den Marxismus studierten, den Arbeiterinnen und Arbeitern klar machten, dass sie Sozialisten waren, Menschen als Sozialisten rekrutierten usw. Aber sich selbst als Marxist zu bezeichnen, macht einen nicht automatisch zu einem. Und ein Marxist zu sein, macht einen auch nicht automatisch zu einem Sozialisten im revolutionären libertären Sinne des Wortes.

Die meisten Strömungen, die sich heute als marxistisch bezeichnen, betrachten wir als staatskapitalistisch, und ihre Vision des Sozialismus ist in Wirklichkeit eine Form des Staatskapitalismus. Woher wissen wir, wie die Bolschewiki sich den Sozialismus vorstellten? Vielleicht haben sie tatsächlich Leute als Sozialisten rekrutiert, Studienkreise zum Thema Sozialismus veranstaltet usw. Aber wenn ihre Vision des Sozialismus in nennenswertem Maße von staatskapitalistischen Ideen beeinflusst war – zum Beispiel, dass eine Partei (ihre) die Entscheidungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter treffen würde –, dann macht ihre Befürwortung dessen, was sie Sozialismus nannten, sie nicht zu Sozialisten.

Tatsächlich ist nicht klar, inwieweit die Bolschewiki regelmäßig Diskussionen oder Aufklärungsarbeit über das Wesen des Sozialismus betrieben haben. Die Bolschewiki waren, wie die gesamte marxistische Bewegung seit Marx und Engels, ungeduldig, wenn es um Diskussionen oder Untersuchungen darüber ging, wie der Sozialismus konkret aussehen würde. Dies war zum Teil eine Reaktion auf die utopischen Sozialisten Robert Owen, St. Simon, Fourier usw., die detaillierte Pläne (bis hin zu der Frage, wer wo leben würde) darüber entwarfen, wie die ideale Gesellschaft aussehen würde, und in einigen Fällen sogar versuchten, solche Gemeinschaften zu gründen. Marx und Engels erkannten richtig den Totalitarismus solcher Projekte (die Menschen in diesen Gemeinschaften entscheiden nicht, wie die Gemeinschaft aufgebaut sein soll; das wird vorher von jemand anderem entschieden) und verzichteten darauf, ihre Vision des Sozialismus ausführlich zu beschreiben oder auch nur ausführlich zu diskutieren.

Diese Haltung war auch durch die Überzeugung motiviert (die, wie wir später noch sehen werden, selbst Totalitarismus hatte), dass der Sozialismus das notwendige (unvermeidliche) Ergebnis der Geschichte sei; da der Sozialismus kommen würde, machte es keinen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, wie er aussehen würde.

Aus welchem Grund auch immer, die marxistische Bewegung hat bis zu dem Zeitraum, den wir hier diskutieren, ihre Vorstellung von einer sozialistischen Gesellschaft im Allgemeinen nicht diskutiert oder näher erläutert. Angesichts der Behauptung der Bolschewiki, dass die Revolution, die in Russland „auf der Tagesordnung“ stand, eine bourgeoise Revolution war, und angesichts der Tatsache, dass sie während des größten Teils ihrer Geschichte eine illegale, verfolgte Gruppe waren, ist es unwahrscheinlich, dass sie viele tiefgreifende, detaillierte Diskussionen über die konkrete Natur einer sozialistischen Gesellschaft geführt haben.

Ein drittes Argument gegen die Behauptung, dass die Befürwortung einer bourgeoise Revolution in Russland durch die Bolschewiki ein bedeutendes, prägendes Element des Bolschewismus war, ist, dass die Bolschewiki vor der Oktoberrevolution ihre Vorstellung von der Natur der Revolution, die sie anführen wollten, ausdrücklich diskutiert und geändert haben. Dies bezieht sich auf die Diskussion innerhalb der bolschewistischen Partei nach Lenins Ankunft in Russland Anfang April 1917 und auf den Beschluss der Partei, der wenige Wochen später auf der sogenannten „Aprilkonferenz” gefasst wurde, die Staatsmacht an der Spitze einer sozialistischen Revolution der Arbeiterinnen und Arbeiter auf der Grundlage der Sowjets (der von den Arbeiterinnen und Arbeitern während und nach der Februarrevolution gegründeten Arbeiterräte) zu ergreifen. Natürlich haben sie diese Diskussion geführt und unter anderem eine solche Entscheidung getroffen. Aber wie tiefgehend oder gründlich war diese Diskussion? Wie lange dauerte sie?

Lenin kam nach seinem langen Exil in Westeuropa am 3. April (nach dem alten russischen Kalender), etwas mehr als einen Monat nach der Februarrevolution, in Russland an. Vor seiner Ankunft glaubten die meisten Bolschewiki (es gab eine Handvoll, die anderer Meinung waren), dass die wichtigste strategische Aufgabe der Bolschewiki darin bestand, die bourgeoise Revolution zu Ende zu führen, und nicht darin, eine sozialistische Revolution durchzuführen. Als Lenin ankam, schockierte er die meisten Bolschewiki (wiederum mit Ausnahme einiger weniger) mit seiner neuen Position, die er in seinen „Aprilthesen“ zum Ausdruck brachte, nämlich dass die Bolschewiki eine sozialistische Revolution anstreben sollten. Dies wurde von fast allen Bolschewiki, insbesondere den langjährigen Mitgliedern, den „alten Bolschewiki“, als sehr unorthodox, als Ketzerei, ja sogar als Anarchismus angesehen.

Ende April stimmte die Konferenz der bolschewistischen Partei (24.–29. April) jedoch mit überwältigender Mehrheit für Lenins Standpunkt. Die Diskussion über Lenins (unorthodoxen und ketzerischen) Standpunkt dauerte ganze drei Wochen. Was für eine Diskussion konnten sie in dieser Zeit geführt haben? Konnte sie wirklich tiefgehend gewesen sein? Konnte sie wirklich gründlich gewesen sein? Konnten die Bolschewiki überhaupt anfangen, darüber zu diskutieren, was die neue Position wirklich bedeutete? Haben sie die Monate zwischen April und der Oktoberrevolution (25. Oktober) genutzt, um diese Diskussion auf einer immer tiefergehenden Basis fortzusetzen? Ich denke, die Antworten auf diese Fragen müssen „nein” lauten.

Die Bolschewiki waren mitten in einem politischen und sozialen Strudel und hatten eine Million Dinge zu tun; sie verbrachten zweifellos den größten Teil ihrer Zeit damit, unter hektischen Bedingungen fieberhaft zu agitieren und zu organisieren.

Lenin hat in dieser Zeit (er war von Mitte Juli bis Ende Oktober untergetaucht) eine Reihe von Werken geschrieben, meist kurze Pamphlete, in denen er erklärte, wie eine bolschewistische Regierung auf der Grundlage der Sowjets aussehen und was sie tun würde. Insbesondere schrieb Lenin in dieser Zeit das Werk, das viele für sein größtes Werk halten, „Staat und Revolution“, in dem er seine Sichtweise über das Wesen der Diktatur des Proletariats, das Absterben des Staates usw. darlegt. Angesichts der Komplexität dieser Themen waren diese Untersuchungen jedoch nicht sehr detailliert. Ebenso wichtig ist, dass „Staat und Revolution“ nie fertiggestellt und erst im folgenden Jahr veröffentlicht wurde. Es ist daher ziemlich unwahrscheinlich, dass die bolschewistische Partei eine umfassende Diskussion über „Staat und Revolution“ oder Lenins Pamphlete geführt hat.

Kurz gesagt glaube ich, dass die Bolschewiki nie eine gründliche Diskussion über den Positionswechsel geführt haben, der auf der Aprilkonferenz beschlossen wurde: Was bedeutete er wirklich, wie würde eine auf den Sowjets basierende Gesellschaft aussehen, wie würde das Verhältnis zwischen den Sowjets, den Fabrikkomitees und den Gewerkschaften/Syndikaten aussehen – eine Frage, die kurz nach der Oktoberrevolution sehr wichtig werden sollte. Und der Verlauf der Revolution, insbesondere der Erfolg des Oktoberaufstands, schien eine solche Diskussion irrelevant zu machen.

Das wohl stärkste Argument, das gegen die hier von mir dargelegte Denkweise vorgebracht werden könnte, ist die Tatsache, dass die Bolschewiki während des größten Teils ihrer Geschichte vor 1917 keine „typische“ bourgeoise Revolution befürworteten, also eine Revolution, die von den Kapitalisten und ihren Vertretern unter den Intellektuellen usw. angeführt wurde. Stattdessen setzten sich die Bolschewiki ab etwa 1905 für eine bourgeois-demokratische Revolution ein, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern und Bauern gegen den Zaren, den Landadel und (paradoxerweise) die Kapitalisten (die Bourgeoisie) durchgeführt werden sollte.

Da die Bolschewiki also seit 1905 eine Revolution befürworteten, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern sowie von den Bauern gegen die Kapitalisten sowie gegen den Zaren, die Großgrundbesitzer usw. durchgeführt werden sollte und immer versucht hatten, eine Basis in der Arbeiterklasse aufzubauen, eine Arbeiterinnen- und Arbeiterpartei zu gründen, das Klassenbewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter zu stärken usw., sei der Wechsel der strategischen Konzepte im Jahr 1917 keine so große Sache gewesen. Tatsächlich, so argumentieren einige, erkläre diese Tatsache weitgehend, warum Lenin die Partei in dieser Frage so leicht umstimmen konnte.

Auf einer Ebene scheint das ein stichhaltiges Argument zu sein. Aber wenn man sich die damit verbundenen Fragen genauer anschaut, wird das meiner Meinung nach meine These stützen und sogar noch verstärken. Schauen wir uns die Frage genauer an.

Obwohl fast alle russischen Marxisten sich einig waren, dass die Revolution, für die sie eintraten und die sie kommen sahen, eine bourgeoise-demokratische sein würde, waren sie sich uneinig über die Rolle, die die verschiedenen Klassen in der Revolution spielen würden, und insbesondere über die Aufgaben, die die Sozialdemokraten zu erfüllen versuchen sollten. (Damals nannten sie sich alle Sozialdemokraten; Lenin und die Bolschewiki nahmen 1917 den älteren Namen Kommunisten wieder auf.) Tatsächlich kann man sagen, dass nach organisatorischen Fragen die größten Unterschiede zwischen Bolschewiki und Menschewiki während des größten Teils ihrer Geschichte in Meinungsverschiedenheiten über die Ausgestaltung der (bourgeois-demokratischen) Revolution in Russland und die Rolle der Marxisten darin bestanden.

(Für diejenigen, die es nicht wissen oder sich nicht daran erinnern: Die Begriffe Bolschewiki und Menschewiki kommen von den russischen Wörtern Bol’shinstvo und Men’shinstvo, was so viel wie Mehrheit und Minderheit bedeutet. Auf dem Zweiten Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, dem offiziellen Namen der marxistischen Organisation, im Jahr 1903 spalteten sich die Delegierten des Kongresses in zwei verfeindete Fraktionen, hauptsächlich wegen Fragen der Parteiorganisation, auf die wir später noch eingehen werden. Bei einer der entscheidenden Abstimmungen gewannen die von Lenin angeführten Kräfte die Mehrheit. Infolgedessen wurden Lenin und seine Anhänger als Bolschewiki bezeichnet und nannten sich selbst auch so. Diejenigen, die die Abstimmung verloren hatten, wurden als Menschewiki bezeichnet. Diese Spaltung wurde nie überwunden, und die marxistische Bewegung in Russland bestand weitgehend aus zwei Fraktionen, die oft getrennte Zeitungen und Strukturen hatten und unruhig nebeneinander existierten. Die beiden Fraktionen waren bis 1912 formal in derselben Partei, bis die Bolschewiki ihre eigene Partei gründeten. Es ist typisch für Lenins Genialität und die Unfähigkeit der Menschewiki, dass Lenin und seine Anhänger den Namen Bolschewiki behielten, der Stärke impliziert, während die Menschewiki mit einem Namen belastet waren, der Schwäche andeutet, obwohl die menschewistische Fraktion oft größer war als die bolschewistische.)

Die wichtigsten Unterschiede zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki in der Frage der bourgeois-demokratischen Revolution in Russland drehten sich um die Rolle, die sie der russischen Bourgeoisie in der Revolution zuschrieben, und damit um die Haltung, die die Arbeiterklasse und die Marxisten ihr gegenüber einnehmen sollten.

Eine mechanische, formalistische Vorstellung von einer bourgeois-demokratischen Revolution würde bedeuten, dass eine solche Revolution per Definition von der Bourgeoisie angeführt wird. Konkret würde die Bourgeoisie, die aufgrund ihrer Natur und ihrer Klasseninteressen eine demokratische Republik bevorzugt, die anderen progressiven Kräfte, darunter die Bauern, die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Mittelklasse, im Kampf gegen den Monarchen (König, Königin, Zar oder was auch immer), den Landadel und andere feudalistische Kräfte anführen. Das Ziel wäre, feudale Privilegien und alle Formen der Leibeigenschaft abzuschaffen, eine demokratische Republik zu errichten und die Voraussetzungen für die umfassendste und freieste Entwicklung des Kapitalismus zu schaffen.

Das war im Wesentlichen die Ansicht der Menschewiki. Sie vertraten daher die Auffassung, dass die Hauptaufgabe der Arbeiterklasse und der Sozialdemokraten darin bestehe, der Bourgeoisie bei der Durchführung einer solchen Revolution zu helfen, sie sozusagen von hinten anzutreiben. Obwohl sie sich für die unabhängige Organisation der Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften/Syndikate, einer sozialdemokratischen Partei und während der Revolution von 1905 in Sowjets einsetzten (es gibt Hinweise darauf, dass die Menschewiki die erste politische Gruppe waren, die ein massives, stadtweites Streikkomitee in St. Petersburg forderte, aus dem schließlich der Petersburger Sowjet hervorging), waren die Menschewiki im Grunde der Meinung, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter der Bourgeoisie unterordnen sollten, dass letztere die Gesamtführung der Revolution übernehmen sollte. Einige warnten sogar vor der Gefahr, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter zu viel Druck ausüben könnten (z. B. zu viele Streiks für höhere Löhne, Drohungen, die Fabriken zu übernehmen und zu betreiben usw.), was die Bourgeoisie erschrecken und dazu bringen würde, sich aus dem militanten Kampf gegen den Zaren, den Adel usw. zurückzuziehen.

Die Bolschewiki akzeptierten zwar den bourgeois-demokratischen Charakter der Revolution, sahen die Dinge aber anders. Anstatt von einem abstrakten Modell der bourgeoise Revolution auszugehen, begann Lenin mit einer konkreten Analyse der ökonomischen, sozialen und politischen Situation in Russland zu dieser Zeit. Er war sich bestimmter „Besonderheiten” der historischen Entwicklung Russlands besonders bewusst: 1) Der russische Staat war seit etwa 1500 sehr stark und neigte dazu, die russische Gesellschaft zu dominieren. 2) Seit der Zeit Peters des Großen, etwa 1700, hatte der Staat versucht, die ökonomische Entwicklung durch den Transfer von Technologie aus Westeuropa als Mittel zur Verteidigung zu fördern. 3) Infolgedessen wurde ein Großteil der russischen Industrie vom Staat aufgebaut und/oder mit dessen Unterstützung gefördert, und vieles befand sich in staatlichem Besitz. 4) Die russische Industrie konzentrierte sich tendenziell auf riesige Unternehmen, die oft Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern beschäftigten (wie beispielsweise das gigantische Metallwerk Putilov in St. Petersburg).

Das führte dazu, dass die russische Bourgeoisie eher klein und schwach war und stark vom zaristischen Staat abhängig, während die Arbeiterklasse dagegen ziemlich groß und gut konzentriert war. Lenin argumentierte daher, dass die Bourgeoisie, anstatt die bourgeois-demokratische Revolution gegen den Zaren anzuführen, sich beim ersten Anzeichen einer unabhängigen und militanten Mobilisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern auf die Seite des Zaren und des Adels gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern und die Revolution insgesamt stellen würde. (Die Kapitalisten hatten zwar Angst vor der großen, konzentrierten und unterdrückten Arbeiterklasse, aber sie fürchteten auch die Millionen noch stärker unterdrückter Bauern, die darauf warteten, Rache an den Großgrundbesitzern zu nehmen und sich das Land anzueignen, und die dazu bereit waren, große Teile des Landes in Brand zu setzen. Genau das taten sie 1917.)

Die Führung der Revolution, so schlussfolgerte Lenin, würde der Arbeiterklasse und in geringerem Maße den Bauern zufallen. Sie würden die bourgeois-demokratische Revolution durchführen, nicht nur gegen den Zaren und die Großgrundbesitzer, sondern auch gegen die Bourgeoisie.

In den Augen der Bolschewiki wurde die bourgeois-demokratische Revolution also in erster Linie durch die Aufgaben definiert, die es zu erfüllen galt, z. B. den Sturz des Zaren, die Beschlagnahmung des Landes der Großgrundbesitzer, die Errichtung einer demokratischen Republik usw., und nicht dadurch, dass sie von der Bourgeoisie angeführt wurde.

Das konkrete Mittel zur Durchführung dieser Aufgaben wäre das, was Lenin als „revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft” bezeichnete. Dabei handelte es sich grob gesagt um eine zentralisierte, revolutionäre Regierung, die sich aus Parteien zusammensetzte, die jeweils die Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern vertraten, und die sich auf die Massen der Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern stützte und von ihnen unterstützt wurde. Diese Diktatur würde durch einen bewaffneten Aufstand errichtet werden. (Die Bolschewiki versuchten tatsächlich einen solchen Aufstand während der Revolution von 1905, im Dezember 1905 in Moskau.)

Obwohl Lenin viele seiner Schriften verschiedenen Aspekten der bourgeois-demokratischen Revolution in Russland widmete, legte er, abgesehen von einer sehr groben Skizze, nie ein ausgearbeitetes Konzept vor, wie die „revolutionäre demokratische Diktatur” aussehen sollte. Sein Versagen oder seine Weigerung, dies zu tun, scheint vor allem durch die Überzeugung motiviert gewesen zu sein, dass es unmöglich sei, genau vorherzusagen, was im Verlauf der Revolution passieren würde, dass Revolutionäre nicht versuchen sollten, den Klassenkampf in ein eng gefasstes Schema zu pressen, und dass die Bolschewiki in jedem Fall flexibel bleiben sollten.

Angesichts der Details, auf die Lenin bei Fragen des Programms (z. B. der „Agrar-“ und „Nationalfrage”), der Parteistruktur (er forderte 1905 eine Neuorganisation der Partei) und der Taktik (ein Schwerpunkt der bolschewistischen Aktivitäten im Jahr 1905 war die Bildung bewaffneter Gruppen aus Arbeiterinnen und Arbeitern) ist es bemerkenswert, dass er versagte, die Struktur der „revolutionären demokratischen Diktatur” genauer zu beschreiben. Besonders bemerkenswert ist, dass die Beziehung zwischen den politischen Parteien, die angeblich das Proletariat und die Bauernschaft „vertreten”, einerseits und den Massenorganisationen dieser Klassen andererseits nie ernsthaft thematisiert oder untersucht wurde.

Lenin war sich auch nicht ganz im Klaren darüber, was mit dieser Diktatur geschehen würde, sobald sie „die bourgeois-demokratische Revolution zu Ende geführt“ hätte, um es mit den Worten der Marxisten jener Zeit zu sagen. Er schien zwei Szenarien im Sinn zu haben, die sich beide aus Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution ableiten lassen, einem wichtigen Werk, das sich mit seiner Vorstellung von der bourgeois-demokratischen Revolution in Russland befasst.

In dem einen würde die „revolutionäre demokratische Diktatur“ verschiedene Schritte (z. B. den Sturz des Zaren, die Enteignung der Großgrundbesitzer, die Einführung des Achtstundentags) aus eigener Initiative durchführen und anschließend Wahlen auf der Grundlage des direkten allgemeinen Wahlrechts zu einer Konstituirenden Vollversammlung organisieren. Sobald diese Vollversammlung zusammengetreten war, die bereits ergriffenen revolutionären Maßnahmen gebilligt und eine Verfassung für eine (bourgeois-)demokratische Regierung ausgearbeitet hatte, würden die Parteien, die die „revolutionäre demokratische Diktatur“ bildeten, zugunsten eines neu gewählten Parlaments und einer neu gewählten Regierung zurücktreten. Dass Lenin dieses Szenario ernst nahm, geht aus verschiedenen seiner Schriften zur Agrarfrage hervor, in denen er sich für eine eher langfristige Entwicklung der russischen Landwirtschaft nach US-amerikanischem Vorbild (kleine, unabhängige kapitalistische Bauern) statt nach preußischem Vorbild (kommerzielle Landgüter) ausspricht.

Das zweite Szenario folgt bis zu einem gewissen Grad dem ersten. Sehr vorsichtig und nur in allgemeinsten Begriffen schreibt Lenin in Zwei Taktiken, dass, wenn der bourgeois-demokratischen Revolution in Russland eine oder mehrere sozialistische Revolutionen in Westeuropa vorausgehen, sie begleiten oder bald darauf folgen würden, die revolutionären Parteien, die die revolutionäre demokratische Diktatur bilden, versuchen sollten, an der Macht zu bleiben und sozialistische Aufgaben in Angriff zu nehmen, z. B. die Enteignung der Kapitalisten usw.

Mit anderen Worten: Lenin bringt, zugegebenermaßen sehr vorsichtig, die Möglichkeit zur Sprache, dass unter bestimmten Umständen die bourgeois-demokratische Revolution in Russland zu einer sozialistischen Revolution „überwachsen“ könnte. Obwohl diese Vorstellung später (während Stalins Kampf gegen Trotzki in den 1920er Jahren) zur anerkannten „bolschewistischen” Orthodoxie wurde, wurde sie von der Mehrheit der Bolschewiki seit ihrer Niederschrift bis Anfang 1917 kaum in Betracht gezogen.

Mit der Diskussion von Lenins Konzept der „revolutionären demokratischen Diktatur” wollten wir einschätzen, inwieweit dies mein Argument schwächt, dass die Bolschewiki im Allgemeinen eine bourgeoise Revolution befürwortet und sich darauf vorbereitet hatten und dass dies einen entscheidenden Einfluss auf die Politik und die Methoden der bolschewistischen Partei hatte.

Konkret lässt sich argumentieren, dass es nicht ganz richtig ist zu sagen, die Bolschewiki hätten immer geplant, eine bourgeoise Revolution in Russland durchzuführen, da sie seit 1905 eine bestimmte Version einer bourgeois-demokratischen Revolution befürwortet hatten, nämlich eine Revolution, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern und Bauern gegen die Bourgeoisie geführt wurde.

Man kann sogar sagen, dass die bourgeois-demokratische Revolution, wie sie sich die Bolschewiki vorstellten, viel näher an einer sozialistischen Revolution als an einer bourgeoise Revolution war. Deshalb, so Trotsky, konnte die bolschewistische Partei im April 1917 so leicht für Lenins neue Perspektive gewonnen werden.

Ich würde aber sagen, dass die stärkeren Argumente in die andere Richtung gehen: 1) Dass trotz der neuen Elemente in Lenins Sichtweise von 1917 das, was er befürwortete, weitgehend im Rahmen seiner früheren Vorstellung blieb, also eine bourgeois-demokratische Revolution, die unter bestimmten Umständen über die bourgeois-demokratische „Phase” hinausgeht; und 2) dass das, was die Bolschewiki tatsächlich taten, wenn man nicht nur 1917, sondern den gesamten Zeitraum von 1917 bis 1921 betrachtet, darin bestand, eine Version der „revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ umzusetzen, d. h. eine ganz bestimmte und sehr radikale Art der bourgeoise Revolution durchzuführen.

Wie wir wissen, haben die Bolschewiki Ende Oktober 1917 zusammen mit den Linken Sozialrevolutionären an der Spitze eines Aufstands (der durch die spontane Landnahme der Bauern möglich wurde) die politische Macht übernommen und eine zentralisierte Diktatur errichtet. Obwohl diese revolutionäre Regierung zunächst auf den Massenorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern beruhte und von ihnen unterstützt wurde, wurde sie nicht wirklich von ihnen kontrolliert. In der Überzeugung, über die bourgeoise Revolution hinauszugehen, billigten die Bolschewiki die Beschlagnahmung der Fabriken durch die Arbeiterinnen und Arbeiter und enteigneten dann die Kapitalisten vollständig. Sie lösten die Konstituierende Vollversammlung auf und konzentrierten, nachdem die Linken Sozialrevolutionäre gegen die Bedingungen des Friedensvertrags von Brest-Litowsk eine Revolte geführt hatten, die gesamte Macht in ihren eigenen Händen. Außerdem starteten sie im Juni 1918 eine Kampagne gegen die sogenannten „mittleren Bauern“, um den Klassenkampf aufs Land auszuweiten. In diesem Sinne gingen sie über die „typische“ bourgeois-demokratische Revolution hinaus. Aber es gelang ihnen nicht, eine echte proletarische Diktatur zu schaffen, also eine Regierung, die wirklich von den Arbeiterinnen und Arbeitern für sich selbst geführt wurde. Stattdessen bauten die Bolschewiki eine Regierung auf, von der sie glaubten, dass sie „im Interesse” der Arbeiterinnen und Arbeiter handelte, was keineswegs dasselbe ist.

Sie mag zwar auf den Organisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter beruht haben, aber in ihren Methoden, z. B. ihrem Bekenntnis zu extremer Zentralisierung, ihrem Einsatz einer Geheimpolizei zur Verfolgung von Konterrevolutionären und ihrer Vorstellung von einer reglementierten, zentral gesteuerten Ökonomie, die per Dekret von oben gelenkt wird, viel näher an einer jakobinischen Diktatur (der Diktatur von Robespierre und dem Komitee für öffentliche Sicherheit, unterstützt von den unterdrückten „Sansculottes” von Paris während der radikalsten Phase der Französischen Revolution) als an einer echten Regierung der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Der Trugschluss in der Theorie und Praxis der Bolschewiki besteht meiner Meinung nach darin, dass (selbst im Rahmen des Marxismus) die Methoden und Strukturen einer sozialistischen Revolution nicht einfach die logische Fortsetzung der Strukturen und Methoden der bourgeoise Revolution sind. Die Diktatur des Proletariats, unterstützt von der Bauernschaft, ist nicht einfach die „revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, die über die Grenzen der bourgeoise Revolution hinausgeht.

Konkret können in einer bourgeois-demokratischen Revolution die dieser Revolution „angemessenen” Aufgaben von einer oder mehreren Parteien durchgeführt werden, die behaupten, die „nicht-feudalen” Klassen, die Bourgeoisie, die Bauern und die Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten, sofern es solche gibt. Eine Regierung revolutionärer Intellektueller zum Beispiel kann, solange sie von den mobilisierten Massen (Sansculottes, Bauern, Arbeiterinnen und Arbeiter) unterstützt wird, die Monarchie abschaffen, die Beschlagnahmung von Land durch die Bauern sanktionieren, den Achtstundentag einführen, eine Konstituierende Vollversammlung einberufen usw.

In diesem Sinne kann man sagen, dass diese Regierung und die daran beteiligten Parteien, falls es welche gibt, die fortschrittlichen Klassen vertreten. Sobald „feudale“ oder „halbfeudale“ Institutionen abgeschafft oder erheblich geschwächt sind, sobald die größten Hindernisse für die Warenproduktion und die Akkumulation beseitigt sind, entwickelt sich der Kapitalismus spontan und sorgt für die endgültige Niederlage der reaktionären Kräfte. So wurden während der Französischen Revolution viele, wenn nicht sogar die meisten radikalen Maßnahmen nicht von der Bourgeoisie selbst umgesetzt, sondern von im Wesentlichen Mittelklasse-Intellektuellen, die von den Bauern und Sansculottes unterstützt wurden und unabhängig von der Bourgeoisie handelten. Und obwohl die Jakobiner schließlich gestürzt und die Monarchie wiederhergestellt wurde, war die Phase der Reaktion nur vorübergehend; der Kapitalismus entwickelte sich weiter und die Monarchie wurde schließlich gestürzt.

In einer sozialistischen Revolution reicht es aber nicht aus, dass eine Partei, die behauptet, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten, Maßnahmen ergreift, die angeblich im Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter sind, und die ganze Macht in ihren Händen konzentriert. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, dass eine Einparteien-Diktatur von den Mitgliedern der Klasse unterstützt wird, in deren Interesse sie angeblich handelt, d. h. dass sie sich auf die Massenorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter, wie z. B. Sowjets, stützt.

Wenn diese Regierung eine echte proletarische Diktatur bleiben oder besser gesagt werden will, muss sie zunehmend unter die Kontrolle der demokratischen Massenorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter kommen. Stattdessen unterwarfen die Bolschewiki, die glaubten, die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten, die Sowjets (und die Fabrik-Komitees) sich selbst, ohne zu erkennen, was das bedeutete. Das Ergebnis war nicht eine revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, die sich zur Diktatur des Proletariats entwickelte, sondern eine revolutionäre demokratische Diktatur, die ihre eigene Macht über die Klassen, die sie angeblich anführte, festigte.

Im Gegensatz zu den Jakobinern gelang es den Bolschewiki, die Konterrevolution nach außen und innen abzuwehren und auch die Bemühungen der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Bauern zu vereiteln, sich von der Diktatur zu befreien, die vorgab, sie zu vertreten (Kronstadt, die Streiks in Petrograd, die Bauernaufstände von 1921). Das Ergebnis war also eine Art permanente jakobinische Diktatur, eine permanente „revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft” und nicht die Diktatur des Proletariats oder der Sieg der alten reaktionären Klassen.

Ein genauerer Blick auf das dritte und beste Argument gegen meine These (der antibourgeoise Charakter von Lenins „revolutionärer demokratischer Diktatur”) bestätigt also eigentlich meine Hauptthese, dass die Bolschewiki während des größten Teils ihrer Geschichte eine bourgeoise Revolution befürworteten und durchzuführen versuchten und dass diese Perspektive auch nach der Aprilkonferenz 1917 die de facto-Strategie der Bolschewiki blieb.

Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt. Ich denke, man kann sagen, dass die bolschewistische Fraktion/Partei während des größten Teils ihrer Geschichte vor der Oktoberrevolution eine bourgeoise Revolution befürwortete und umsetzen wollte und dass sich daran trotz Lenins neuer Sichtweise von 1917 und den Diskussionen in der Partei nie wirklich was geändert hat. Außerdem würde ich sagen, dass die grundlegende Natur der Partei, ihre Methoden, ihr Ethos und ihr Stil damit übereinstimmten, wenn nicht sogar davon bestimmt waren. Wie wir besprochen haben, war die Partei nie wirklich bereit, eine sozialistische Revolution durchzuführen, nicht nur im Sinne einer Machtübernahme durch die Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern auch im Sinne des Aufbaus eines echten Arbeiterstaates; sie hat nie ernsthaft über diese Frage diskutiert.

Konkret muss die Befürwortung einer bourgeois-demokratischen Revolution durch die Partei ihre Zusammensetzung beeinflusst haben. Wie viele Menschen fühlten sich gerade deshalb zur Partei hingezogen, weil sie eine bourgeois-demokratische und keine proletarische Revolution durchführen wollten? (Anders gefragt: Wie viele Leute haben sich von den Bolschewiki und auch den Menschewiki abgewendet, weil sie darauf bestanden, dass die Revolution eine bourgeoise Revolution sein musste; wie viele sind verschiedenen populistischen Organisationen wie den SRs oder den Anarchistinnen und Anarchisten beigetreten, weil diese eine vollständige sozialistische oder „soziale“ Revolution wollten?

Wie viele Leute schlossen sich den Bolschewiki an, weil sie grundsätzlich für ökonomisches Wachstum und Industrialisierung waren, die sie als Weg zur Lösung der Armut und Rückständigkeit Russlands betrachteten, und sich nie um eine wirklich von Arbeiterinnen und Arbeitern geführte Gesellschaft scheren? Wie viele Leute waren einfach nur von der Vorstellung angezogen, Macht und Ansehen zu haben, etwas, das ihnen im zaristischen Russland völlig verwehrt war? Wie viele hatten eine zumindest verzerrte Vorstellung vom Sozialismus, weil es den Bolschewiki (und den Menschewiki) nicht gelang, ein Konzept für eine revolutionäre demokratische sozialistische Gesellschaft zu entwickeln? Wie viele Menschen traten der bolschewistischen Partei bei, blieben während der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs aktiv, beteiligten sich am Wiederaufbau nach dem Krieg und schlossen sich der Verfolgung Trotzkis an, nur um dann durch Stalins Hand zu sterben, weil sie nie klar verstanden hatten, was der Unterschied zwischen einem Arbeiterstaat und einer Diktatur revolutionärer Intellektueller war, die glaubten, „im Interesse“ der Arbeiterinnen und Arbeiter und Bauern zu handeln?

Es geht nicht darum, diese Fragen konkret zu beantworten. Es geht darum zu erkennen, dass das Programm der Bolschewiki, was es beinhaltete und was es ausschloss, einen Einfluss darauf gehabt haben musste, wer sich zur Partei hingezogen fühlte, wer ihr treu blieb, wer in ihr an die Macht kam usw. Wenn wir diese Fragen und den Punkt, den sie implizieren, im Hinterkopf behalten, können wir beginnen, einige Antworten auf die in der ersten Folge aufgeworfenen Fragen zu finden, wie zum Beispiel: Wie wurde Stalin Generalsekretär der Partei? Warum konnte er sich unter Lenins Schutz stellen? Warum haben sich so wenige Bolschewiki gegen ihn gestellt? Und so weiter.

Die Antwort liegt meiner Meinung nach darin, dass die Bolschewiki letztendlich das umgesetzt haben, was sie geplant hatten … eine einzigartige, sehr radikale Art der bourgeoisen Revolution.

ZWEI — Partei, Klasse und sozialistisches Bewusstsein

Das Thema dieses Artikels ist die Frage des sozialistischen Bewusstseins, der revolutionären Partei und der Arbeiterklasse sowie der Beziehung zwischen ihnen. Wir werden uns insbesondere auf einige der Konzepte konzentrieren, die in Was tun? dargelegt werden, einem der wichtigsten Schriften Lenins und einem bedeutenden „Text” des Leninismus/Bolschewismus. Es stimmt, dass Lenin die in Was tun? aufgeworfenen Fragen auch in anderen Schriften behandelt und sogar Dinge geschrieben hat, die den Hauptgedanken des Buches zu widersprechen scheinen. Wir werden uns mit dieser Frage weiter unten beschäftigen, aber jetzt konzentrieren wir uns erst mal auf Was tun?.

Um zu verstehen, worauf Lenin in seinem Buch hinauswill, vor allem in Bezug auf unser Hauptinteresse – sozialistisches Bewusstsein, die Arbeiterklasse und die revolutionäre Partei –, ist es wichtig, den Kontext zu verstehen, in dem das Werk erschien, was Lenin erreichen wollte und was diejenigen, die mit ihm nicht einverstanden waren, sagten.

Was tun?, das Anfang 1902 veröffentlicht wurde, war ein wichtiger Teil der Debatte unter russischen Marxisten darüber, wie man eine revolutionäre Partei, genauer gesagt die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDLP), im Russischen Imperium zu Beginn dieses Jahrhunderts aufbauen könnte. So eine Partei aufzubauen war nicht einfach, da praktisch alle politischen Aktivitäten, vor allem liberale, geschweige denn revolutionäre, verboten waren. Revolutionäre aller Couleur mussten mit Verhaftung, Inhaftierung und Verbannung an abgelegene, lebensfeindliche Orte rechnen.

Als Was tun? geschrieben wurde, gab es zwar eine revolutionäre marxistische Partei, aber nur dem Namen nach. In Realität war die russische marxistische Bewegung das, was sie seit fast zehn Jahren war: ein Mix aus lokalen Komitees. Das waren meistens Studienkreise und Gruppen, die sich mit ökonomischer Agitation beschäftigten, also Materialien über Arbeiterinnen- und Arbeiterlöhne, ökonomische Situation usw. verteilten und verschiedene Streiks unterstützten. Sie waren meistens voneinander isoliert und machten ihre Sachen unabhängig voneinander. Im Grunde war die Bewegung zu dieser Zeit eher ein Milieu als eine Partei.

Schon vier Jahre bevor Was tun? geschrieben wurde, gab’s einen Versuch, das zu ändern. Auf dem sogenannten Ersten Kongress der SDAPR, der im März 1898 in Minsk stattfand, wurde ein Manifest verabschiedet, eine Struktur festgelegt, Anführer gewählt und beschlossen, eine Parteizeitung zu machen. Aber die zaristische politische Polizei (die Ochrana) verhaftete kurz darauf die Teilnehmer des Kongresses, und so blieb die Bewegung fast unverändert. (Keiner der neun Delegierten dieses ersten Kongresses spielte später eine wichtige Rolle in den russischen Ereignissen.)

Dieser Versuch, eine Partei zu gründen, passierte vor dem Hintergrund einer wachsenden Welle von Arbeiterinnen- und Arbeiterstreiks. Anfang der 1890er Jahre startete die noch kleine und sehr junge Arbeiterklasse im Russischen Imperium Streikaktionen, die schließlich die großen Städte erschütterten. Die Arbeitsbedingungen waren schrecklich: Die Arbeitszeiten waren furchtbar lang, die Löhne waren fast nicht vorhanden, Unfälle mit schweren Verletzungen waren an der Tagesordnung, die Arbeiterinnen und Arbeiter mussten für „schlechte Arbeit” und andere Verstöße Strafen zahlen, die Aufseher waren brutal usw. Teilweise angespornt durch einen ökonomischen Aufschwung in den 1890er Jahren traten verzweifelte Arbeiterinnen und Arbeiter in den Streik, um ihre Bedingungen zu verbessern. Diese Streiks waren „spontan“, da sie nicht von organisierten Revolutionären geplant oder angeführt wurden, obwohl revolutionäre Individuen zweifellos daran teilnahmen.

In dieser Situation spielte der junge (25-jährige) Lenin seine erste wichtige Rolle in der russischen marxistischen Bewegung. 1895 gründeten er und Julius Martow, der spätere Anführer der Menschewiki, eine 22-köpfige Gruppe, die sich bald „St. Petersburger Liga für den Kampf um die Emanzipation der Arbeit” nannte. Lenin drängte seine unmittelbaren Kollegen und andere Marxisten, sich an der Massenstreikbewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter zu orientieren, und verfasste umfassende Agitationsliteratur, die sich an die Arbeiterinnen und Arbeiter richtete. (Zuvor bestanden die meisten marxistischen Aktivitäten aus Studienkreisen unter einer sehr kleinen Zahl von „Arbeiterinnen- und Arbeiter-Intellektuellen”, von denen einige die Massenagitation ablehnten.)

Im Dezember 1895 wurden Lenin und neun weitere Mitglieder der Gruppe verhaftet und vor Gericht gestellt. Lenin wurde zu einem Jahr Gefängnis und anschließend zu drei Jahren Sibirien verurteilt. Im Januar 1900 wurde er freigelassen und ging ins Exil nach Westeuropa. Dort traf er sich mit den „Gründervätern“ des russischen Marxismus, insbesondere mit G. W. Plechanow, Vera Sasulitsch und Paul Akselrod, um sie für seinen Plan zu gewinnen, die SDAPR nach den katastrophalen Folgen des Ersten Kongresses wieder aufzubauen.

Lenins Plan, der erstmals 1900 in einigen Artikeln öffentlich vorgestellt wurde, hatte mehrere Aspekte. Der wohl wichtigste war sein Vorschlag, die SDAPR um eine „allrussische” Zeitung herum neu aufzubauen. Diese Zeitung sollte sich an alle Nationalitäten und Regionen des Russischen Imperiums richten, im Gegensatz zu lokalen Zeitungen, die sich nur an einzelne Städte richteten. Diese Zeitung sollte im sicheren Exil im Ausland geschrieben und veröffentlicht und dann auf verschiedenen Wegen nach Russland geschmuggelt werden. Eine solche Zeitung würde den Marxisten in Russland und allen anderen, die sie lesen, eine nationale (eigentlich transnationale, da Russland aus vielen Nationen bestand) Perspektive bieten, statt nur eine lokale.

Gleichzeitig würde diese allrussische Zeitung die Grundlage für den Aufbau einer Organisationsstruktur, eines Apparats, bilden, um den herum die SDAPR wieder aufgebaut werden könnte. Konkret schlug Lenin vor, dass sich dieser Apparat darauf konzentrieren sollte, die Zeitung nach Russland zu schmuggeln und an die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie andere interessierte Personen zu verteilen. Den Kern dieses Netzwerks würden lokale Komitees bilden, deren Mitglieder alle im Untergrund tätig wären, also ohne legale Identität, und die von der Partei bezahlt würden, wenn auch nur mit einem geringen Gehalt. Dieses Netzwerk/dieser Apparat sollte so zentralisiert wie möglich sein und durch eine „eiserne Disziplin” (strikte Einhaltung vereinbarter Arbeitsregeln) zusammengehalten werden. Die allgemeinen nationalen (allrussischen) Positionen zu verschiedenen politischen und programmatischen Fragen würden durch regelmäßige Delegiertenkongresse und zwischen diesen Versammlungen durch im Ausland lebende gewählte Anführer festgelegt werden, nicht durch lokale und regionale Komitees.

Lenin war besonders daran interessiert, eine starke, gut funktionierende Organisation aufzubauen, die der zaristischen Repression widerstehen konnte. Er führte das bisherige Scheitern beim Aufbau einer Partei auf das zurück, was er als „Amateurhaftigkeit” der russischen Marxisten ansah, darunter Provinzialismus, schlampige Methoden, das Fehlen einer ernsthaften Arbeitsteilung usw. Um dem entgegenzuwirken, forderte er „Professionalität” und eine Partei professioneller Revolutionäre. Dies hatte zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Bedeutungen. Die erste war die allgemeine Bedeutung von Professionalität – die Anwendung einheitlicher, bewährter Methoden und die Ausbildung von Experten in verschiedenen Phasen der revolutionären Tätigkeit. Die zweite Bedeutung von „Professionalität” war enger gefasst und ziemlich wörtlich zu verstehen. Wie bereits erwähnt, sollte die Partei zumindest anfangs ausschließlich aus im Untergrund tätigen Vollzeitmitarbeitern (Berufsrevolutionäre) bestehen, die von der Partei bezahlt wurden und im Verborgenen lebten.

Ein weiterer Aspekt von Lenins Strategie war, dass die allrussische Zeitung und die Partei insgesamt den Schwerpunkt auf das legen sollten, was Lenin als „politische Agitation“ bezeichnete: Artikel und Enthüllungen, die sich in erster Linie mit politischen und nicht mit „ökonomischen“ Themen (Löhne, Arbeitsbedingungen, Streikkämpfe) befassten. Lenin meinte, dass die Konzentration auf politische Fragen dazu beitragen würde, das Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter von ihrem aktuellen Niveau (die Arbeiterinnen und Arbeiter führten ja schon spontane Streiks wegen lokaler „ökonomischer“ Themen durch) auf ein höheres, politischeres Niveau zu heben und sie gleichzeitig dazu zu ermutigen, im Hinblick auf das gesamte Russisches Imperium zu denken und nicht nur auf ihre eigene Region.

Mit der Unterstützung von Plechanow, Akselrod und Zasulich gründeten Lenin, Martow und V. Potresow im Dezember 1900 diese allrussische Zeitung namens Iskra (Funke) und begannen, eine Anhängerschaft und einen Apparat aufzubauen. Eine begleitende theoretische Zeitschrift, Zarya (Morgendämmerung), wurde im April 1901 ins Leben gerufen.

Natürlich waren nicht alle Leute, Komitees usw. in der russischen marxistischen Bewegung mit Lenins Konzept einverstanden. Vereinfacht gesagt, kann man sagen, dass sich die Opposition gegen die Ideen der „Iskraisten” auf zwei Punkte konzentrierte. Zum einen ignorierten die „Iskraisten” den „ökonomischen” Kampf – die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter um Löhne, Arbeitsbedingungen usw. Zum anderen verstieß die Betonung der „Iskraisten” auf eine zentralisierte Struktur und Entscheidungsfindung gegen die Autonomie der lokalen Komitees, d. h. sie war undemokratisch.

Wir wollen hier nicht über die Vor- und Nachteile der Strategie von Lenin/Iskaristen diskutieren oder über die Argumente ihrer Gegner. Uns geht es darum, den Kontext zu skizzieren, in dem Was tun? geschrieben wurde und in dem sein Inhalt verstanden werden muss. Was tun? war ein Versuch, die Ideen hinter der Strategie der Iskra-Anhänger zu verteidigen und Unterstützer dafür zu gewinnen; für das folgende Jahr war ein zweiter Kongress der SDAPR geplant, und Lenin war (wie bei fast allem) fest davon überzeugt, dass der von ihm vertretene Ansatz der einzige Weg war, um eine wirklich revolutionäre marxistische Partei in Russland aufzubauen und zu erhalten. Was tun? war also sowohl eine Verteidigung seiner strategischen/organisatorischen Vorstellung vom Aufbau der SDAPR als auch eine Ausarbeitung dieser Vorstellung.

Typisch für die marxistischen Polemiken dieser Zeit (und der meisten anderen) sind Lenins Argumente zum Aufbau der Partei, die durch Diskussionen über grundlegende theoretische Fragen untermauert werden, wie zum Beispiel die Natur des sozialistischen Bewusstseins und wie es entsteht, womit wir uns jetzt beschäftigen werden.

(Der Titel des Buches, Was tun?, stammt übrigens von einem berühmten Roman, der 1862 vom russischen Populisten N. G. Tschernyschewski geschrieben wurde und als eines der wichtigsten Manifeste des russischen populistischen Gedankenguts gilt.)

Für uns ist das Wichtigste an „Was tun? die Idee vom politischen Bewusstsein der Arbeiterklasse und wie es sich entwickelt, sowie die Rolle einer revolutionären Partei in diesem Prozess, die einen grundlegenden, ja sogar entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Leninismus/Bolschewismus hatte. Obwohl Lenin, wie bereits erwähnt, gelegentlich andere Aussagen zu dieser Frage machte, stellte die in Was tun? ausgearbeitete Theorie eine wichtige ideologische Grundlage des Bolschewismus dar und untermauerte die Auffassung der Bolschewiki über das Wesen der Partei, ihre Beziehung zur Arbeiterklasse, ihre Strategie, Taktik und Methoden. Diese Auffassung blieb trotz der verschiedenen Veränderungen in den Ideen Lenins/der Bolschewiki von zentraler Bedeutung. Und ich würde sagen, dass diese Vorstellung im Grunde Totalitarismus/staatskapitalistische Implikationen hat.

Die relevante Passage aus Was tun? lautet wie folgt:

„Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m. (Der Trade-Unionismus schließt keineswegs, wie man manchmal glaubt, jede „Politik“ aus. Die Trade-Unions haben stets eine gewisse (aber nicht sozialdemokratische) politische Agitation und einen gewissen politischen Kampf geführt. Vom Unterschied zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik sprechen wir im nächsten Kapitel.). Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden.“

Hier gibt es zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Punkte. Der eine ist, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter allein, d. h. die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter ohne eine Organisation marxistischer Revolutionäre, nur in der Lage ist, ein gewerkschaftliches/syndikalistisches Bewusstsein zu entwickeln, z. B. das Verständnis für die Notwendigkeit, Gewerkschaften/Syndikate zu organisieren, sich zu organisieren und für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und andere Vorteile zu streiken. Mit anderen Worten: Die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter wird und kann von sich aus nicht zu sozialistischen Schlussfolgerungen gelangen, d. h. die Notwendigkeit erkennen, sich als Klasse zu vereinen und sich zu erheben, den Kapitalismus zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

Der zweite wichtige Punkt ist, dass das „sozialdemokratische“ Bewusstsein, das wir als revolutionäres sozialistisches Bewusstsein bezeichnen und das von sozialistischen Intellektuellen entwickelt und aufrechterhalten wird, den Arbeiterinnen und Arbeitern von „außen“ vermittelt werden muss, von einer Partei, die für diese Ideen steht, also einer sozialdemokratischen Partei.

Bevor wir zu unserer Diskussion über die staatskapitalistischen Implikationen dieser Thesen übergehen, lohnt es sich, einige vorläufige Anmerkungen dazu zu machen. Erstens waren diese Ideen nicht einzigartig für Lenin. Wie er selbst sagte, war dies die Auffassung des wichtigsten theoretischen Anführers der internationalen marxistischen Bewegung jener Zeit, Karl Kautsky. Lenin, der die Mehrheit der russischen Marxisten von seinen strategischen und organisatorischen Ideen überzeugen wollte, versuchte, diese mit Argumenten der „orthodoxesten“ Marxisten zu rechtfertigen. Ob alle oder auch nur die meisten Mitglieder der sozialdemokratischen Bewegung mit Kautsky übereinstimmten, ist eine andere Frage. Es war einfach praktisch, den „Papst des Marxismus“ zu zitieren.

Zweitens bezweifeln wir, dass Karl Marx Kautskys Formulierung genau zugestimmt hätte. Obwohl Marx sehr wohl wusste, wie viel Arbeit sozialistische Intellektuelle (insbesondere er selbst) in die Ausarbeitung sozialistischer Ideen und Theorien gesteckt hatten, vermute ich, dass er das Gefühl hatte, etwas anerkannt, ausgearbeitet und schriftlich festgehalten zu haben, was unabhängig von seinem Bewusstsein, d. h. innerhalb der Arbeiterklasse selbst, geschah oder geschehen würde. Aber das ist ein Thema für eine andere, viel umfassendere Diskussion.

Drittens steckt in dem, was Kautsky/Lenin geschrieben haben, ein bisschen Wahrheit. In nicht-revolutionären Zeiten, also außerhalb von massenhaften revolutionären Umwälzungen, sind die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter keine revolutionären Sozialisten (wir akzeptieren hier mal die Gleichsetzung von „sozialdemokratisch“ und „revolutionär-sozialistisch“).

In „normalen“ Zeiten sind die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter Gewerkschafter/Syndikalisten, wenn überhaupt, und viele Arbeiterinnen und Arbeiter erkennen vielleicht nicht einmal, dass sie Mitglieder einer gemeinsamen sozialen Schicht sind. (In den USA betrachten sich die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter wahrscheinlich als Teil einer amorphen Mittelklasse). Bestenfalls betrachtet sich nur eine kleine Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern als revolutionäre Sozialisten, und diese stehen im Großen und Ganzen außerhalb des Alltagslebens der Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Insofern sie zusammen mit Revolutionären aus der Mittelklasse andere Arbeiterinnen und Arbeiter davon überzeugen, revolutionäre Sozialisten zu werden, bringen sie diesen das sozialistische Bewusstsein „von außen“ näher. Selbst in revolutionären Zeiten ist das revolutionäre Bewusstsein, das viele Arbeiterinnen und Arbeiter entwickeln, vielleicht nicht „wirklich“ revolutionär im marxistischen Sinne. Es könnte anarchistisch, anarchosyndikalistisch, revolutionär-populistisch oder eine andere Art von Bewusstsein sein, das die meisten Marxisten nicht als „proletarisch“ ansehen.

Viertens hat die Idee, die Lenin vertritt, zwar starke staatskapitalistische/totalitäre Implikationen, aber auch einen positiven, also demokratischen und sogar libertären Aspekt. (Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum die staatskapitalistischen Implikationen für viele Leute, auch für mich, nicht so klar sind.) Es geht um die Idee, dass Sozialisten offen und ehrlich zu ihren Überzeugungen stehen sollten. Sie sollten versuchen, die Menschen (Arbeiterinnen und Arbeiter und andere) offen und ehrlich davon zu überzeugen, revolutionäre Sozialisten zu werden. Sie sollten ihre Ideen nicht verbergen, sich nicht verstellen und keine Tricks oder Intrigen anwenden, um die Menschen ohne Dialog und rationale Argumente davon zu überzeugen, Sozialisten zu werden. In diesem Sinne bringen revolutionäre Sozialisten den Arbeiterinnen und Arbeitern und anderen sozialistisches Bewusstsein näher und sollten dies auch tun. Wie Leo Trotzki sagte, sollten Revolutionäre „sagen, was ist“, d. h. den Arbeiterinnen und Arbeitern die Wahrheit sagen.

Dies steht im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die in Wirklichkeit unehrlich und manipulativ sind. Einer davon ist der reformistische Ansatz, gegen den Lenin in Was tun? argumentierte, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, wenn sie nur zu Reformkämpfen ermutigt werden, automatisch zu sozialistischen Schlussfolgerungen kommen würden. Nach dieser Auffassung brauchen Sozialisten nicht offen und explizit für (vielleicht unpopuläre) sozialistische Ideen zu argumentieren und die Menschen zu überzeugen. Vielmehr sollten sie vorgeben, einfach „militante Gewerkschafter/Syndikalisten“ oder militante Was-auch-immer zu sein, also etwas anderes als das, was sie sind. (Tatsächlich wird man, wenn man aufhört, für den Sozialismus einzutreten und wie ein Reformist agiert, zu einem Reformisten, unabhängig davon, wie man sich selbst bezeichnet.) Das ist nicht nur unehrlich, sondern führt auch dazu, dass reformistische Ideen unter den Arbeiterinnen und Arbeitern gestärkt werden und eine reformistische Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung entsteht, keine revolutionäre. In diesem Sinne war Lenins Konzept dem seiner reformistischen („ökonomistischen”) Gegner überlegen.

Ein anderer Ansatz, der nicht offen für den Sozialismus eintritt, motiviert viele Leute, die eine terroristische Strategie verfolgen. Die Menschen schlafen, so lautet oft die Argumentation, betäubt durch die Massenmedien, Gewohnheiten, Fast Food oder „repressive Desublimierung“ (nach dem Konzept von Herbert Marcuse), und die Aufgabe der Revolutionäre ist es, sie aufzuwecken. Daher der Einsatz von Bomben. Man argumentiert nicht für den Sozialismus, man versucht, die Menschen „aufzurütteln“.

Beide Ansätze, die nicht offen für sozialistische Ideen eintreten und es nicht schaffen, „der Arbeiterinnen und Arbeiter sozialistisches Bewusstsein zu vermitteln“ (um es mal so zu sagen), sind unehrlich und manipulativ. Auch sie haben eine staatskapitalistische Implikation: Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind zu dumm, um überzeugt zu werden; eine Elite muss sie dazu bringen, für den Sozialismus zu kämpfen.

Nachdem das gesagt ist, wenden wir uns jetzt der Frage zu, welche staatskapitalistischen/totalitären Implikationen Lenins Formulierungen zum sozialistischen Bewusstsein und zur Rolle der Partei in Was tun? haben. Mit staatskapitalistischen/totalitären Implikationen meinen wir explizite oder versteckte Vorstellungen und/oder Tendenzen, die den Staatskapitalismus implizieren, darauf hinweisen oder rechtfertigen – die Herrschaft einer Elite über die Arbeiterklasse im Namen des Sozialismus.

Vielleicht lässt sich dies am besten anhand einer Reihe miteinander verbundener Ideen verdeutlichen, die sich aus den Formulierungen in Was tun? ergeben. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter aus eigener Kraft nur zu einem gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bewusstsein gelangen können und ihnen das sozialistische Bewusstsein von „außen“ durch revolutionäre Intellektuelle/die revolutionäre Partei vermittelt werden muss, dann gilt:

1. Sind die Quelle, der Hort und die Garantie des sozialistischen Bewusstseins die sozialistischen Intellektuellen/die revolutionäre Partei, nicht die Arbeiterklasse.

2. Kommt es im Hinblick auf eine sozialistische Revolution letztlich darauf an, dass die Staatsmacht von der revolutionären Partei übernommen wird; das Wesentliche dessen, was den Sozialismus/die Diktatur des Proletariats ausmacht, ist, dass der Staat von einer revolutionären Partei regiert wird.

3. In jedem Konflikt zwischen der revolutionären Partei und der Arbeiterklasse hat die revolutionäre Partei Recht, und die Partei hat das Recht, ja sogar die Pflicht, „im Namen“ und „im Interesse“ der Arbeiterklasse zu regieren.

Bevor die revolutionäre Partei die Macht übernimmt, sind diese staatskapitalistischen/totalitären Implikationen nicht so klar; sie sind eher so eine Art verstecktes Potenzial. Schließlich versucht die Partei, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu „erreichen“, Propaganda und Agitation zu betreiben, verschiedene Organisationen zu gründen usw. – im Allgemeinen versucht sie, ein sozialistisches Bewusstsein unter den Arbeiterinnen und Arbeitern zu schaffen. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht zuhören wollen, wenn sie sich weigern, Sozialisten zu sein, bleibt die Partei relativ isoliert und klein. Außerdem kann man sich theoretisch eine Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und der revolutionären Partei während und nach der Machtübernahme vorstellen, in der die Partei nicht über die Arbeiterinnen und Arbeiter herrscht, sondern die Führung für die Klassenherrschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter übernimmt.

Aber in Realität sind die Dinge immer komplizierter als in der Theorie. Insbesondere die sozialistische Theorie neigt dazu, anzunehmen, dass das „wahre“ oder „angemessene“ Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter (das wirklich „proletarische Bewusstsein“) die sozialistische Ideologie ist. Dies führt direkt zu der Vorstellung, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, sobald die Arbeiterklasse sozialistisch geworden ist, sicherlich sobald ein Aufstand der Arbeiterklasse durchgeführt wurde, keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten mit der revolutionären Partei haben werden.

Aber was, wenn das nicht stimmt? Was, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nach bestimmten Entwicklungen im Anschluss an einen Aufstand die revolutionäre Partei nicht mehr voll unterstützen? Was, wenn sie aufhören, revolutionär zu sein? Was, wenn sie revolutionär bleiben, aber ihre Vorstellung davon, revolutionär zu sein, sich von der der revolutionären Partei unterscheidet? Was, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Partei im Grunde einig bleiben, aber strategische, taktische oder organisatorische Differenzen entwickeln, die unter den Bedingungen eines Umbruchs zu Spaltungen und zu ziemlich erbitterten Auseinandersetzungen führen können?

Unter all diesen Umständen impliziert, deutet auf und rechtfertigt die Logik von Lenins Formulierungen in Was tun? die Herrschaft der Partei über die Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit anderen Worten, sie impliziert, deutet auf und rechtfertigt den Staatskapitalismus. Kurz gesagt, die staatskapitalistischen/totalitären Implikationen dieser Formulierungen können explizit werden, sobald ein Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter stattfindet.

Das ist nicht unvermeidlich. Wie wir schon gesagt haben, kann man sich eine demokratisch-sozialistische Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und einer revolutionären Partei während und nach der Machtübernahme vorstellen. Aber ein staatskapitalistisches Ergebnis ist sehr wahrscheinlich.

Das gilt vor allem, wenn die Partei auf der Idee aufgebaut ist, dass sie und nur sie die wahre Hüterin und Garantie des sozialistischen Bewusstseins ist und dass jede andere politische Organisation im Grunde genommen letztendlich bourgeois und konterrevolutionär ist. Wenn die Revolution nicht fast perfekt verläuft und nur auf wenige Hindernisse stößt (was unwahrscheinlich ist), werden fast alle Schulungen und Denk- und Handlungsweisen ihrer Mitglieder diese Partei dazu bringen, „im Namen“ und „im Interesse“ der Arbeiterklasse zu regieren.

Tatsächlich gehen die staatskapitalistischen/totalitären Implikationen der Ideen in Was tun? noch tiefer. Während Was tun? sagt, dass die revolutionären Intellektuellen/die revolutionäre Partei die Quelle des sozialistischen Bewusstseins sind, definiert es die revolutionäre Partei auch als „professionelle Revolutionäre”, den Vollzeit-Parteiapparat. Wenn wir diesen Gedanken mit einbeziehen, kommen wir zu der zusätzlichen Schlussfolgerung, dass die ultimative Quelle, der Hort und die Garantie des sozialistischen Bewusstseins der Parteiapparat, die Funktionäre, sind. Und logischerweise ist nach der Machtübernahme der einzige Garant für den proletarischen oder sozialistischen Charakter des Staates die Herrschaft des Parteiapparats, der Bürokraten.

Das bedeutet, dass bei Konflikten zwischen der Partei und den Massenorganisationen der Arbeiterklasse (Arbeiterräte [Sowjets], Fabrikkomitees, Gewerkschaften/Syndikate, Arbeitermilizen usw.) die Partei Recht hat und Vorrang hat. Sie hat das Recht, Entscheidungen zu treffen und über die Arbeiterklasse zu herrschen. Und wenn es zu Konflikten zwischen dem Parteiapparat und anderen Teilen der Partei kommt, hat der Parteiapparat Recht und hat Vorrang. Er hat das Recht, Entscheidungen zu treffen und über den Rest der Partei (und natürlich die Arbeiterklasse) zu herrschen. Genau das ist in Russland nach der Oktoberrevolution passiert.

Man muss nicht behaupten, dass Lenin die in Was tun? implizierten staatskapitalistischen/totalitären Vorstellungen ausdrücklich vertreten und verteidigt hat (er dachte wahrscheinlich, dass sich die Frage der Herrschaft der Partei über die Arbeiterinnen und Arbeiter gar nicht stellen würde, sobald die Arbeiterinnen und Arbeiter Sozialisten geworden waren und der Partei bei der Durchführung der Revolution gefolgt waren). Vorerst müssen wir nur festhalten, dass die Formulierungen in Was tun? solche Implikationen enthalten.

Tatsächlich schrieb Lenin an anderer Stelle Dinge, die das genaue Gegenteil der Passagen in Was tun? implizierten. In einem Artikel mit dem Titel „Die Umgestaltung der Partei“, der Ende 1905, kurz nach den radikalsten Ereignissen der (erfolglosen) Revolution von 1905, geschrieben wurde, schrieb Lenin: „Die Arbeiter sind instinktiv und spontan sozialdemokratisch.“ (Auch hier war damit revolutionärer Sozialismus gemeint, da Lenin und die Bolschewiki sich selbst noch als Sozialdemokraten bezeichneten). Dieser Artikel wurde geschrieben, um dafür zu argumentieren, Arbeiterinnen und Arbeiter „an der Werkbank“ (Arbeiterinnen und Arbeiter mit normalen Jobs, z. B. in Fabriken) in die Partei aufzunehmen und die Partei entsprechend neu zu organisieren und zu erweitern. Lenin versuchte, den Widerstand einiger Parteimitglieder zu überwinden, die befürchteten, dass die Aufnahme von Mitgliedern, die keine hauptamtlichen, bezahlten Funktionäre waren, den revolutionären Charakter der Partei verwässern würde.

Dass Lenin während der Revolution von 1905 so was wie den oben zitierten Satz geschrieben hat, ergibt vollkommen Sinn. Es war eine Revolution im Gange, und die Arbeiterinnen und Arbeiter waren ohne Hilfe der revolutionären Organisationen ziemlich militant und revolutionär geworden. (Alle revolutionären Organisationen, einschließlich der Bolschewiki, waren klein und spielten in den revolutionären Ereignissen eine eher marginale Rolle. Leo Trotzki spielte als Vorsitzender des Sowjets von St. Petersburg eine wichtige Rolle, aber als Individuum, nicht als Mitglied einer parteiähnlichen Organisation.)

Die Bolschewiki waren zu dieser Zeit noch als Untergrundorganisation mit professionellen Vollzeitmitarbeitern (Berufsrevolutionäre) organisiert. Deshalb schlug Lenin vor, die Partei für „Nicht-Profis“ zu öffnen. Deshalb argumentierte er auch gegen diejenigen, die sich seinem Vorschlag widersetzten, im Wesentlichen mit dem Argument: „Die Arbeiter sind bereits revolutionär.“

Trotz dieses Artikels blieb die in Was tun? vertretene Auffassung meiner Meinung nach die vorherrschende unter den Bolschewiki. Was tun? war im Wesentlichen das Gründungsdokument der bolschewistischen Fraktion/Partei, mit ausführlichen Diskussionen über grundlegende Fragen der sozialistischen Theorie und Praxis. „Die Reorganisation der Partei“ war in keiner Weise vergleichbar; es war ein unbedeutendes Werk. Wir wissen es zwar nicht mit Sicherheit, können aber vermuten, dass neue Mitglieder der bolschewistischen Fraktion/Partei aufgefordert, wahrscheinlich sogar verpflichtet wurden, Was tun? kurz nach ihrem Beitritt, vielleicht sogar schon vorher, zu lesen. Ältere Mitglieder haben es wahrscheinlich noch mal gelesen, um ihre Erinnerungen aufzufrischen. Es ist aber fast sicher, dass das bei Die Reorganisation der Partei nicht der Fall war.

Vielleicht noch wichtiger ist, dass die zentralen Anführer der bolschewistischen Partei, darunter viele „alte Bolschewiki“ wie Josef Stalin, in den Ideen und Praktiken von Was tun? geschult wurden. Einige gingen zurück auf die ursprüngliche Iskra-Periode und die Zeit vom Zweiten Kongress der SDAPR 1903 bis zur Revolution von 1905. Andere wurden in den Jahren nach 1905–06 geschult, als die Arbeiterinnen und Arbeiter politisch ruhig und konservativ wurden und alle revolutionären Organisationen stark schrumpften. Die Bolschewiki wurden, sowohl aus Notwendigkeit als auch aus freier Entscheidung, zu kaum mehr als einem professionellen Untergrundapparat, und manchmal sogar kaum mehr als das. Dies blieb in etwa bis zum Ausbruch der Februarrevolution 1917 so.

Spätere bolschewistische Anführer, die unter diesen Bedingungen rekrutiert und geschult wurden, stimmten fast automatisch den Vorstellungen in „Was tun?“ zu. Und alle neigten dazu, vor, während und nach der Oktoberrevolution entsprechend diesen Vorstellungen zu handeln.

Der überzeugendste Beweis für die Auswirkungen der staatskapitalistischen/totalitären Implikationen der Ideen in Was tun? ist das, was nach der Oktoberrevolution, insbesondere während des Bürgerkriegs, tatsächlich geschah. Wie bereits erwähnt, konzentrierten die Bolschewiki die gesamte politische Macht in ihren Händen. Dazu gehörte auch die Unterordnung der Sowjets, Fabrikkomitees, Gewerkschaften/Syndikate, Milizen und anderen Massenorganisationen (sofern diese nicht aufgelöst worden waren) ihrer direkten Kontrolle und „Disziplinierung“ unterstellten. Diese Maßnahmen wurden sicherlich unter bestimmten Bedingungen ergriffen, darunter interne konterrevolutionäre Aufstände, ausländische Interventionen, unglaubliche Zerstörung und Armut.

Und vielleicht hätten die Bolschewiki es vorgezogen, sie nicht zu ergreifen (obwohl viele der Maßnahmen von N. I. Bucharin, dem wichtigsten Theoretiker der Partei, gelobt und sogar verherrlicht wurden).

Dennoch standen die ergriffenen Maßnahmen völlig im Einklang mit den in Was tun? dargelegten Konzepten. Sie wurden von führenden Bolschewiki, darunter die nicht sehr „alten Bolschewiki“ Leo Trotzki und Karl Radek, gerechtfertigt.

„Die Partei hat das Recht, ihre Diktatur durchzusetzen, auch wenn diese Diktatur vorübergehend mit den momentanen Stimmungen der Arbeiterdemokratie kollidiert … Es ist notwendig, unter uns das Bewusstsein für das revolutionäre, historische Geburtsrecht der Partei zu schaffen. Die Partei ist verpflichtet, ihre Diktatur aufrechtzuerhalten, unabhängig von vorübergehenden Schwankungen in den spontanen Stimmungen der Massen, unabhängig von vorübergehenden Schwankungen sogar in der Arbeiterklasse.“ (Trotzki)

„Die Partei ist die politisch bewusste Avantgarde der Arbeiter. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Arbeiter, am Ende ihrer Kräfte, sich weigern, einer Avantgarde zu folgen, die sie in den Kampf und in den Opfertod führt … Sollen wir den Forderungen der Arbeiter nachgeben, die am Ende ihrer Geduld sind, aber ihre wahren Interessen nicht so verstehen wie wir? Ihre Einstellung ist offen gesagt reaktionär. Aber die Partei hat beschlossen, dass wir nicht nachgeben dürfen, dass wir unseren erschöpften und entmutigten Anhängern unseren Willen zum Sieg aufzwingen müssen.“ (Radek)

Und natürlich wurden diese Schritte von Stalin und anderen „alten Bolschewiki” begeistert begrüßt, die den Ball aufnahmen und weiterliefen.

Ist das nur Zufall?

DREI — Das „Ethos” des Bolschewismus

In diesem Artikel werde ich das diskutieren, was man als das „Ethos” des Bolschewismus bezeichnen könnte. Mit „Ethos” meine ich die allgemeine Weltanschauung, die Einstellungen und den Stil – grob gesagt die Kultur – der Fraktion und Partei, die als Bolschewiki bekannt geworden ist. „Ethos” ist ein etwas vager Begriff. Trotzdem gibt es bestimmte ziemlich eindeutige Merkmale der Bolschewiki, sowohl als Individuen als auch als Strömung/Partei, und ihrer politischen Weltanschauung, die man erkennen kann.

Einer der auffälligsten Aspekte der Bolschewiki-Bewegung ist das, was man als Kult der „Harten“ bezeichnen könnte. Die Bolschewiki waren stolz auf ihre Härte. Sie nannten sich sogar selbst „die Harten“. Dies stand im Gegensatz zu dem, was sie als „Weichheit“ der Menschewiki verspotteten. Aus Sicht der Bolschewiki waren sie stark, hart und unerschütterlich, die Menschewiki hingegen schwach, weich und unentschlossen. Die Bolschewiki waren stolz auf ihre Fähigkeit, im „Untergrund“ zu agieren, und auf ihre Bereitschaft, die damit verbundenen Entbehrungen zu ertragen. Sie hielten die Menschewiki für weniger fähig, unter Bedingungen der Klandestinität zu handeln, und für zu sehr darauf bedacht, legal zu agieren, egal welche Einschränkungen das mit sich brachte. Die Bolschewiki sahen sich auch als proletarischer als die Menschewiki, die sie eher als Mittelklasse betrachteten (auch wenn das nicht unbedingt stimmte).

Noch wichtiger war, dass die Bolschewiki sich selbst als politisch kompromissloser als die Menschewiki ansahen, als feindlicher gegenüber dem Zaren, den Großgrundbesitzern und Kapitalisten und als misstrauischer gegenüber den bourgeois Liberalen.

Diese Unnachgiebigkeit oder politische „Härte” bezog sich sowohl auf die politische Haltung als auch auf die Frage der Methoden. Im Allgemeinen war das politische Programm der Bolschewiki radikaler als das der Menschewiki; sie hatten eine radikalere Position in der Agrarfrage, einem der Hauptthemen in Russland.

Die Bolschewiki waren auch eher bereit, gewalttätige Taktiken zu befürworten und anzuwenden. Während der Revolution von 1905 beispielsweise lag einer der Schwerpunkte der Bolschewiki auf der Organisation bewaffneter Kampftrupps mit dem Ziel, einen bewaffneten Aufstand durchzuführen.

In diesem Kult der „Härte” wurden politische Position und persönlicher Stil, Fraktionspolitik und persönliche Eigenschaften als untrennbar miteinander integriert angesehen, auch wenn dies nicht auf jedes Individuum in der Fraktion zutraf. (Zum Beispiel war Grigori Sinowjew, ein führender Bolschewik, unter den Bolschewiki für sein schwankendes Temperament und sogar seine Feigheit bekannt.)

Unabhängig davon, wie wahr oder falsch diese Vorstellung im Allgemeinen war, spiegelte sie doch tendenziell die persönlichen Eigenschaften der wichtigsten Anführer der Menschewiki und Bolschewiki, Jewgeni Martow und W. I. Lenin, wider. Martow wirkte körperlich schwach, etwas schlampig, politisch übermäßig vorsichtig und als Denker und Redner undiszipliniert. Lenin hingegen vermittelte den Eindruck von persönlicher Stärke und Energie; er war außerdem ordentlich, politisch sehr entschlossen und ein scharfsinniger Denker und Redner.

Das Selbstverständnis der Bolschewiki als „Harte“ war eine Reflexion ihres Ideals oder Vorbilds. Das war, wie wir in unserem letzten Artikel besprochen haben, der professionelle, Berufsrevolutionär. Er (und im Großen und Ganzen war es ein Mann) war illegal. Er lebte und arbeitete „im Untergrund”, ohne festen Wohnsitz, versteckt und oft auf der Flucht vor der Polizei. Er kam mit sehr wenig aus und musste mit Gefängnis- und Exilzeiten rechnen. Er widmete sich ganz seiner Arbeit. Er war ein Profi, ein ausgebildeter Militant.1

Fast jeder, der so ein Leben auch nur für eine gewisse Zeit überstanden hat, musste „hart“ oder zäh sein oder werden. (Die Bolschewiken trugen übrigens meistens schwarze Lederjacken und -mäntel, die für sie so was wie ein Erkennungszeichen wurden.)

Bei der Frage der „Härte“ gibt es zwei Aspekte, die man beachten sollte. Der eine ist die Frage der „Disziplin“. Das bezog sich sowohl auf den politischen oder parteipolitischen Bereich als auch auf den persönlichen und individuellen Bereich. Disziplin im politischen Sinne bedeutete die totale Hingabe an die Prinzipien und die Politik der Partei. Was auch immer man davon halten mochte, selbst wenn man mit der Politik oder der „Linie“ der Partei nicht einverstanden war, verteidigte man sie entschlossen und setzte sie um. Das Äußern von Meinungsverschiedenheiten war bestimmten Zeiträumen vorbehalten, und selbst dann nur innerhalb der Partei oder Fraktion. Die Bolschewiki verwendeten oft den Begriff „eiserne Disziplin“ als etwas, das es anzustreben galt.

Ein weiterer Aspekt der „Disziplin“ bestand in persönlicher Hingabe und Zielstrebigkeit. Dazu gehörte eine Art Askese, der Stolz, auf Luxus und Dinge verzichten zu können, die für die meisten Menschen selbstverständlich sind, darunter Familie und soziales Leben.2

Diese Askese war nicht etwas, auf das wir im Nachhinein nur hinweisen; sie wurde ausdrücklich als Ideal hochgehalten. Lenin war bekannt für seine Sparsamkeit, seine Ungekünsteltheit und seine Bereitschaft, ohne Luxus zu leben. (Er lebte allerdings deutlich besser als die meisten Bauern und Arbeiter.)

Bezeichnenderweise wurde der Titel von Lenins Buch Was tun?, wie bereits erwähnt, aus dem Titel eines Buches von N.G. Tschernyschewski entlehnt. Dieses 1862 in Einzelhaft geschriebene Buch war quasi die Bibel der jungen, meist aus der Mittelklasse und Oberschicht stammenden Radikalen der 1860er Jahre, die „zum Volk“ (den Bauern) gingen, um ihnen Aufklärung und radikale Ideen zu bringen. Eine markante Figur in dem Buch ist ein junger Mann namens Rakhmetov. Rakhmetov stammt aus einfachen Verhältnissen und ist eine Säule der Stärke. Er glaubt nur an die Sache und ist ganz dem „Volk“ verschrieben. Nicht zuletzt bereitet er sich auf den kommenden Kampf (implizit einen großen Umbruch) vor, indem er auf einem Nagelbett schläft und seinen Körper und Geist auf andere Weise abhärtet. Die Verbindung zwischen Rakhmetovs Stil und dem der Bolschewiki war kein Zufall.

Nun gibt es vieles Positives an der Betonung der „Härte“ durch die Bolschewiki, sowohl politisch als auch persönlich. Es ist gut für Revolutionäre, radikal, unnachgiebig, entschlossen und loyal gegenüber ihrer Organisation und deren Politik zu sein. Es ist auch positiv, engagiert, geschickt und bereit zu sein, Entbehrungen zu ertragen und für die Sache zu leiden. „Härte“ in diesem Sinne ist eines der Dinge, die es den Bolschewiki ermöglichten, die Belastungen der zaristischen Repression und der Revolution zu überstehen, die Oktoberrevolution anzuführen und sich im Bürgerkrieg durchzusetzen. Sicherlich braucht jede ernsthafte revolutionäre Organisation eine gute Portion davon.

Aber „Härte“ kann auch übertrieben werden. Und ein „Kult“ der „Härte“ kann zu ernsthaften Verzerrungen führen. Im geringsten Fall kann er zu einer Art revolutionärem Puritanismus werden, der selbst bescheidene Annehmlichkeiten als Luxus und Frivolität verurteilt und Leute belächelt, die ein normales Leben führen wollen und sich nicht voll und ganz der Sache verschreiben.

Er kann auch eine Feindseligkeit gegenüber dem „zu offenen” Ausdruck „positiver” Emotionen – Liebe, Freude, Glück usw. – mit sich bringen und dazu führen, dass angenehme Aktivitäten als „dekadent” oder „bourgeois” abgewertet werden. So kann er sehr „macho” werden und implizit oder explizit auf Frauen, schwule Menschen und alles, was wir als sexuelle Befreiung bezeichnen könnten, herabblicken.

Ein Kult der „Härte“ kann auch dazu führen, dass man brutale, zwanghafte Methoden befürwortet oder sogar bevorzugt und gegenüber menschlichem Leid unempfindlich wird.

Wäre „Härte“ eine Frage des Stils eines Individuums oder der Einstellung geblieben oder wäre sie Teil des Ethos einer Partei gewesen, die nicht an der Macht war, hätte ein Kult der „Härte“ vielleicht keine große Bedeutung gehabt. Was den Kult der „Härte“ in einer politischen Organisation potenziell gefährlich macht, ist die Möglichkeit, dass er Teil einer Staatsideologie wird.

Wenn eine Partei, die sich ihrer „Härte“ rühmt, zur alleinigen politischen Macht in einem Staat wird, könnte sie dazu neigen, ihre Härte allen anderen aufzuzwingen. Dann wird das, was vor der Revolution als persönlicher Puritanismus von Mitgliedern einer Fraktion oder Partei begann, zu einer Art „staatlichem Puritanismus”, der nach der Revolution mit den verschiedenen Mitteln, die einem Staat zur Verfügung stehen, aufgezwungen wird. Das Ergebnis kann eine Reglementierung und eine strafende Haltung gegenüber Klassen, Gruppen und Individuen sein, die sich den Zielen und Methoden der Regierungspartei widersetzen oder ihnen nicht vollständig zustimmen.

Allgemeiner gesagt: So wie die „puritanische Ethik“ des 16. und 17. Jahrhunderts das kapitalistische Diktum „Akkumulation um der Akkumulation willen“ seitens einzelner Kapitalisten verstärkte, so führt auch ein staatlicher Puritanismus zu demselben Diktum seitens des Staates. Dies ist in der Tat die Ethik des Staatskapitalismus.

Besonders bedrohlich ist, dass kann ein staatlicher Kult der „Härte“ ganz logischerweise zu der Idee führen, dass brutale Zwangsmethoden, wenn sie vor und während einer Revolution gerechtfertigt sind, auch danach gerechtfertigt sind. Aber die Möglichkeit, solche Methoden anzuwenden, wird enorm zugenommen haben, da die Partei nun über die gewaltige Macht des Staates (Polizei, Gefängnisse, Armeen usw.) verfügt. Wenn es also okay ist, Individuen im Namen der Sache zu opfern, ist es auch okay und möglich, das Opfern von noch mehr Menschen, vielleicht sogar ganzen Klassen, zu rechtfertigen, wenn es den Interessen der großen Sache des Sozialismus und der Befreiung der Menschheit dient.

Ein weiterer Aspekt des „Ethos” des Bolschewismus, der erwähnenswert ist, ist das, was man als Kult des Zentralismus und der Zentralisierung bezeichnen kann.

Generell bevorzugten die Bolschewiki den Zentralismus gegenüber dem Dezentralismus, den sie in einem negativen Licht sahen. Diese Vorliebe für den Zentralismus hatte eine Reihe von Ursachen, die nicht alle klar sind. Als Organisationsprinzip für ihre Fraktion/Partei befürworteten die Bolschewiki den sogenannten „demokratischen Zentralismus”. Dies war in Wirklichkeit eine Notwendigkeit, die ihnen weitgehend durch die Umstände auferlegt wurde, unter denen sie den größten Teil ihrer Geschichte lang agierten: Sie waren eine illegale Gruppe, die bei ihrer Entdeckung mit Verhaftung, Inhaftierung, Exil usw. zu rechnen hatte. Um eine starke Organisation aufzubauen, die der Repression widerstehen, d. h. überleben konnte, führten sie den Zentralismus ein.

Doch die Bolschewiki verehrten den Zentralismus weit über die Notwendigkeiten des Untergrundlebens hinaus. Sie schienen ihn nicht nur für organisatorisch stärker als den Dezentralismus zu halten, sondern auch von Natur aus demokratischer. Ein Teil der Verehrung der Bolschewiki für den Zentralismus scheint aus ihrer Bewunderung für die kapitalistische Industrietechnik und -struktur zu stammen. Eine ihrer Hauptkritikpunkte an Russland war dessen Rückständigkeit – was wir als unterentwickelten Charakter ihrer Ökonomie bezeichnen würden. Die Bolschewiki sahen die kapitalistische Fabrik, die zentralistisch geführt wurde, technisch gesehen als eine fortschrittliche Institution an.

Lenin zum Beispiel hielt den Russen immer wieder das stark zentralisierte und hierarchische deutsche Postsystem und die deutsche Industrie insgesamt als Vorbild vor. So definierte Lenin nach der Oktoberrevolution die Schaffung eines stark zentralisierten ökonomischen Apparats als ein wichtiges Ziel des Sowjetstaates.

Die Organisation der Buchhaltung, die Kontrolle großer Unternehmen, die Umwandlung des staatlichen ökonomischen Mechanismus in eine einzige riesige Maschine, in einen ökonomischen Organismus, der so funktioniert, dass Hunderte Millionen Menschen nach einem einzigen Plan geführt werden können – das war das enorme organisatorische Problem, das auf unseren Schultern lastete. [Politischer Bericht des Zentralkomitees an den Außerordentlichen Siebten Kongress der RKP(B), gehalten am 7. März 1918. Gesammelte Werke, Band 27, S. 90–91.]

Lenins Engagement für den Zentralismus, ja geradezu seine Verehrung desselben, zeigt sich in seiner recht häufigen Empfehlung, dass die Ökonomie, die revolutionäre Armee und der Sowjetstaat „einem einzigen Willen untergeordnet“ werden sollten (vermutlich seinem eigenen, aber das ist im Moment nicht der Punkt, den wir hervorheben wollen).

Hier lohnt es sich, einen ziemlich langen Abschnitt zu zitieren, um einen relativ umfassenden Eindruck von Lenins Denken zu dieser Frage zu bekommen.

(…) muß man sagen, daß jede maschinelle Großindustrie — d. h. gerade die materielle, die produktive Quelle und das Fundament des Sozialismus — unbedingte und strengste Einheit des Willens erfordert, der die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden und Zehntausenden Menschen leitet. Sowohl technisch als auch ökonomisch und historisch leuchtet diese Notwendigkeit ein und ist von allen, die über den Sozialismus nachgedacht haben, stets als seine Voraussetzung anerkannt worden. Wie aber kann die strengste Einheit des Willens gesichert werden? Durch die Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzelnen.

Diese Unterordnung kann bei idealer Bewußtheit und Diszipliniertheit der an der gemeinsamen Arbeit Beteiligten mehr an die milde Leitung eines Dirigenten erinnern. Sie kann die scharfen Formen der Diktatorschaft annehmen, wenn keine ideale Diszipliniertheit und Bewußtheit vorhanden ist. Aber wie dem auch sein mag, die widersprudishse ‚Unterordnung unter einen einheitlichen Willen ist für den Erfolg der Prozesse der Arbeit, die nach dem Typus der maschinellen Großindustrie organisiert wird, unbedingt notwendig. [„Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“, geschrieben im März-April 1918. Gesammelte Werke, Band 27, S. 268–269.]

Im vorigen Absatz schreibt Lenin: „Es besteht also absolut kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen der sowjetischen (d. h. sozialistischen) Demokratie und der Ausübung diktatorischer Macht durch Individuen.“ [S. 268.]

Nach Lenins Ansicht stand eine extreme, ja sogar absolute Zentralisierung also keineswegs im Widerspruch zur sozialistischen Demokratie. Sie war in gewisser Weise vollkommen mit ihr vereinbar, ja sogar ihre perfekte Verkörperung.

Es geht mir hier nicht darum zu beweisen, dass das Bekenntnis zum Zentralismus, der als eine an sich fortschrittliche und sogar proletarische Form angesehen wird, per se staatskapitalistisch ist. Es ist jedoch ziemlich leicht zu erkennen, dass eine politische Partei, deren Bekenntnis zum Zentralismus praktisch zu einer Grundsatzfrage geworden ist, zu extremen zentralistischen Maßnahmen (unterstützt durch „eiserne Disziplin“) greifen würde, um das zu bewahren, was sie als Diktatur des Proletariats ansieht.

Es ist auch leicht zu erkennen, warum eine solche Partei nicht erkennen würde, dass extremer Zentralismus letztendlich den proletarischen Staat, den sie zu verteidigen glaubte, zerstören würde, indem er echte Kontrolle und Demokratie der Arbeiter erstickt. Und warum eine solche Partei später wieder zu extremen zentralistischen Maßnahmen als Hauptmittel zur Industrialisierung des Landes zurückkehren würde.

Teil des Zentralismuskults der Bolschewiki war eine Begeisterung für (ökonomische) Planung. Für die Bolschewiki und für allzu viele Marxisten ist die Essenz des Sozialismus die ökonomische Planung. Dies steht im Gegensatz zum Kapitalismus, der insgesamt chaotisch ist und über den freien oder teilweise freien Markt funktioniert.

Aber es gibt Planung und Planung. Es kommt darauf an, wer sie durchführt und wie sie durchgeführt wird. Di

e heutige russische Ökonomie ist angeblich geplant, aber jeder, der etwas darüber weiß, wie sie tatsächlich funktioniert, weiß, dass sie ein ungeplanter Haufen Chaos ist. Was „geplant” ist und was tatsächlich passiert, hat wenig miteinander zu tun. Die Planung durch eine bürokratische staatskapitalistische Klasse, die die Arbeiter ausbeutet, ist nicht dasselbe wie eine demokratische, sozialistische Planung durch die Arbeiter. Die Bolschewiki waren sich darüber nie im Klaren und neigten dazu, diese beiden Ideen zu vermischen.

Ein Teil der Verantwortung dafür liegt bei Marx und Engels selbst. Sie stellten das Chaos und die Anarchie des kapitalistischen Marktes der angeblich geplanten Natur der Produktion innerhalb der Fabrik gegenüber.

Vielleicht ist eine kleine Fabrik, wie sie Engels viele Jahre lang leitete, wirklich geplant. Aber ein riesiger kapitalistischer Konzern wie General Motors hat viele Abteilungen, Unterabteilungen, Bürokratien usw., die um Ressourcen, Anerkennung usw. konkurrieren.Obw

ohl es planmäßiger ist als der Markt, ist es nicht wirklich planmäßig. Wie die moderne russische Ökonomie insgesamt ist ein solches Unternehmen eher ein marginal verwaltetes Chaos als eine echte Planung. Und in dem Maße, in dem eine bestimmte Fabrik planmäßig ist, basiert diese Planung auf brutaler Reglementierung. Eine ganze Gesellschaft, die nach den bürokratischen und hierarchischen Prinzipien eines kapitalistischen Unternehmens aufgebaut ist, wäre nicht planmäßig, sondern ein erstickender, bürokratischer Albtraum.

Wie Marx und Engels neigten auch die Bolschewiki dazu, sozialistische Planung mit der für kapitalistische Unternehmen typischen Planung gleichzusetzen. Die Planung sollte von ökonomischen Experten auf angeblich „wissenschaftliche” Weise auf der Grundlage der vollständigen Verstaatlichung (Zentralisierung) der Industrie erfolgen. Es sollte keine Frage der Politik sein, die von den Arbeitern diskutiert und debattiert werden musste.

Infolgedessen wurde die Kontrolle der Fabriken und der Industrie insgesamt durch die Arbeiter, für die sich die Bolschewiki 1917 einsetzten, von ihnen als Sprungbrett, als Übergangsmaßnahme zu etwas anderem, etwas „sozialistischerem” angesehen: der Verstaatlichung der Industrie und der sogenannten „sozialistischen” Planung. Die Bolschewiki hielten die sozialistische Planung nicht für vereinbar mit der direkten Kontrolle der Arbeiter über die Fabriken, die sie als eine anarchistische Idee betrachteten. Sie waren also 1917 nur so weit für „Arbeiterkontrolle“, solange sie „weiter“ führte (und weil die Arbeiter während und nach der Februarrevolution die Fabriken besetzt und ihre Kontrolle etabliert hatten).

Sobald sie dazu in der Lage waren, ordneten die Bolschewiki die Fabrikkomitees anderen Institutionen (den Gewerkschaften/Syndikaten) unter und schafften sie schließlich ganz ab. Sie wurden durch eine „Ein-Mann-Führung“ ersetzt. Dies wurde oft mit der Notwendigkeit begründet (Ausbruch des Bürgerkriegs, drastischer Niedergang der Ökonomie usw.), was bis zu einem gewissen Grad auch zutrifft, aber es stand auch völlig im Einklang mit den bereits bestehenden Ideen und Neigungen der Bolschewiki, insbesondere ihrer Verehrung des Zentralismus.

Wie bereits erwähnt, war eine Quelle für das Bekenntnis der Bolschewiki zum Zentralismus der Glaube an die inhärente Fortschrittlichkeit der bourgeois Technologie. Die bourgeois Technologie und ihre logische Folge, die Industrialisierung, waren für die Bolschewiki ebenfalls geradezu Kultobjekte.

Obwohl sie total gegen den traditionellen Kapitalismus, kapitalistische Unternehmen und Banken sowie individuelle Kapitalisten waren, fanden die Bolschewiki die bourgeoise Technologie echt klasse, vor allem die Techniken der kapitalistischen Industrie.

Ihre Vorliebe beschränkte sich aber nicht nur auf die industriellen Prozesse als solche – also die Technologie im engeren Sinne –, sondern erstreckte sich auf die gesamten Methoden und sogar die Struktur der kapitalistischen Industrie. Dazu gehörten die Zentralisierung, die hierarchische Führungsstruktur, die Akkordarbeit und andere Aspekte des (bourgeoisen) „wissenschaftlichen Managements” (z. B. Taylorismus).

Lenin glaubte tatsächlich, dass die gesamte Struktur und die Methoden der kapitalistischen Industrie von einem proletarischen Staat komplett übernommen werden könnten. Für Lenin war das Einzige, was zählte, um diese Art von Struktur proletarisch zu machen, dass sie von einem auf Sowjets basierenden Staat kontrolliert wurde. So schrieb Lenin im Mai 1918:

Deutschland. Hier haben wir das „letzte Wort“ der modernen großkapitalistischen Technik und der planmäßigen Organisation, die dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unterstellt ist. Man werfe die gesperrten Worte hinaus, setze an Stelle des militaristischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, aber einen Staat von anderem sozialen Typus, anderem Klasseninhalt, einen Sowjetstaat, d. h. einen proletarischen Staat, und man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt. [„Über „linke“ Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“, Gesammelte Werke, Band 27, S. 334.]

(Es ist erwähnenswert, dass viele der Argumente in Lenins Artikeln und Reden, die wir zitiert haben, sowie andere aus dieser Zeit darauf abzielten, diejenigen außerhalb und innerhalb der bolschewistischen Partei zu widerlegen, die mit dem von Lenin vertretenen Kurs nicht einverstanden waren. Dies ist ein Hinweis darauf, dass nicht alle Bolschewiki mit Lenin übereinstimmten und dass die spezifischen Aspekte des bolschewistischen Ethos, die wir diskutiert haben, nicht die Gesamtheit des Bolschewismus ausmachen.)

Lenin erkannte nicht, dass industrielle Technik, Organisationsstruktur und Methoden keine rein wissenschaftlichen, politisch neutralen Fragen sind; er erkannte nicht, dass sie einen eindeutigen Klasseninhalt haben. Insbesondere erkannte Lenin nicht, dass die deutsche Industrie und die kapitalistische Industrie insgesamt zu seiner Zeit in jeder Hinsicht eine durch und durch bourgeoise Institution war. Die bloße Unterordnung eines kapitalistischen ökonomischen Apparats unter die Sowjets (vorausgesetzt, die Sowjets werden von den Arbeitern kontrolliert) macht diesen Apparat nicht automatisch proletarisch. Er muss von den Arbeitern selbst gründlich revolutioniert werden.

Es ist verständlich, warum die Bolschewiki die bourgeoise Industrie an sich als fortschrittlich betrachteten. Aus ihrer Position innerhalb des zaristischen Russlands heraus war das Hauptproblem die Armut, Unwissenheit, Krankheit usw. der Arbeiter sowie der Bauern. Und dies schien ihnen in erster Linie durch die ökonomische, politische und kulturelle Rückständigkeit Russlands verursacht zu sein. In diesem Zusammenhang wurden kapitalistische Technologie und kapitalistische Verwaltungstechniken usw. leicht als an sich fortschrittlich angesehen. Was Russland brauchte, so schien es, war eine tiefgreifende ökonomische Transformation, eine im Wesentlichen bourgeoise Industrialisierung.

Als die Bolschewiki im April 1917 ihre Strategie änderten und sich auf eine Revolution der Arbeiterklasse und die Errichtung einer ihrer Meinung nach proletarischen Diktatur konzentrierten, änderte sich ihre Verpflichtung gegenüber der bourgeois Technologie – industriellen Methoden und Führungsstrukturen – nicht wirklich. Sie waren der Meinung: 1) Da die Industrie usw. nun von einer Sowjetregierung, also einem Arbeiterinnenstaat, kontrolliert wurde, diente sie ipso facto den Interessen der Arbeiterklasse (und der Bauern), 2) die Hauptaufgabe innerhalb Russlands bestand darin, den industriellen Apparat und die Ökonomie im Allgemeinen aufzubauen, um das Land zu industrialisieren. Dies würde die materielle Grundlage für die Errichtung des Sozialismus und schließlich des Kommunismus schaffen.

Infolgedessen engagierten sie sich noch stärker für die Zentralisierung, Hierarchie und Disziplin der kapitalistischen Industrie und schenkten der Entwicklung eines Systems der direkten Kontrolle der Ökonomie durch die Arbeiterklasse keinerlei Beachtung. Wenn überhaupt, dann führte die Tatsache, dass diese Industrie nun unter ihrer Kontrolle stand, was sie als Kontrolle der Arbeiterklasse verstanden, dazu, dass sie alle Einwände gegen Zentralisierung, Hierarchie und diktatorische Führung, die sie möglicherweise gehabt hatten, verwarfen.

Die Bolschewiki rechtfertigten diese Schritte nicht nur mit der Verschärfung der ökonomischen Krise und dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1918. Sie befürworteten, rechtfertigten und verteidigten sie auch als Prinzip, als Schritte in Richtung Sozialismus. Eines der wichtigsten theoretischen Werke von N. I. Bucharin, das während des Bürgerkriegs geschrieben wurde, Ökonomik der Übergangsperiode, war quasi eine Hymne an die Zentralisierung. Und Bucharin war der wichtigste Theoretiker der Bolschewiki.

Hier sehen wir eine direkte Grundlage sowohl für die Ziele als auch für die Methoden von Stalins Programm der forcierten Industrialisierung. Als klar wurde, dass die Welle der Arbeiterrevolutionen nach dem Krieg niedergeschlagen worden war und da die Arbeiterklasse insgesamt „gezeigt“ hatte, dass ihr der revolutionäre Wille fehlte (der Aufstand von Kronstadt, der Generalstreik in Petrograd), schien es logisch, dass die Hauptaufgabe der Partei darin bestand, die Arbeiter und Bauern zur Industrialisierung des Landes zu zwingen.

Stalin dachte, dass die Industrialisierung, die auf bourgeoiser Technologie und zentraler Planung basierte, Wohlstand schaffen würde, die materielle Basis für den Kommunismus, und so den Weg für die nächste Stufe der menschlichen Gesellschaft ebnen würde. Aber da den Arbeitern und bald auch den Bauern jegliche Kontrolle über die Produktionsmittel genommen wurde, führten der Kult des Zentralismus und der bourgeoisen Technologie sowie, wie wir gleich sehen werden, Zwangsmaßnahmen dazu, dass sie unterworfen, ausgebeutet und dezimiert wurden. Angesichts Stalins Annahmen, von denen viele aus dem Bolschewismus übernommen wurden, war das Ergebnis eine staatskapitalistische Industrialisierung – und das konnte es auch nur sein.

Ein weiteres Merkmal des bolschewistischen Ethos war der Glaube an die Wirksamkeit, ja sogar die Wünschbarkeit von Zwangsmaßnahmen und brutalen Methoden. Ich habe dies oben im Abschnitt über den Kult der Härte erwähnt, aber es gibt noch weitere Punkte, die anzumerken sind.

Wenn ich von der Vorliebe der Bolschewiki für Zwangsmethoden spreche, wiederhole ich nicht einfach den üblichen bourgeoise Vorwurf an den Marxismus, dass „der Zweck die Mittel heiligt“. (Tatsächlich glauben die Kapitalisten selbst, dass der Zweck, z. B. Profite, die Verteidigung des Kapitalismus, die Mittel rechtfertigt – schädliche Arbeitsbedingungen, die Todesstrafe, chemische Kriegsführung, Atomwaffen –, aber das ist eine zu lange Diskussion, um sie hier zu führen.) Ich lehne gewalttätige Methoden auch nicht vollständig ab; ich bin kein Pazifist. Im Allgemeinen akzeptiere ich Marx‘ Vorstellung, dass eine Revolution zwangsläufig Gewalt mit sich bringt, aber im Großen und Ganzen ist dies die Gewalt der überwältigenden Mehrheit gegen eine sehr kleine Minderheit von Ausbeutern und ihren Handlangern, oder sollte es zumindest sein. Das Problem ist also nicht die Zwangsausübung/Gewalt im Abstrakten.

Meiner Meinung nach gibt es zwei Probleme. Das erste ist, ob sich diejenigen, die zu Zwangsmaßnahmen greifen, bewusst sind, dass deren Einsatz mit Kosten verbunden ist: dass sie das Ziel, zu dessen Erreichung sie angeblich eingesetzt werden, untergraben können und dass solche Maßnahmen irgendwann sogar die Erreichung dieses Ziels verhindern können.

Was ich damit sagen will, ist, dass brutale Methoden dazu neigen, diejenigen, die sie anwenden, zu demoralisieren und zu entmenschlichen. Wenn wir eine humanere Gesellschaft als den Kapitalismus aufbauen wollen, sollten wir meiner Meinung nach immer versuchen, Methoden anzuwenden, die humaner sind als die der Kapitalisten.

Die andere Frage, die sich im Zusammenhang mit der Anwendung von Zwang/Gewalt durch Revolutionäre stellt, ist: Gegen wen richten sich die Zwangsmaßnahmen? Wenn die große Mehrheit der Arbeiter sowie anderer unterdrückter Menschen Gewalt gegen die Kapitalisten und ihre Handlanger anwendet, ist das eine Sache. Wenn eine relativ kleine Minderheit von Revolutionären am Ende brutale Methoden gegen eine große Zahl von Arbeitern usw. anwendet, ist das etwas anderes.

Nach all dem würde ich argumentieren: 1) dass die Bolschewiki im Allgemeinen zu sehr dazu neigten, Zwangs-/brutale Methoden zu befürworten; 2) dass sie sich offenbar nicht bewusst waren, dass dies genau das Ziel untergraben könnte, für das sie angeblich kämpften; und 3) dass diese Zwangsmaßnahmen zumindest implizit logischerweise gegen Mitglieder, sogar große Teile der Arbeiterklasse gerichtet waren, deren Avantgarde die Bolschewiki angeblich waren.

Da das ein ziemlich schwerwiegender Vorwurf ist (und ein Vorwurf, der typischerweise von Gegnern des Sozialismus erhoben wird), lohnt es sich, einige Passagen aus Lenins Schriften und Reden zu zitieren, um ihn zu untermauern. Die drei, die ich ausgewählt habe, wurden im April und Mai 1918 geschrieben oder gesprochen. Das war nach der Oktoberrevolution, aber vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs (der eigentlich im Juni 1918 beginnen sollte).

In dieser Zeit sah sich die neue Sowjetregierung, bestehend aus den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären, mit einem ziemlich raschen ökonomischen Niedergang und dem Beginn eines sozialen und ökonomischen Chaos konfrontiert. Die Regierung hatte außerdem kurz zuvor den belastenden Vertrag von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten unterzeichnet, der den Verlust eines großen Teils des russischen Territoriums und der Industrie zur Folge hatte. Wir erwähnen das, um den Kontext von Lenins Äußerungen zu erklären und sie im bestmöglichen Licht darzustellen.

In „Über „linke“ Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“ (5. Mai 1918, Gesammelte Werke, Band 27, S. 344) schrieb Lenin: „Zweitens fehlt es an der genügenden Festigkeit bei den Gerichten, die anstatt diejenigen, die Bestechungen annehmen, zu erschießen, sie mit einem halben Jahr Gefängnis bestrafen.”

Hier fordert Lenin, dass Leute, die Bestechungsgelder annehmen, erschossen werden.

Die Todesstrafe für die Annahme von Bestechungsgeldern kommt mir echt hart vor, vor allem weil es nicht automatisch ein aktiver konterrevolutionärer Akt ist.

Noch wichtiger ist es, zu erkennen, dass zu diesem Zeitpunkt der Russischen Revolution die Bestechung in der russischen Gesellschaft weit verbreitet war. (Die normalen Praktiken der Friedenszeit hatten sich durch den Weltkrieg, die Revolution und eine verheerende ökonomische Krise stark ausgeweitet.) Alle zu erschießen, die Bestechungsgelder angenommen hatten, würde bedeuten, eine Menge Menschen hinzurichten, von denen nicht alle aktiv konterrevolutionär oder gar bourgeois waren.

Außerdem kann man davon ausgehen, dass Lenin dachte, dass eine ähnliche Strafe auch für andere „die die Maßnahmen der Sowjetmacht durchkreuzen,” (Zitat aus demselben Abschnitt) gelten sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Sowjets den privaten Handel verboten. Aber wegen des Zusammenbruchs der Ökonomie und der kurzen Zeit seit der Machtübernahme war das staatliche Handelsnetzwerk noch sehr neu und extrem ineffizient. Eigentlich gab es es kaum. In dieser Situation betrieben viele einfache Arbeiter sowie Bauern privaten Handel, nur um zu überleben. Wir sehen also, dass Lenin, wenn auch implizit, die Erschießung einer sehr, sehr großen Zahl von Menschen befürwortet.

Vielleicht dachte Lenin, dass solche „harten” Maßnahmen tatsächlich die Bestechung unterbinden würden. Wenn ja, hat er sich nur etwas vorgemacht. Unter Bedingungen extremer Knappheit und Chaos tun Menschen alles, was sie tun müssen, um sich und ihre Familien zu ernähren, selbst wenn sie mit der Höchststrafe rechnen müssen, wenn sie erwischt werden. Das taten sie in Russland.

Hier sehen wir also ein Beispiel für Lenins Vorliebe für brutale Methoden, gepaart mit dem Glauben an deren Wirksamkeit. Seine Wahl der Methoden ist nicht nur übermäßig brutal, sondern beinhaltet auch Zwang gegen Arbeiter sowie Bauern, nicht nur gegen eine Handvoll Unterdrücker. Noch beängstigender ist, dass solche Maßnahmen dazu neigen, diejenigen, die sie anwenden, zu Feinden zu machen.

Wie ich bereits angedeutet habe, waren im obigen Beispiel die meisten derjenigen, die Bestechungsgelder angenommen oder privaten Handel betrieben haben, keine Konterrevolutionäre. Sie waren, um es mit den Worten der Bolschewiki zu sagen, höchstens „objektiv“ konterrevolutionär.

Ich würde aber sagen, dass das Erschießen von Leuten, die Bestechungsgelder angenommen oder privaten Handel betrieben haben, der sicherste Weg ist, diejenigen, die noch nicht gefasst wurden, zu „subjektiven“ Konterrevolutionären zu machen. Und genau das ist auch passiert.

Ab Sommer 1918 „brachten die Bolschewiki die Revolution aufs Land“ (wie sie es nannten) und begannen mit der Zwangsbeschlagnahmung von Getreide bei den sogenannten mittleren und reichen Bauern. Diese Maßnahme brachte Millionen von Bauern gegen das neue Sowjetregime auf, führte zu einem starken Rückgang der Anbaufläche und der Nahrungsmittelproduktion und in der Folge zu einer Hungersnot und endete in einem Blutbad auf dem Land.

Natürlich waren nicht nur die Bolschewiki dafür verantwortlich. Die Weißen Armeen waren wahrscheinlich noch brutaler als die Bolschewiki. Aber die Politik der Bolschewiki, den gesamten privaten Handel zu unterdrücken, trug einen großen Teil der Verantwortung für das Geschehene. Sie machte es auch so gut wie sicher, dass die überwiegende Mehrheit der Bauern dem bolschewistischen Regime zutiefst feindlich gegenüberstehen und dies auch bleiben würde.

(Die Agrarpolitik der Bolschewiki sowie andere von ihnen in den ersten Jahren der Revolution verfolgte Maßnahmen werden von dem grundsätzlich pro-sowjetischen russischen Dissidenten und Historiker Roy Medvedev in seinem kürzlich erschienenen Buch The October Revolution diskutiert und kritisiert.)

Eine andere Stelle aus Lenins Schriften und Reden aus dieser Zeit zeigt das Problem noch deutlicher.

In seiner Rede vor dem Moskauer Sowjet der Arbeiter, Bauern- und Rotarmistenabgeordneten am 23. April 1918 sagte Lenin:

Dieses Land, das der Lauf der Geschichte an die Spitze der Weltrevolution gebracht hat, ein Land, das verwüstet und ausgeblutet ist, befindet sich in einer extrem ernsten Lage, und wir werden untergehen, wenn wir dem Ruin, der Desorganisation und der Verzweiflung nicht mit der eisernen Diktatur der klassenbewussten Arbeiter begegnen. Wir müssen sowohl unseren Feinden als auch allen Wankelmütigen und schädlichen Elementen in unseren Reihen, die es wagen, Unordnung in unsere schwierige kreative Arbeit zum Aufbau eines neuen Lebens für die arbeitenden Menschen zu bringen, gnadenlos begegnen [Hervorhebung hinzugefügt]. [Gesammelte Werke, Band 27, S. 233.]

Hier sind zwei Punkte hervorzuheben. Erstens sollen die Bolschewiki nicht nur gegenüber ihren Feinden „gnadenlos“ sein, sondern auch gegenüber „Wankelmütigen“ und „schädlichen Elementen in unseren Reihen“. „Wankelmütige“ und „schädliche Elemente“ sind sehr weit gefasste Begriffe und umfassten unter den damaligen Umständen wahrscheinlich eine Menge Leute.

Und Lenin droht nicht nur (zumindest implizit) vielen einfachen Arbeitern und Bauern mit der Gnadenlosigkeit der Bolschewiki (wahrscheinlich mit der Hinrichtung), sondern auch den Elementen innerhalb der bolschewistischen Partei, die mit der Notwendigkeit dieser „Gnadenlosigkeit“ nicht einverstanden sind. Dies ist lediglich die allgemeine Version von Lenins Forderung, diejenigen zu erschießen, die bei der Annahme von Bestechungsgeldern und beim privaten Handel erwischt werden.

Zweitens befürwortet Lenin in dieser Passage die „eiserne Diktatur der klassenbewussten Arbeiter”. Hier ist in Lenins Vorstellung Marx‘ Konzept der Diktatur des Proletariats (eine Diktatur der gesamten oder fast gesamten Arbeiterklasse) zur Diktatur eines Teils des Proletariats geworden, nämlich der „klassenbewussten“ Arbeiter, die nach Lenins Definition die Mitglieder der bolschewistischen Partei sind.

Und die Aufgabe dieser Arbeiter besteht darin, ihre „eiserne Diktatur“ nicht nur den Klassenfeinden (Kapitalisten, Großgrundbesitzern, zaristischen Offizieren usw.) aufzuzwingen, sondern auch den Arbeitern, die nicht klassenbewusst sind, wie die Bolschewiki dieses Bewusstsein definieren. Das heißt, den Arbeitern, die nicht mit dem übereinstimmen, wofür sie stehen. Das heißt, dem Rest der Arbeiterklasse.

Genau hier liegt der theoretische Entwurf für das, was am Ende des Bürgerkriegs Anfang 1921 existieren sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bolschewiki ihre „eiserne Diktatur” über den Rest der Arbeiterklasse verhängt, angeblich im Interesse dieser Klasse. Aber diese Arbeiter waren sich nicht einig darüber, wer ihre wahren Interessen vertrat: Im März 1921 legten sie, um ihre Ablehnung der „Gnadenlosigkeit” der Bolschewiki zu zeigen, die Hauptstadt Petrograd mit einem Generalstreik lahm.

Der nächste (kurze) Abschnitt, den ich zitieren möchte, bringt Lenins Haltung zur Frage der Methoden ziemlich prägnant auf den Punkt. Sie stammt ebenfalls aus „Über „linke“ Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“.

„… vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei nicht zurückschreckte“ (S. 340.)3

Für mich fasst das ziemlich gut das Problem zusammen, das hinter all den Fragen steckt, über die wir gesprochen haben. Es fasst auch ziemlich gut zusammen, was ich als das „Ethos“ der Bolschewiki bezeichnet habe. Und es fasst zusammen, was meiner Meinung nach das logische Ergebnis einer Revolution war, die von einer Partei mit diesem „Ethos“ angeführt wurde. Denn meiner Meinung nach kann das Ergebnis, wenn man sich vornimmt, Barbarei mit barbarischen Methoden zu bekämpfen … nur Barbarei sein.

Der wichtigste Punkt, den ich zu verdeutlichen versucht habe, ist, dass es viele Aspekte im Stil und in der Kultur der bolschewistischen Partei gab, die in Richtung Staatskapitalismus wiesen. Das waren Tendenzen, die die Errichtung einer Diktatur einer selbsternannten sozialistischen Elite über die Arbeiter und Bauern „im Interesse“ dieser Klassen und „im Namen“ des Sozialismus und Kommunismus implizierten.Es ist nicht so, dass objektive Bedingungen – Armut, die Zerstörung durch Krieg und Revolution, politische Isolation – keine Rolle bei der Errichtung einer solchen Diktatur gespielt hätten. Das haben sie sicherlich. Aber was die Bolschewiki dachten und taten (und zwar sehr aggressiv), trug im Kontext dieser Bedingungen wesentlich zu diesem Ergebnis bei.Wenn zum Beispiel eine Auswirkung der objektiven Bedingungen darin besteht, die Institutionen der Kontrolle der Arbeiter über Ökonomie und Staat zu untergraben, dann hat das, was die Bolschewiki unter diesen Bedingungen gemacht haben, diese Tendenzen eher verstärkt als ihnen entgegengewirkt.Außerdem ist mir nicht klar, ob die Bolschewiki, nachdem die Diktatur der bolschewistischen Partei etabliert war, selbst wenn es erfolgreiche Arbeiterrevolutionen in Westeuropa gegeben hätte, die Bolschewiki eine echte proletarische Demokratie wiederhergestellt hätten, einschließlich der Legalisierung anderer linker Tendenzen. Es ist auch nicht offensichtlich, dass sie angesichts ihrer Vorliebe für Zentralisierung und „wissenschaftliche” Planung versucht hätten, eine echte Kontrolle der Arbeiter über die Fabriken und die Ökonomie als Ganzes einzuführen. Früher habe ich das geglaubt. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.Zusammenfassend glaube ich, dass das bolschewistische Ethos und insbesondere die Denkweise Lenins, seines Gründers und wichtigsten Anführers, von Tendenzen, Einstellungen und Vorstellungen geprägt war, die in Richtung Staatskapitalismus wiesen. Auch wenn sie nicht vollständig zum Staatskapitalismus führten, trugen sie doch sicherlich dazu bei, die Grundlage dafür zu schaffen und die Richtung zu rechtfertigen, die Stalin nach Lenins Tod einschlug.

Abschließend möchte ich noch einmal aus Lenins Schriften vom Frühjahr 1918 zitieren. (Einen Teil dieser Passage haben wir bereits angeführt.)

„Solange in Deutschland die Revolution mit ihrem „Ausbruch“ noch säumt, ist es unsere Aufgabe, den Staatskapitalismus bei den Deutschen zu erlernen, ihn uns mit allen Kräften zu eigen zu machen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Aneignung noch mehr zu beschleunigen als Peter der Große die Aneignung der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, wobei er vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei nicht zurückschreckte.“

Ob mit oder ohne die objektiven Bedingungen, für mich sieht das wie ein Rezept für Staatskapitalismus aus.

VIER — Staat und Revolution

Dieser Teil unserer Reihe über den Leninismus konzentriert sich auf Staat und Revolution. Es wurde im Sommer 1917 während der Russischen Revolution geschrieben und ist eines der wichtigsten Werke Lenins.

In vielerlei Hinsicht ist dieser Teil für mich am schwierigsten zu schreiben. Staat und Revolution war eines der ersten, wenn nicht sogar das erste Werk Lenins, das ich jemals gelesen habe. Dieses relativ kleine Buch hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf einen Teenager, der in den frühen 60er Jahren aufwuchs.

Obwohl meine Familie radikal war (damals nannte man das „progressiv“), hat mich Staat und Revolution dazu gebracht, Leninist zu werden und „wenn ich groß bin“ ein professioneller Revolutionär zu werden. Hier fand ich eine revolutionäre und demokratische Vision, für die es sich lohnte, mein Leben zu geben. Danach habe ich Staat und Revolution viele Jahre lang mindestens einmal im Jahr gelesen.

Und in vielerlei Hinsicht ist „Staat und Revolution Lenins libertärstes Werk. Hier brach Lenin entscheidend mit den reformistischen und etatistischen Vorstellungen der Zweiten (Sozialistischen) Internationale und forderte eine Rückkehr zu den viel radikaleren Ideen, die Karl Marx in seinen Schriften über die Pariser Kommune vertreten hatte. Hier entwickelte Lenin die Idee einer revolutionären Gesellschaft, die auf Sowjets (Arbeiterräten) und anderen Institutionen der direkten Herrschaft der Arbeiter basiert. Hier betonte Lenin, dass das ultimative Ziel der proletarischen Revolution das Absterben des Staates ist.

Viele Jahre lang war Staat und Revolution der Grundstein, auf dem ich meine Politik aufgebaut habe. Ich habe mich darauf bezogen, um liberale und reformistische Positionen zu widerlegen. Ich habe es als Ausgangspunkt genutzt, um meine eigenen (und die Illusionen anderer) in Bezug auf die sogenannten „sozialistischen Länder” zu bekämpfen. Und ich bin immer wieder darauf zurückgekommen, um eine revolutionäre, demokratische Konzeption des Sozialismus zu entwickeln, die im Gesamtrahmen des Leninismus (zum Beispiel über den Trotzkismus) blieb..

Es war auch das einzige Werk Lenins, in dem es mir am schwersten fiel, das zu entdecken, was ich als „staatskapitalistische Tendenzen“ bezeichnet habe. Das Buch schien so revolutionär, so staatsfeindlich, dass ich lange Zeit keine Vorboten des Stalinismus/Staatskapitalismus darin erkennen konnte. Wahrscheinlich war es vor allem das, was mich daran hinderte, die Rolle zu erkennen, die Lenin (und der Leninismus) bei der Entstehung des Stalinismus/Staatskapitalismus gespielt hatten. Denn wenn Lenins Vision von 1917 so demokratisch und staatsfeindlich war, wie sie schien, dann schien es logisch, die Ereignisse in Russland auf „objektive Bedingungen” – und auf Stalin – zurückzuführen. Das heißt, auf alles und jeden außer Lenin.

Doch um eine realistische Einschätzung des Leninismus zu bekommen, ist es wichtig, die staatskapitalistischen Tendenzen in Staat und Revolution zu erkennen. Wenn der Leninismus stark etatistisch ist, sollte das in diesem Buch offensichtlich oder zumindest erkennbar sein. Wenn nicht, dann ist der Leninismus vielleicht nicht so etatistisch, wie die Anarchisten, Antiautoritären und Libertären behaupten.

Das oft gehörte Argument vieler Anarchisten, Libertarier usw., Lenin habe die Ideen in Staat und Revolution von den Anarchisten gestohlen, trübt nur den Blick. Es akzeptiert, dass das Buch ein wirklich libertäres Dokument ist, und vermeidet dann eine ernsthafte Analyse, wie Lenin, der Erz-Etatistische, darauf kommen konnte, indem es behauptet, dass er das gar nicht getan habe.

Eine sinnvolle Analyse würde zumindest versuchen, die unterschiedlichen Grade der Kontinuität und Diskontinuität zwischen Staat und Revolution und Lenins anderen Werken aufzuzeigen. Sie würde auch die Umstände analysieren, die Lenin dazu veranlasst haben, ein solches Werk zu schreiben, und vor allem versuchen, die in dem Buch vorhandenen staatskapitalistischen Tendenzen zu beleuchten, so bescheiden oder versteckt sie auch sein mögen.

Für sich genommen erscheint mir das Argument, Lenin habe einen Großteil von Staat und Revolution von Anarchisten übernommen, nicht plausibel. Ich will nicht ausschließen, dass Lenin in dieser Zeit von anarchistischen Ideen beeinflusst worden sein könnte (er begann sicherlich, die Hintergedanken hinter den Angriffen der Reformisten auf den Anarchismus zu erkennen). Aber ich glaube nicht, dass uns das viel sagt. Leider hatte Lenin kaum etwas als Verachtung für den Anarchismus, die anarchistische Bewegung und das anarchistische Denken übrig: Er entlarvte es im Allgemeinen als eine Form der kleinbourgeoisen Ideologie, unabhängig davon, was er von einzelnen anarchistischen Militanten gehalten haben mag.

Die Entstehung von Staat und Revolution lässt sich eher durch zwei Faktoren erklären:

1. Der Zusammenbruch der Zweiten (Sozialistischen) Internationale zu Beginn des Ersten Weltkriegs veranlasste Lenin, das, was damals als „orthodoxer Marxismus“ galt, sehr kritisch zu betrachten. In diesem Umdenken, zu dem auch die Lektüre einiger Werke des philosophischen Vorläufers von Marx, G. W. E. Hegel, gehörte, brach Lenin mit dem mechanistischen Stufenmodell der Sozialdemokratie.

Er begann, Russland als Teil eines weltweiten kapitalistischen Systems zu sehen, das sich in einer schweren globalen Krise befand. Dies öffnete ihn für die Idee, dass die Russische Revolution nicht auf eine bourgeoises demokratische Phase beschränkt sein müsse, bis eine oder mehrere sozialistische Revolutionen in Europa gesiegt hätten, und brachte ihn dazu, eine von Arbeitern geführte Revolution in Russland als ersten Kampf einer internationalen sozialistischen Revolution zu betrachten.

2. Genauso wichtig war, dass die Form dieser Revolution in Russland und der daraus hervorgehenden revolutionären Regierung durch den Verlauf des Klassenkampfs selbst vorgegeben war. Als Lenin Anfang April 1917 in Russland ankam, hatten die Arbeiter sowie die Soldaten nicht nur (spontan) den Zaren gestürzt. Sie hatten auch demokratische Masseninstitutionen (Sowjets, Fabrik-Komitees usw.) eingerichtet und verwalteten die russische Gesellschaft zu einem großen Teil über diese Institutionen. Zwischen seinen theoretischen Überlegungen zu grundlegenden Fragen des Marxismus und der beeindruckenden Realität der Errungenschaften der russischen Arbeiter musste Lenin (sich) nichts von Anarchisten ausleihen oder stehlen, um Staat und Revolution zu schreiben.

Meiner Meinung nach ist Staat und Revolution also das organische Ergebnis der Entwicklung von Lenins Denken. Dass es so libertär ist, ist eine Reflexion des libertären Impulses im Marxismus und des noch größeren libertären Impulses der Massen von Arbeitern, die versuchen, eine soziale Revolution durchzuführen.

Trotz alledem gibt es in Staat und Revolution staatskapitalistische Tendenzen. Und wer den Leninismus aus libertärer Sicht bewerten will, sollte in der Lage sein, diese aufzudecken und zu analysieren.

Ein Grund, warum Staat und Revolution so libertär wirkt, ist, dass es sagt, das Hauptziel der Marxisten sei die Schaffung einer staatenlosen und natürlich klassenlosen Gesellschaft. Lenin hat betont, das Ziel der sozialistischen Revolution sei die Errichtung des Kommunismus, einer Gesellschaft ohne soziale Klassen und ohne jegliche Staatsform. Und das sollte nicht erst in ferner Zukunft passieren. Aufgrund der Weltkrise des Imperialismus war dieses Ziel unmittelbar und praktisch.

Für diejenigen, die Marx und Engels gelesen haben, mag dies offensichtlich marxistisch erscheinen. Aber zu dieser Zeit wurde Lenins Behauptung als ziemlich radikal angesehen, da die Sozialistische Internationale solche Ideen (die bestenfalls für Maifeiertagsreden reserviert waren) als Teil der „utopischen“ und unrealistischen Träume von Marx und Engels in ihren jüngeren Jahren stillschweigend ad acta gelegt hatte. Das eigentliche Ziel der Sozialdemokratie war zunehmend ein demokratischer kapitalistischer Wohlfahrtsstaat. Dass Lenin die radikale und scheinbar antietatistische (antistaatliche) Vision von Marx und Engels wiederbelebte und sogar betonte (und darauf aufmerksam machte, dass diese bereits 1871 in Marx‘ Schriften über die Pariser Kommune zum Ausdruck kam), war fast schon ketzerisch.

Auch wenn der Ruf nach einer Revolution zur Errichtung einer klassenlosen und staatenlosen Gesellschaft sehr antietatistisch klingt, zeigt eine sorgfältige Lektüre von Staat und Revolution, dass das Buch bei weitem nicht so antietatistisch ist, wie es scheint. Tatsächlich ist es ziemlich pro-staatlich, aber auf eine versteckte Art und Weise.

Der Grund für diesen Widerspruch ist die Idee vom Absterben des Staates. In der marxistischen Theorie wird der Staat nach einer erfolgreichen sozialistischen Revolution nicht abgeschafft. Er stirbt ab: Er verschwindet nach und nach. Das ergibt sich angeblich aus der Natur der Regierungsform, die durch einen erfolgreichen proletarischen Aufstand entsteht. Das Proletariat erhebt sich, zerschlägt den alten bourgeoisen Staat und baut einen neuen Staat auf, der auf Arbeiterräten und anderen demokratischen Institutionen der Arbeiter sowie anderer unterdrückter Klassen basiert. Die Aufgabe dieses Staates besteht in erster Linie darin, konterrevolutionäre Versuche zu vereiteln, die Zerstörung des bourgeoisen Staates zu vollenden, die Unterdrückung der Kapitalistenklasse und anderer unterdrückerischer Klassen zu beenden und die Massen der Arbeiter sowie anderer unterdrückter Menschen in die tägliche Verwaltung der Gesellschaft einzubeziehen. In dem Maße, wie diese Aufgaben erfüllt werden und die relative Knappheit, die materielle Grundlage der Klassengesellschaft und des Staates, überwunden wird, besteht keine Notwendigkeit mehr für einen solchen Staat, und er wird allmählich verkümmern.

Dies ergibt sich aus der Natur des Staates selbst. In Klassengesellschaften wie dem antiken Sklavensystem, dem Feudalismus, dem Kapitalismus usw. ist der Staat ein Instrument einer winzigen Minderheit, um ihre Herrschaft über die ausgebeutete Mehrheit aufrechtzuerhalten. Angesichts der Ungleichheit in der Größe der unterdrückenden und unterdrückten Klassen erfordert diese Aufgabe einen großen und ausgeklügelten Apparat, der letztlich auf Zwang basiert und aus „bewaffneten Truppen, Gefängnissen usw.“ besteht.

Der Staat nach einer erfolgreichen proletarischen Revolution hingegen ist kein Instrument einer winzigen Minderheit über die große Mehrheit, sondern das Gegenteil. Er ist eine Waffe der großen Mehrheit, um die ehemals herrschende und ausbeutende Minderheit zu unterdrücken. Sobald seine Aufgaben erfüllt sind, hat er also keinen Zweck mehr und verschwindet allmählich.

Das klingt zwar logisch, enthält aber tatsächlich eine Reihe von Irrtümern. Um diese zu erkennen, lohnt es sich, darüber nachzudenken, was diese Vorstellung von der Natur des revolutionären Staates und seinem letztendlichen Absterben für die Aufgaben der Revolutionäre bedeutet. Mit anderen Worten: Wie würden Revolutionäre, die an dieser Theorie des Staates und seiner letztendlichen Abschaffung festhalten, darüber denken, was sie während und nach einer Revolution tun sollten?

Die praktische Anwendung dieser Theorie besteht meiner Meinung nach darin, dass die Hauptaufgabe der Revolutionäre nach einer erfolgreichen proletarischen Revolution nicht darin besteht, den Staat abzuschaffen, sondern einen neuen aufzubauen. Um die Bourgeoisie und die anderen Ausbeuter möglichst effizient zu unterdrücken, sollte dieser Staat außerdem so stark und allumfassend wie möglich sein. Da dieser neue „proletarische” Staat „unweigerlich” verkümmern wird, sobald die Ausbeuter und Konterrevolutionäre unterdrückt sind und die Arbeiter in die Verwaltung der Gesellschaft einbezogen werden, besteht schließlich keine Notwendigkeit, die Arbeiter, die Revolution oder die Revolutionäre selbst vor „ihrem eigenen” Staat zu schützen.

Das ist der Kern des oben erwähnten Paradoxons. Gerade die Revolutionäre, die behaupten, sie seien gegen den Staat und für die Abschaffung des Staates, die sagen, sie seien die einzigen, die den Staat abschaffen könnten, usw., sehen es als ihre zentrale Aufgabe nach einer Revolution an, einen Staat aufzubauen, der solider, zentralistischer und umfassender ist als der alte Staat.

Das ist meiner Meinung nach das Hauptproblem von Staat und Revolution und eigentlich der ganzen marxistischen Staatstheorie. In dieser Theorie passiert das Hauptziel (oder eines davon), nämlich die Abschaffung des Staates, angeblich von selbst; dafür sorgt der „historische Prozess“. Die Menschen müssen sich darüber keine Gedanken machen: Sie müssen sich darum kümmern, einen neuen Staat aufzubauen.

Was aber, wenn der historische Prozess nicht so verläuft, wie Marx, Engels und Lenin es sich vorgestellt haben? Was, wenn der revolutionäre Staat nicht verkümmert, sondern bestehen bleibt? Was, wenn einige Individuen oder Gruppen von Individuen in mächtigen Positionen in diesem Staat beschließen, dass sie nicht wollen, dass der Staat und ihre Macht verkümmern?

Das Ergebnis wäre selbst unter optimalen Bedingungen wahrscheinlich eine „revolutionäre“ Gesellschaft, die von einem großen, mächtigen und allgegenwärtigen Staatsapparat regiert wird, was mit der absurden Vorstellung gerechtfertigt wird, dass der Zweck eines solchen Staates darin besteht, den Staat abzuschaffen. Wir nennen diesen Staat Kapitalismus.

Auf einer Ebene lässt sich der grundlegende Irrtum in der Staatstheorie, die in Staat und Revolution dargelegt wird, mit dem gängigen Satz „Auf dem Papier sieht das gut aus, aber …“ beschreiben. Mit anderen Worten: Es handelt sich um Wunschdenken, das vom Besten ausgeht.

Auf einer etwas tieferen Ebene besteht das Problem in der Überzeugung, dass die Theorie die gesamte Realität des Staates, sein Wesen, seinen Zweck und seine historische Richtung erfasst hat. Und da die Theorie behauptet, dass die „Logik“ dieses Wesens, dieses Zwecks und dieser historischen Richtung darin besteht, dass der Staat schließlich durch einen „dialektischen“ (scheinbar widersprüchlichen) Prozess beseitigt, „negiert“ und „überwunden“ wird, wird dies unweigerlich geschehen. Der Trugschluss besteht mit anderen Worten darin, dass die Theorie die historische Entwicklung auf eine (dialektische) Logik reduziert hat, die sie für unvermeidlich erklärt, auch wenn dies möglicherweise nicht der Fall ist.

Diejenigen, die hier eine Kritik am Hegelschen Denken erkennen, haben Recht. Meiner Ansicht nach ist die marxistische Theorie vom Staat und seinem letztendlichen Absterben im Wesentlichen Hegelsche. Obwohl Marx und Engels glaubten, sich entscheidend von ihrem philosophischen Mentor gelöst zu haben, ist die marxistische Weltanschauung – von ihrer Geschichtsauffassung über das Kapital bis hin zu ihrer zugrunde liegenden philosophischen Sichtweise – grundlegend Hegelsche. Und obwohl Marx und Engels ihre Sichtweise im Gegensatz zu Hegels Idealismus als Materialismus bezeichneten, blieb ihre Weltanschauung meiner Meinung nach genauso idealistisch wie die von Hegel, wenn auch unbewusst.

Die sogenannten „Gesetze der Geschichte“, wie sie im „historischen Materialismus“ zum Ausdruck kommen, sind eine Art Logik oder Denkweise. Und es ist diese Logik, die letztlich die Geschichte der Menschheit bestimmt. Das ist Idealismus.

Marx und Engels, oder vielleicht nur Engels, haben gelegentlich beschrieben, was sie getan hatten, als würden sie Hegel auf den Kopf stellen oder einen auf den Kopf gestellten Hegel auf seine Füße stellen. Aber Hegel auf den Kopf gestellt oder aufrecht stehend ist immer noch Hegel.

Lenins (und Marx‘ und Engels‘) Staatstheorie basiert, um es noch mal zu sagen, auf der Vorstellung, dass die (dialektische) Logik des Staates (und der Geschichte) garantiert, dass der Staat in einer revolutionären Gesellschaft verschwinden wird.

Aber was, wenn diese dialektische Logik zu ordentlich ist? Was, wenn diese Sichtweise auf den Staat (und die Geschichte, die menschliche Gesellschaft usw.) andere Aspekte des Staates (und der Geschichte, der menschlichen Gesellschaft usw.) ignoriert oder aus der Existenz definiert, die sich nicht auf Logik (selbst dialektische Logik) reduzieren lassen? Wenn die Theorie, so brillant sie auch sein mag, nicht zu 100 % richtig ist (und keine Theorie kann jemals zu 100 % richtig sein), könnte dies den Weg für marxistische Revolutionäre ebnen, die fest an die marxistische Theorie glauben und in einer extrem disziplinierten und gut organisierten Partei organisiert sind, um eine „Diktatur des Proletariats” zu schaffen, die möglicherweise nicht wie vorgesehen verkümmert.

Ich denke, dass dies zumindest teilweise nach der Oktoberrevolution passiert ist. Die Bolschewiki wollten einen starken Staatsapparat aufbauen, der auf den Sowjets, Gewerkschaften/Syndikaten und Fabrikkomitees basierte. In der Überzeugung, dass es umso einfacher sein würde, den alten Staat und die herrschenden Klassen zu zerschlagen, die konterrevolutionären Versuche zu vereiteln und die Arbeiter in die Verwaltung der Gesellschaft einzubeziehen, je stärker, effizienter und zentralisierter dieser Apparat wäre, und in der Überzeugung, dass der Staat nach Erfüllung dieser Aufgaben und nach erfolgreichen Revolutionen im Westen verschwinden würde, dachten die Bolschewiki nicht an das andere, angeblich höhere Ziel, den Staat abzuschaffen. Obwohl sie die Abschaffung des Staates als ihr Ziel verkündeten, war ihr tatsächliches Ziel der Aufbau eines neuen, effizienteren und zentralistischeren Staates. Das ist ihnen gelungen.

Der Punkt ist nicht, dass dieArbeiter sowie andere unterdrückte Menschen während und nach einer Revolution keine starken Organisationen aufbauen sollten, um die Ökonomie und Gesellschaft zu verwalten, ihre Errungenschaften zu verteidigen und die Ausbeuter zu unterdrücken usw. Aber sie müssen auch Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass ein neuer Staat entsteht und sie unterdrückt. Das heißt, sie müssen konkret herausfinden, wie sie eine staatenlose Gesellschaft aufbauen wollen.

Die marxistische Theorie der Diktatur des Proletariats, wie sie in Staat und Revolution dargelegt ist, „bewaffnet“ die revolutionäre Partei mit der Notwendigkeit, einen neuen, revolutionären Staat aufzubauen, aber sie „entwaffnet“ die Arbeiter hinsichtlich der Notwendigkeit, gegen die Bildung eines neuen Staates zu kämpfen.

An dieser Stelle wird jemand (falls er das nicht schon getan hat) einwenden, dass Lenin unter Berufung auf Marx davon spricht, dass die Diktatur des Proletariats ein Staat der bewaffneten Arbeiter sei, das Proletariat als herrschende Klasse organisiert, ein Staat, der bereits zu verkümmern beginnt, ein Staat, der bereits dabei ist, zu einem Nicht-Staat zu werden, usw.

Ja, wird jemand anderes sagen, und er hat auch detaillierte Diskussionen über verschiedene Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Kontrolle der Arbeiter über ihren Staat aufgenommen, zum Beispiel, dass die Sowjets legislative und exekutive Befugnisse kombinieren, dass die Arbeiterdelegierten sofort abberufen werden können, dass alle Staatsbeamten nicht mehr als das durchschnittliche Arbeitergehalt erhalten usw.

Das ist sicher richtig, auch wenn man darüber streiten kann, wie detailliert diese Diskussionen sind und wie effektiv die vorgeschlagenen Maßnahmen wären (abgesehen von der Frage, ob die Bolschewiki jemals ernsthaft versucht haben, sie umzusetzen).

Das Problem ist aber nicht, dass Lenin sich keine Gedanken darüber gemacht hat, wie die Arbeiter den neuen Staatsapparat kontrollieren könnten, sondern dass seine Vorstellung von diesem Apparat bourgeois war. Im letzten Teil dieser Serie habe ich Lenins Begeisterung für bourgeoise Technologie, Zentralisierung, technokratische Planung usw. angesprochen. Lenin schien davon auszugehen, dass die kapitalistische Industrie, Verwaltungstechniken usw. klassenneutral seien, d. h., dass sie nur deshalb bourgeois seien, weil sie von der Bourgeoisie kontrolliert und zur Förderung ihrer Interessen genutzt würden.

Er ging daher davon aus, dass die Arbeiter nach einer Revolution diese Industrie, Technologie usw. mehr oder weniger unverändert übernehmen und für sich selbst nutzen könnten. Seiner Meinung nach mussten die Arbeiter nur in der Lage sein, sie zu kontrollieren (obwohl er 1918 meiner Meinung nach der Ansicht zu sein schien, dass die Kontrolle durch die bolschewistische Partei ausreichte, um die Kontrolle durch die Arbeiter zu gewährleisten; 1922–23 schien er seine Meinung geändert zu haben, aber zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät).

Er dachte nicht daran, dass die kapitalistische Industrie, Technologie, Verwaltungstechniken usw. in ihrer Struktur durch und durch bourgeois sind. Der gleiche Fehler zeigt sich in Staat und Revolution.

Um genau zu sein: Wie wir wissen, war Lenin sehr beeindruckt vom deutschen Postwesen und glaubte, dass dessen Klassencharakter nicht in seiner Organisationsform lag, sondern in der Tatsache, dass es einem Junker-Staat unterstellt war. Diese Idee taucht in Staat und Revolution auf. Es lohnt sich, eine längere Passage zu zitieren:

„Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischer Wirtschaft. Das ist durchaus richtig. Gegenwärtig ist die Post ein Betrieb, der nach dem Typ des staatskapitalistischen Monopols organisiert ist. Der Imperialismus verwandelt nach und nach alle Trusts in Organisationen ähnlicher Art. Über den „einfachen“ Werktätigen, die schuften und darben, steht hier die gleiche bürgerliche Bürokratie. Doch der Mechanismus der gesellschaftlichen Wirtschaftsführung ist hier bereits fertig vorhanden. Man stürze die Kapitalisten, man breche mit der eisernen Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zerschlage die bürokratische Maschinerie des modernen Staates – und wir haben einen von dem „Schmarotzer“ befreiten technisch hochentwickelten Mechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst in Gang bringen können, indem sie Techniker, Aufseher, Buchhalter anstellen und ihrer aller Arbeit, wie die Arbeit aller „Staats“beamten überhaupt, mit dem Arbeiterlohn bezahlen. Das ist eine konkrete, praktische Aufgabe, die in bezug auf alle Trusts sofort ausführbar ist, wobei die Werktätigen von der Ausbeutung befreit…. Unser nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren … unter der Kontrolle und Leitung des bewaffneten Proletariats – Das ist der Staat, das ist die ökonomische Grundlage des Staates, wie wir sie brauchen.“ (Gesammelte Werke, Band 25, S. 426–7, Hervorhebung im Original.)

Wenn ich das vor dem Hintergrund all dessen lese, was in den staatskapitalistischen Ländern passiert ist (und Lenin nicht mehr den Vorteil des Zweifels gebe, wie ich es früher getan habe), finde ich diese Passage echt beängstigend. Lenin wollte die ganze Gesellschaft nach dem Vorbild des deutschen Postwesens organisieren, mit bourgeoisen Technikern, Vorarbeitern usw., in der Illusion, dass diese Struktur von den Arbeitern effektiv kontrolliert werden könnte. Selbst wenn alle von Lenin vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt würden, würde dieser Apparat letztendlich die Arbeiter dominieren und nicht umgekehrt.

Das liegt daran, dass der Apparat selbst, die Art und Weise, wie er organisiert ist, seine Struktur, seine Funktionsweise usw. bourgeois sind (das deutsche Postsystem war wahrscheinlich teilweise feudal). Und während er funktioniert, reproduziert er die bourgeoisen sozialen Beziehungen in seinem Inneren; das ist die eigentliche Voraussetzung für sein Funktionieren. Selbst wenn man Lenin die besten Absichten zugesteht, sieht eine ganze Gesellschaft, die nach den von ihm beschriebenen Mustern aufgebaut ist, eher wie ein bürokratischer Albtraum aus als wie eine Gesellschaft, die auf die Abschaffung des Staates zusteuert.

Leider war dies das Modell, nach dem Lenin und die Bolschewiki im Frühjahr 1918 und danach die russische Gesellschaft neu organisierten. Das erklärt, warum sie die Fabrikkomitees den Gewerkschaften/Syndikaten unterstellten, warum sie eine Ein-Personen-Führung einführten, warum sie eine stehende Armee mit traditioneller Disziplin aufbauten, die von zaristischen Generälen geführt wurde, usw. usw. Man kann das nicht alles auf die Wirtschaftskrise, die Konterrevolution, die Revolte der Linken Sozialrevolutionäre usw. schieben. Auch wenn die konkreten Maßnahmen vielleicht durch diese objektiven Bedingungen bestimmt waren, ist die allgemeine Tendenz, die allgemeine Ausrichtung in Staat und Revolution zu finden, das geschrieben wurde, als Lenin noch optimistisch in Bezug auf die Russische Revolution und die internationale Revolution war.

Ein paar weitere Passagen aus Staat und Revolution helfen dabei, Lenins Vision vom revolutionären Staat/der revolutionären Gesellschaft zu verdeutlichen.

„Bis die „höhere“ Phase des Kommunismus eingetreten sein wird, fordern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens der Gesellschaft und seitens des Staates über das Maß der Arbeit und das Maß der Konsumtion …“ (Seite 470, Hervorhebung im Original).

Laut Lenin ist die „dringende, aktuelle Frage der heutigen Politik“: „die Frage der Expropriation der Kapitalisten, der Umwandlung aller Bürger in Arbeiter und Angestellte eines großen „Syndikats“, nämlich des ganzen Staates …“ (Seite 470).

Ein paar Seiten später sagt Lenin voraus: „Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein. …“ (Seite 474).

Natürlich betont Lenin immer, dass die „Kontrolle“ „darf nicht von einem Beamtenstaat durchgeführt werden, sondern von dem Staat der bewaffneten Arbeiter (…)“ (Seite 470), dass die Arbeit des „Syndikats“ vollständig von einem „wahrhaft demokratischen Staat, den Staat der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten (…)“ (Seite 470) untergeordnet sein muss, usw., usw.

Aber der zuvor gemachte Punkt über das deutsche Postsystem trifft auch hier zu. Wenn die Institutionen der revolutionären Gesellschaft, wie zum Beispiel die Ökonomie, im Wesentlichen nach bourgeoisen Prinzipien organisiert sind (eine riesige Fabrik, ein riesiges Büro, mit Vorarbeitern, Buchhaltern und bourgeois Technikern), dann bleibt diese Gesellschaft bourgeois. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die bourgeoisen sozialen Beziehungen, die im Herzen der Gesellschaft ständig reproduziert und verstärkt werden, die Kontrolle der „bewaffneten Arbeiter“ und der „Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ untergraben.

Im besten Fall ist die Kontrolle der Arbeiter, von der Lenin spricht, völlig außerhalb des Apparats angesiedelt. Aber wenn die Arbeiter weiterhin in einem bourgeoisen Umfeld, in einer bourgeoisen Struktur leben und, was noch wichtiger ist, arbeiten, werden ihre eigene Tätigkeit und ihr Bewusstsein wieder bourgeois werden. Wahre soziale Befreiung kann zwar nicht auf einmal erreicht werden, aber sie kann auch nicht in einzelne Bereiche aufgeteilt werden.

Wenn die Arbeiter die postrevolutionäre Gesellschaft kontrollieren sollen, müssen sie sie auf allen Ebenen kontrollieren, vor allem auf den unmittelbaren Ebenen ihres eigenen Lebens. Lenin scheint zu glauben, dass die Arbeiter unter im Wesentlichen bourgeoisen Bedingungen weiterarbeiten können, während sie irgendwie die Kontrolle über diesen bourgeoisen Apparat ausüben. Das ist bestenfalls Wunschdenken.

Obwohl ich denke, dass der theoretische Punkt klar ist, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, darauf hinzuweisen, welche Vision diese Passagen suggerieren. Obwohl Lenin in demokratischen Begriffen spricht, ist seine Vorstellung sehr hierarchisch und sehr reglementiert. Es gibt praktisch keinen Raum für individuelle Unterschiede und Kreativität, geschweige denn für Leute, die einfach nur herumalbern. Da die gesamte Gesellschaft als eine große Fabrik und ein großes Büro organisiert ist, wird Befreiung als diszipliniertes Mitglied einer industriellen Armee definiert.

Das passt zu der Begeisterung für ökonomisches Wachstum und Modernisierung, die ich in unserem letzten Beitrag als zentral für das bolschewistische Ethos beschrieben habe. Es zeigt auch direkt auf Stalins Engagement/Verpflictung für die Industrialisierung „mit allen notwendigen Mitteln“. Es ist noch nicht so unmenschlich wie bei Stalin, aber es bringt die Entwicklung definitiv in diese Richtung.

Das bringt mich zum nächsten staats-kapitalistischen Aspekt von Staat und Revolution, den ich hier ansprechen möchte. Es geht darum, dass Lenin zwar über Arbeiterkontrolle, den Kampf für Demokratie, das Proletariat als herrschende Klasse, die Vereinigung von Legislative und Exekutive in einzelnen Regierungsorganen usw. redet, aber nirgendwo in seinem Werk wird angedeutet, dass die Arbeiter „politische“ Entscheidungen diskutieren, beschließen und umsetzen würden. Wenn überhaupt, scheint Lenin zu denken, dass die Fragen, mit denen die Arbeiter nach der Revolution konfrontiert sein werden, überwiegend administrativer Natur sein werden.

„Rechnungsführung und Kontrolle – das ist das wichtigste, was zum „Ingangsetzen“, zum richtigen Funktionieren der kommunistischen Gesellschaft in ihrer ersten Phase erforderlich ist.“ (Seite 473.)

„Wenn die Mehrheit des Volkes anfangen wird, selbständig allerorts eine solche Rechnungsführung, eine solche Kontrolle über die Kapitalisten (die nunmehr Angestellte geworden sind) und über die Herren Intellektuellen, die kapitalistische Allüren beibehalten haben, auszuüben, dann wird diese Kontrolle eine wirklich universelle, allgemeine, eine wirkliche Volkskontrolle werden (…)“ (Seiten 473–4.)

„Von dem Zeitpunkt an, da alle Mitglieder der Gesellschaft oder wenigstens ihr übergroße Mehrheit selbst gelernt haben, den Staat zu regieren, selbst die Staatsregierung in ihre Hände genommen haben, die Kontrolle „in Gang gebracht“ haben über die verschwindend kleine Minderheit der Kapitalisten, über die Herrchen, die die kapitalistischen Allüren gern bewahren möchten, über die Arbeiter, die durch den Kapitalismus tief demoralisiert worden sind – von diesem Zeitpunkt an beginnt die Notwendigkeit jeglichen Regierens überhaupt zu schwinden.“ (Seite 474, Hervorhebung im Original.)

In diesem langen Abschnitt und in Staat und Revolution insgesamt wird nirgends erwähnt, dass die Masse der Arbeiter „politische“ Entscheidungen treffen muss. Die Aufgaben der Arbeiter bestehen offenbar vor allem darin, die ehemaligen Kapitalisten, den Adel usw. zu unterdrücken und/oder zu „kontrollieren“ und „Rechnungsführung“. Das sind im Grunde administrative Aufgaben. Irgendwie fehlen politische Entscheidungen, politische Diskussionen und Debatten. Lenin scheint davon auszugehen, dass mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats politische Diskussionen – politische Debatten, politische Konflikte, Politik überhaupt – überflüssig werden. (Entweder das, oder politische Entscheidungen sind ausschließlich der revolutionären Partei, den wirklich klassenbewussten Arbeitern, vorbehalten.)

Wie bei vielem in Staat und Revolution ist es nicht offensichtlich, dass Lenins Konzept undemokratisch ist. Es sieht demokratisch aus: Er redet von Arbeiterkontrolle, von Arbeitern, die den Staat verwalten, von einem Staat der bewaffneten Arbeiter usw., aber das Wesentliche, der Inhalt – dass Arbeiter direkt und unmittelbar die Gesellschaft führen, dass Arbeiter, nicht bourgeoise Fachleute und politische Anführer, die politischen und ökonomischen Entscheidungen treffen – fehlt einfach.

Dies hilft, eines der herausragenden Merkmale von Staat und Revolution zu erklären, in diesem Fall eine Auslassung. In diesem Werk wird die revolutionäre Partei nicht diskutiert, geschweige denn ein Mehrparteiensystem. Ich halte dies für sehr bedeutsam.

Schließlich verbrachte Lenin den größten Teil seines Erwachsenenlebens damit, eine revolutionäre Partei aufzubauen oder zu versuchen, eine solche aufzubauen. Der Aufbau einer solchen Partei war die zentrale strategische Aufgabe der Revolutionäre, abgesehen von der Durchführung einer erfolgreichen Arbeiterrevolution. Tatsächlich war die Existenz einer solchen Partei für Lenin die notwendige Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Revolution.

Außerdem ist es, wie wir uns erinnern werden, die revolutionäre Partei, die die Quelle und Garantin des sozialistischen Bewusstseins ist. Ohne die Partei, so schrieb Lenin in Was tun?, kann die Arbeiterklasse nur ein gewerkschaftliches/syndikalistisches, reformistisches Bewusstsein erreichen. Dass Lenin in einem so zentralen Werk wie Staat und Revolution keine Diskussion über die revolutionäre Partei führt, hat eine Bedeutung.

Dafür gibt es unter anderem zwei plausible Erklärungen. Erstens war Lenin der Meinung, dass die revolutionäre Partei weiter bestehen und die Arbeiter anführen würde. Tatsächlich würde ihre Autorität aufgrund des Erfolgs der Revolution usw. unbestritten sein. Zweitens war Lenin der Meinung, dass die Partei nicht mehr gebraucht würde und sich auflösen würde.

Ich persönlich halte die erste Erklärung für die wahrscheinlichere. Angesichts Lenins gesamter Vorstellung von Bewusstsein und Führung glaube ich nicht, dass er sich die Diktatur des Proletariats ohne die „führende Rolle“ der revolutionären Partei vorstellen konnte.

Aber in gewisser Weise ist es eigentlich egal, welche Erklärung plausibler ist, da beide den zuvor genannten Punkt implizieren: Nach Lenins Vorstellung treffen die Masse der Arbeiter keine politischen Entscheidungen, entweder weil diese der Partei vorbehalten sind (die Arbeiter können die Entscheidungen der Partei in den Sowjets „diskutieren” und genehmigen) oder weil sie nicht mehr getroffen werden müssen.

Es ist verlockend, diesen Punkt zu vertiefen und zu versuchen, ihn zu beweisen, anstatt ihn nur anzudeuten. Aber ich glaube nicht, dass er direkt bewiesen werden kann. Diejenigen, die der Meinung sind, dass Lenin an eine echte Arbeiterdemokratie glaubte, in der dieArbeiter die politischen und ökonomischen Entscheidungen der Gesellschaft diskutieren und umsetzen, werden Staat und Revolution in diesem Licht lesen. Nach vielen Lektüren des Buches und vielen Überlegungen glaube ich nicht, dass Lenin an das glaubte, was wir als Arbeiterdemokratie bezeichnen würden. Die direkte Kontrolle der Arbeiter über die Fabriken und die Arbeiterdemokratie sind für Lenin Sprungbretter, Teil einer Übergangsphase, hin zu einer sehr abstrakten „höheren Demokratie“, die in Wirklichkeit eine sehr zentralisierte, hierarchische, bürokratische, reglementierte „Diktatur des Proletariats“ ist.

Dieser Punkt lässt sich vielleicht besser umgekehrt formulieren. Lenin scheint nicht zu erkennen, dass die sozialistische Revolution in ihrem Kern eine Veränderung der sozialen Beziehungen, eine Veränderung der Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen, beinhalten muss. Diese Veränderung muss von Anfang an beginnen; sie kann nicht auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft, etwa die sogenannte „höhere Phase” des Kommunismus, verschoben werden.

Im Kapitalismus stehen die Menschen im Großen und Ganzen in einem kompetitiven, entfremdeten Verhältnis zueinander. Natürlich gibt es auch Zusammenarbeit, aber sie ist in der Regel der kompetitiven, hierarchischen Struktur und Ethik des Kapitalismus untergeordnet. Der Sozialismus ist eine Gesellschaft, in der Zusammenarbeit – Menschen, die sich gegenseitig helfen, versuchen, zusammenzuarbeiten und zusammenzuleben – vorherrschend ist. Die Menschen konkurrieren zwar immer noch miteinander, aber dieser Wettbewerb ist in erster Linie konstruktiv und bleibt im Rahmen der Zusammenarbeit der Menschen.

Während einer Revolution müssen die neuen, kooperativen sozialen Beziehungen unter den Arbeitern und unterdrückten Klassen sofort entstehen. Die Arbeiter müssen lernen, wie sie auf diese neue Art miteinander umgehen sollen. Sie lernen das, indem sie ihre Arbeitssituation neu organisieren und die Gesellschaft auf allen Ebenen direkt verwalten. Sie müssen lernen, wie sie alle ihre Angelegenheiten durch Zusammenarbeit regeln können. Und sie (wir) können das nur lernen, indem sie es direkt tun.

Diese Dimension der sozialistischen Revolution scheint Lenin völlig entgangen zu sein. Die sozialistische Revolution ist in seiner Vorstellung weitgehend eine Veränderung der Form. Aber ein Großteil des Inhalts der alten Gesellschaft – bourgeoise Technologie, bourgeoise Verwaltungstechniken, hierarchische Strukturen, Fabrikdisziplin und, wie ich meinen würde, bourgeoise soziale Beziehungen – bleibt bestehen.

Tatsächlich fehlt in Staat und Revolution die ganze menschliche Dimension. Klar, Lenin schreibt über Theorie, und Theorie ist abstrakt. Aber irgendwie ist seine Theorie über das, was eine der tiefgreifendsten Veränderungen der menschlichen Gesellschaft, der menschlichen sozialen Beziehungen und der menschlichen Persönlichkeit sein sollte, beunruhigend flach und unmenschlich. Manchmal scheint Lenin begeistert zu sein, aber seine Vision ist so abstrakt, dass sie mir zumindest jetzt allesamt hohl vorkommt.

Ich vermute, dass diese Flachheit eine viel tiefere Reflexion in seinem Denken und in einem Großteil der marxistischen Theorie im Allgemeinen darstellt. Irgendwie sind Menschen, konkrete menschliche Wesen, nicht ganz real. Die wahre Realität sind die sozialen und historischen Kategorien, sozialen Klassen, Staaten, Kräfte und Produktionsverhältnisse, Produktionsweisen.

Diese Kategorien mögen für die Analyse der Geschichte und der menschlichen Gesellschaft nützlich sein oder auch nicht. Aber sie sind nicht selbst diese Geschichte, diese Gesellschaft, diese menschliche Realität. Menschen (und die Menschheitsgeschichte) lassen sich nicht auf rein logische Kategorien reduzieren. Sie sind komplizierter als das. Das macht sie interessant, einzigartig, liebenswert, hassenswert usw. Und das macht Menschen und menschliche Gesellschaften letztlich unvorhersehbar. Ohne diese Unvorhersehbarkeit, ohne die besondere Dimension der Menschen, die sich nicht auf Kategorien, auf Abstraktionen reduzieren lässt, gibt es kein Leben.

Der grundlegende Irrtum von Staat und Revolution, einem Großteil des Marxismus und einem Großteil dessen, was als Soziologie und Sozialtheorie gilt, besteht also darin, dass er sich selbst zu ernst nimmt. Er glaubt, dass die Abstraktionen, die Kategorien, die Theorien die wahre Realität sind und dass das Konkrete, das Nicht-Reduzierbare, eine Art Epiphänomen ist, etwas Derivatives und nicht ganz Reales. Diese Theorien mögen wahr sein oder auch nicht (das heißt, grob gesagt, ungefähr wahr), aber sie sind nicht die Realität. Konkrete Menschen, konkrete Geschichte – das Leben – sind die Realität.

Lenin sah die marxistische Theorie als die zugrunde liegende Realität und entwickelte in Staat und Revolution und anderswo eine Vision der revolutionären Gesellschaft, die Menschen und menschliches Leben in letztlich tote Abstraktionen einengt. Ist es bei einer solchen grundlegenden Herangehensweise und Denkweise verwunderlich, dass die von Lenin aufgebaute und geführte Bewegung eine Gesellschaft schuf, die das Leben im Interesse toter Strukturen, Kategorien und Ideologien unterdrückt?

Abschließend möchte ich einen Punkt wiederholen, den ich schon öfter angesprochen habe. Ich versuche nicht zu beweisen, dass alles, was Lenin getan oder geschrieben hat, undemokratisch, staatskapitalistisch oder totalitaristisch ist. Ich behaupte auch nicht, dass Lenin absichtlich und bewusst ein undemokratischer Mensch war (wie beispielsweise Adolf Hitler, der genau wusste, was er tat). Ich glaube, Lenin sah sich selbst als sehr demokratisch, sehr engagiert für die Herrschaft der Arbeiter usw. Aber seine grundlegende Vorstellung und Vision von der Diktatur des Proletariats oder einer von Arbeitern geführten Gesellschaft waren undemokratisch.

Das lag zum großen Teil daran, dass er ein Kind seiner Zeit und seines Umfelds war: des rückständigen, undemokratischen Russlands des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, mit einer winzigen, sehr jungen Arbeiterklasse, umgeben von Millionen analphabetischer Bauern usw. Ein Teil des Grundes hatte mit Lenins eigener Erziehung und Persönlichkeit zu tun.

Aber ich denke, der Hauptgrund für Lenins letztlich undemokratische Vision war seine Überzeugung, dass der Marxismus eine Wissenschaft sei, was für ihn bedeutete, dass er absolut wahr war. Wenn die Theorie wahr ist und sie besagt, dass eine Revolution der Arbeiter und eine Gesellschaft der Arbeiter diese und jene Form annehmen und dies und das tun werden, dann gibt es keinen Platz für echte Demokratie. Da alles unvermeidlich ist, gibt es keinen Raum für Entscheidungen, oder wenn es Entscheidungen gibt, dann sind sie das Vorrecht derer, die die Wissenschaft verstehen, die Zugang zur Wahrheit haben, also der revolutionären Partei. Das wird das Thema der nächsten Folge sein.

FÜNF — Lenins Erkenntnistheorie Teil I

In dieser Folge unserer Serie über den möchte ich mich mit Lenins Vorstellung von menschlichem Wissen und Wahrheit befassen.

Das ist ein kompliziertes Thema, über das es selbst für einen Experten echt schwierig wäre zu schreiben. Da ich kein Experte bin und mich an ein Publikum mit unterschiedlichen philosophischen (und anderen) Kenntnissen wende und da ich einen Zeitungsartikel schreibe und kein Buch, ist meine Aufgabe nicht einfach. Ich sage das gleich zu Beginn als Entschuldigung: Es tut mir leid, wenn meine Ausführungen nicht so klar sind, wie sie sein könnten.

Ich hab aber echt keine andere Wahl, als zu versuchen, diese Dinge zu erklären, weil ich glaube, dass sie den Kern des Problems bilden, das in dieser Serie untersucht werden soll.

Und das ist, um es noch mal zu sagen, die Frage, inwieweit die Theorie und Praxis des Leninismus für die Errichtung des Staatskapitalismus in Russland verantwortlich ist. Oder, um die Frage etwas anders zu formulieren: Welche Aspekte der Theorie und Praxis des Leninismus deuten auf den Staatskapitalismus hin oder kündigen ihn an?

Anders als sonst werde ich meine Schlussfolgerungen zuerst nennen.

Ich bin überzeugt, dass Lenin und die bolschewistische Partei insgesamt glaubten: 1) dass es eine absolute Wahrheit gibt (damit meine ich, dass die Realität bestimmt und vorhersehbar ist); 2) dass absolutes Wissen, also die perfekte Kenntnis dieser Wahrheit, möglich ist; 3) dass diese Wahrheit und dieses Wissen in Bezug auf die menschliche Gesellschaft und Geschichte existieren; 4) dass der Marxismus das Wissen um diese Wahrheit ist; und 5) dass Lenin und die Bolschewiki innerhalb Russlands die einzigen echten Marxisten waren.

Ich bin auch überzeugt, dass diese Aussagen die philosophische Grundlage des Staatskapitalismus sind und dass sie, zusammen mit der marxistischen Forderung, ihr Programm durch die Übernahme der Staatsmacht umzusetzen, direkt auf die Errichtung des Staatskapitalismus hindeuten. Ich behaupte nicht, dass eine Partei, die an diesen oder ähnlichen Aussagen festhält, unweigerlich den Staatskapitalismus schaffen wird, sondern nur, dass dies sehr wahrscheinlich ist, wenn sie tatsächlich die Staatsmacht übernimmt.

Wenn es nur eine einzige (politische) Wahrheit gibt und wenn deine Partei aufgrund ihrer Ideologie und ihres Programms die einzige Besitzerin dieser Wahrheit ist, dann wirst du nicht viel von politischer Debatte, politischem Pluralismus und dem Recht anderer Parteien und Organisationen auf Existenz, Selbstorganisation und offene Verbreitung ihrer Ansichten halten. Du wirst vielleicht nicht immer gegen diese Dinge sein, aber sie werden nie oberste Priorität haben.

Da du die Wahrheit bereits kennst, politisch und auch sonst, brauchst du keinen Dialog/keine Debatte mit anderen Kräften, um sie zu erlangen. Und wenn du die Macht ergriffen hast und es schwierig wird, erscheinen politischer Pluralismus und Debatten als regelrechter Luxus, auf den man verzichten kann und sollte, wenn auch „nur vorübergehend“. Dies wurde in Russland zu einem großen Teil von den Bolschewiki unter der Führung Lenins, nicht Stalins, getan.

Ich behaupte nicht, dass Leninismus und Marxismus die einzigen Weltanschauungen sind, die an Vorstellungen von absoluter Wahrheit und Wissen festhalten. Wahrscheinlich glauben die meisten Menschen auf der Welt – sicherlich im Westen – an absolute Wahrheit und Wissen, in dem Sinne, dass es eine absolute Wahrheit gibt und dass absolutes Wissen über diese Wahrheit, zumindest in einigen Bereichen, möglich ist.

Ich behaupte auch nicht, dass der Glaube an absolute Wahrheit und Wissen zwangsläufig einer totalitären Ideologie gleichkommt. Albert Einstein, der die Relativitätstheorie entwickelt hat, glaubte, dass das Universum deterministisch ist, also dass es eine absolute Wahrheit über die Struktur des Universums gibt. Er glaubte auch, dass die Wissenschaft in der Lage ist, diese zu verstehen, mit anderen Worten, dass ein absolutes Wissen über diese Struktur möglich ist. Dennoch war Albert Einstein einer der am wenigsten totalitaristisch denkenden Menschen dieses Jahrhunderts.

Ich behaupte aber, dass der Glaube an absolute Wahrheit und Wissen der Kern einer totalitären Ideologie ist und dass jede Weltanschauung oder Ideologie, die auf so einem Glauben basiert, ein totalitäres Potenzial hat.

Die wichtigsten westlichen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, sind gute Beispiele dafür. Sie basieren alle auf dem Glauben an absolute Wahrheit und absolutes Wissen über diese Wahrheit (auch wenn sie in dieser Hinsicht nicht immer in sich konsistent sind). Und sie alle haben totalitäres Potenzial.

Siehe den Islam, nicht nur im Iran, dessen derzeitige Herrscher an einer besonders fundamentalistischen Auslegung dieser Religion festhalten, sondern auch anderswo. Siehe das Judentum, nicht nur rechte Fanatiker wie Meir Kahane, sondern auch den Mainstream-Zionismus. Siehe auch die fundamentalistischen christlichen Gruppen in den USA, die insgesamt sehr groß, sehr reich und sehr mächtig sind und mir große Angst machen: Sie wollen ihre sehr engstirnige und reaktionäre Ideologie allen Menschen im Land aufzwingen.

Und nicht zuletzt die katholische Kirche. Aus verschiedenen Gründen ist das totalitäre Potenzial des Katholizismus (das an sich weder größer noch kleiner ist als das des Protestantismus, des Islam oder des Judentums) besonders offensichtlich. Der Katholizismus hat einen Diktator (den Papst, den Stellvertreter Gottes), ein sehr genau definiertes und eng gefasstes Dogma und Vorschriften, von denen keine Abweichung erlaubt ist (Papst Johannes Paul II. hat die US-Katholiken bei seiner letzten Reise daran erinnert), einen riesigen politischen Apparat, einschließlich Gerichten und einer Geheimpolizei.

In der Vergangenheit hat die Kirche auch versucht, echte totalitäre Gesellschaften aufzubauen. Im Mittelalter in Westeuropa kam sie diesem Ziel ziemlich nahe, zumindest so nah, wie es mit der begrenzten Technologie möglich war. Sie besaß zwischen 1/3 und Vz des Landes und beutete Tausende von Leibeigenen aus. Sie hat der gesamten Gesellschaft ein fast vollständiges ideologisches (religiöses) Monopol auf die gesamte Gesellschaft. Juden wurden manchmal toleriert (unter besonderen Einschränkungen), aber oft auch massakriert, wie während der Kreuzzüge. Heidnische Traditionen wurden ausgelöscht oder kooptiert. Und die Inquisition in ihren verschiedenen Ausprägungen untersuchte, entlarvte, folterte und tötete Ketzer.

Tatsächlich hat die Kirche unter der Ägide der fanatischen Jesuiten (der Gesellschaft Jesu) in Paraguay eine totalitäre Gesellschaft aufgebaut, in der sie über eine große Zahl von Indigenen herrschte und diese ausbeutete (natürlich im Interesse ihrer Erlösung).

Diese Beispiele deuten zumindest für mich darauf hin, dass der Glaube an absolute Wahrheit und Erkenntnis der Kern totalitärer Weltanschauungen ist. An sich führt so ein Glaube aber nicht unbedingt zu totalitären Ideen. Damit eine Weltanschauung totalitär ist, muss sie auch glauben, dass absolute Wahrheit und Wissen in Bezug auf die menschliche Gesellschaft, also Ökonomie und Politik, möglich sind, dass sie (die bestimmte Weltanschauung) selbst das einzige Wissen über diese Wahrheit verkörpert und dass diese Weltanschauung und ein sie widerspiegelndes ökonomisches, politisches und soziales Programm der Gesellschaft aufgezwungen werden sollten.

Obwohl ich glaube, dass all diese Merkmale auf den Leninismus zutreffen, möchte ich mich besonders auf eines konzentrieren, nämlich Lenins Vorstellung von Wahrheit und Wissen.

Lenin glaubte, wie die meisten Menschen seiner Zeit, an absolute Wahrheit und Wissen, d. h. daran, dass die Welt eine bestimmte, festgelegte Struktur hat und dass präzises, absolutes Wissen über diese Wahrheit möglich ist. Er schrieb ein ganzes Buch, das sich der Verteidigung dieser These widmet (obwohl er sich in seinen Äußerungen zurückhielt), zusammen mit seiner Interpretation des dialektischen Materialismus, den er als die Philosophie des Marxismus betrachtete.

Das Buch heißt Materialismus und Empiriokritizismus und kam 1909 raus. Genau dieses Werk will ich mal genauer anschauen.

Materialismus und Empiriokritizismus wurde als Polemik gegen Anatoli Bogdanow und Alexander Lunatscharski geschrieben, zwei Bolschewiki, die sich von den Ideen von Ernst Mach und Richard Avenarius, Henri Poincaré und anderen Wissenschaftlern, Mathematikern und Philosophen angezogen fühlten, die die Vorläufer einer philosophischen Schule namens logischer Positivismus waren. Bogdanow und Lunatscharski hatten sich schon länger für die Ideen von Ernst Mach (dem einflussreichsten dieser Denker) interessiert und 1908 ein Buch mit Beiträgen von Mach und anderen veröffentlicht. Lenin reiste in diesem Jahr nach London, verbrachte viel Zeit mit dem Studium der Literatur und veröffentlichte im folgenden Jahr Materialismus und Empiriokritizismus.

Obwohl Lenin bereits zu Beginn des Jahrzehnts Bedenken hinsichtlich des Einflusses von Mach geäußert hatte, war seine Entscheidung, ein Buch zu schreiben, in dem er ihn attackierte, in erster Linie durch interne Fraktionskämpfe innerhalb der Bolschewiki motiviert. (Als Bogdanow und Lunatscharski mit Lenin übereinstimmten – tatsächlich waren sie eine Zeit lang seine wichtigsten Stützen –, griff er sie natürlich nicht öffentlich wegen philosophischer Ketzerei an. Er tat dies erst, als sie mit ihm nicht mehr übereinstimmten. Was das über Lenins Methoden aussagt, überlasse ich der Interpretation des Lesers.)

Die Umstände des Streits waren wie folgt: Nach der Revolution von 1905, die niedergeschlagen wurde, setzte in der Arbeiterklasse und in der revolutionären Bewegung ein großer Demoralisierungsprozess ein. Auch die Bolschewiki blieben davon nicht verschont. Wie die anderen Gruppen verloren sie ihre Massenbasis, wurden von Massenausstritten heimgesucht und schrumpften fast auf null zusammen. Der Untergrundapparat der Bolschewiki hörte fast auf zu existieren.

In dieser Zeit versuchte Lenin, alle legalen Aktivitäten zu nutzen, die den Bolschewiki noch möglich waren. Eine davon war die Kandidatur und Teilnahme an der Duma, einem halb-legislativen Gremium, das auf sehr indirekte und undemokratische Weise gewählt wurde und das Zar Nikolaus II. auf dem Höhepunkt der Revolution zugestanden hatte.

Zuerst war Lenin dagegen, bei den Wahlen zur Duma zu kandidieren und an ihren Beratungen teilzunehmen. Die Menschewiki, die noch in derselben Partei waren, waren im Allgemeinen dafür. Später, als klar wurde, dass die Revolution vorbei war und eine reaktionäre Phase eingesetzt hatte, änderte Lenin seine Meinung und wollte, dass die Bolschewiki mitmachen, um so viel Raum wie möglich für revolutionäre Agitation zu bekommen, egal wie begrenzt dieser auch sein mochte.

Innerhalb der bolschewistischen Fraktion war Lenin isoliert und wurde von seinen ehemaligen Verbündeten, darunter Bogdanow und Lunatscharski, abgelehnt. (Unter den Bolschewiki gab es zu diesem Thema unterschiedliche Tendenzen. Einige waren für einen vollständigen Boykott der Wahlen und der Duma selbst. Andere waren für eine Teilnahme an den Wahlen, aber dann, nach der Vorlage einer Art Ultimatum, für einen Austritt. Später wollten einige die gewählten Delegierten zurückrufen. Aber die Unterschiede sind nicht sehr groß, zumindest heute nicht.) Da Lenin in dieser Frage eine klare Meinung hatte, wurde die Diskussion ziemlich hitzig.

Neben ihrem „Boykottismus“ spielten Lunatscharski und Bogdanow zusammen mit anderen, darunter der Schriftsteller Maxim Gorki, mit der Idee, eine Art proletarische Religion zu schaffen, um mit den etablierten Kirchen um die Gunst der demoralisierten Arbeiter zu konkurrieren.

Lenin war gegen dieses „Gotteskonstruieren“ und auch gegen den „Boykottismus“. Das Schreiben von Materialismus und Empiriokritizismus war daher eine gute Möglichkeit, Bogdanow und Lunatscharski zu diskreditieren. Es war auch eine gute Möglichkeit, das zu verteidigen, was er als marxistische Orthodoxie ansah, und so die Gläubigen in einer besonders schwierigen Zeit zu stärken.

Obwohl sich Materialismus und Empiriokritizismus gegen eine Reihe von Denkern richtet, möchte ich mich auf Ernst Mach (1838–1916) konzentrieren, da er wahrscheinlich das wichtigste Ziel Lenins war.

Mach war ein österreichischer Wissenschaftler und Philosoph und Autor einer Reihe angesehener Bücher zu Themen wie Dynamik und Optik. Wie die meisten Naturwissenschaftler seiner Zeit war Mach besonders besorgt über eine Reihe von aktuellen Entwicklungen, die gegen die Regeln der damals akzeptierten Physik verstießen. Tatsächlich führten diese Entwicklungen zum Zusammenbruch des gesamten Gebäudes der klassischen Physik (das über einen Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren aufgebaut worden war) und zu einer konzeptionellen Revolution in der Wissenschaft, die durch die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik veranschaulicht wird.

Mach schlug vor, die sich abzeichnende Krise zu bewältigen, indem man ein seit langem grundlegendes Postulat des wissenschaftlichen Denkens radikal anwendete – die „Ökonomie des Denkens“ –, d. h. eine einfache Theorie ist besser als eine komplexe; wenn eine bestimmte Idee für die Erklärung einer Sache nicht wesentlich ist, sollte man sie verwerfen; je weniger Spekulationen, desto besser usw. (Der französische Mathematiker und Wissenschaftler Laplace antwortete auf Napoleons Frage, warum er Gott nicht in seine Theorie der Planetenbewegungen einbezogen habe, dass er „diese Hypothese nicht benötige”.)

Mach schlug vor, diesen Grundsatz so weit wie möglich zu befolgen und alle Vorstellungen zu verwerfen, die nicht direkt experimentell überprüft werden konnten. Tatsächlich stand er allen wissenschaftlichen Gesetzen skeptisch gegenüber, die er im schlimmsten Fall für unbeweisbare metaphysische Spekulationen und im besten Fall für praktische Hilfsmittel zur Organisation von Daten hielt, die der menschliche Verstand zu faul war, sich auf andere Weise zu merken.

Mach stand theoretischen mechanischen Modellen besonders kritisch gegenüber, wie zum Beispiel den ätherischen Kontinua, die damals zur Erklärung der Phänomene Licht, Elektrizität und Magnetismus verwendet wurden. Soweit er wissenschaftliche Gesetze akzeptierte, handelte es sich dabei um mathematisch-statistische Modelle wie die Gesetze der Thermodynamik, die allgemeine Beziehungen zwischen beobachteten Phänomenen herstellen, ohne notwendigerweise ein spezifisches Modell dessen zu implizieren, was tatsächlich auf der Mikroebene geschieht.

Mach akzeptierte beispielsweise nie die Atomtheorie der Materie, da er Atome nicht sehen konnte und ihre Existenz noch nicht experimentell nachgewiesen worden war. In diesem Punkt sollte er sich als völlig falsch erweisen.

Mach lehnte aber auch die Idee von absolutem Raum und absoluter Zeit ab, einem Grundprinzip der klassischen (Newtonschen) Physik. Der junge Albert Einstein war ein Anhänger von Mach, und obwohl er Machs Ansatz später aufgab, hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Relativitätstheorie. (Ironischerweise, aber konsequent, hat Mach diese Theorie nie akzeptiert.)

Philosophisch gesehen ging es bei Machs Ansatz darum, unmittelbare Sinneserfahrung, also das, was wir mit unseren Augen, Ohren, unserem Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn (und im weiteren Sinne auch mit Hilfe von Versuchsapparaten) unmittelbar und im engsten Sinne wahrnehmen, als einzige Grundlage für echtes Wissen, als einzige Realität, die wir zu Recht akzeptieren oder diskutieren können. Da man nichts wirklich wissen kann, was über unsere unmittelbaren Sinnesdaten hinausgeht, ist es sinnlos, ja sogar selbstgefällig, zu versuchen, es zu konzeptualisieren.

Diese Idee führt aber dazu oder impliziert, dass es keine Realität gibt, die über das hinausgeht, was unsere Sinne direkt wahrnehmen. Das wiederum bedeutet, dass Sein und Wahrnehmen untrennbar miteinander verbunden sind. Anders gesagt: Machs Ansatz impliziert, dass nichts existiert, wenn es nicht wahrgenommen wird, dass es keine objektive Realität gibt, die vom wahrnehmenden Subjekt getrennt und unabhängig ist.

Das war im Wesentlichen die Position des anglikanischen Bischofs George Berkeley, einem Geistlichen und Philosophen des 18. Jahrhunderts, der darauf seinen Beweis für die Existenz Gottes gründete. (Nichts existiert, wenn es nicht wahrgenommen wird. Da es eindeutig Dinge gibt, die weiter existieren, wenn Menschen sie nicht mehr betrachten, ist dies der Beweis dafür, dass es einen allgegenwärtigen Wahrnehmenden gibt – einen Geist, der alles wahrnimmt, nämlich Gott.)

(Bevor wir weitermachen, sollte man erwähnen, dass die Idee, dass Sein und Wahrnehmung untrennbar miteinander verbunden sind, dass zumindest auf subatomarer Ebene der Akt der Wahrnehmung bis zu einem gewissen Grad bestimmt, was wahrgenommen wird, – ob richtig oder falsch, philosophisch gesehen – eine grundlegende Schlussfolgerung der am weitesten verbreiteten Interpretation – der sogenannten „Kopenhagener Deutung“ – der Quantenmechanik ist, einer der wichtigsten Säulen der Physik des 20. Jahrhunderts.)

Es ist auch erwähnenswert, dass in der zeitgenössischen theoretischen Physik mathematische Modelle die mechanischen ersetzt haben. Dies gilt insbesondere für die Atomphysik: Werner Heisenberg, eine wichtige Figur in der Entwicklung der Quantenmechanik, schrieb 1945: „Das Atom der modernen Physik kann nur durch eine partielle Differentialgleichung in einem abstrakten Raum mit vielen Dimensionen symbolisiert werden. Alle seine Eigenschaften sind abgeleitet; ihm können keine materiellen Eigenschaften direkt zugeschrieben werden. Das heißt, jedes Bild des Atoms, das unsere Vorstellungskraft erfinden kann, ist aus diesem Grund unvollständig.“ [Zitiert in A History of the Sciences von Stephen F. Mason, S. 502.]

(Kurz gesagt, was auch immer wir über die philosophischen Implikationen von Machs Ideen denken mögen, sie haben in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts weitaus mehr Einfluss gewonnen, als Lenin hätte vermuten können.)

Die implizite Logik von Machs Ideen, die ich skizziert habe, war tatsächlich das Hauptziel von Lenins Angriff auf ihn und die anderen „Empiriokritiker“ (der Begriff stammt von Avenarius) in Materialismus und Empiriokritik. Mach behauptete, dass wir nur die unmittelbaren Daten der Erfahrung erkennen können (nur die „Fakten“ sind real), was laut Lenin direkt zur Ablehnung der objektiven Realität (einer Realität, die unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt existiert – eine grundlegende These des Marxismus) und zur Philosophie von Berkeley und zur Religion (von Lenin als „Fideismus“ bezeichnet, vom lateinischen Wort für „Glaube“) führt.. Wenn man den Ideen von Mach, Avenarius und den anderen auch nur einen Millimeter nachgibt, so betont Lenin, gibt man den dialektischen Materialismus zugunsten der einen oder anderen Form des Idealismus und der bourgeois Philosophie auf.

Ich finde, dass Lenins Kritik an Machs Position im Grunde genommen richtig ist. Aber wenn Lenin Mach angreift, geht er zu weit in die andere Richtung. Während Mach wissenschaftlichen Gesetzen nur eine pragmatische, nützliche Gültigkeit gibt (d. h., sie sind praktisch, um Fakten oder Daten zu ordnen), macht Lenin wissenschaftliche Gesetze zu etwas fast Absolutem, das die objektive Realität direkt reflektiert (oder ihr entspricht). Trotz vieler Vorbehalte und Verschleierungen argumentiert Lenin also für die Möglichkeit absoluten Wissens.

Eine sorgfältige Lektüre einer der Schlüsselstellen aus Materialismus und Empiriokritizismus zeigt dies. Der folgende Absatz (aus W. I. Lenin, „Gesammelte Werke“, Band 14, Progress Publishers, Moskau, 1968, S. 326) ist eine Art Zusammenfassung, eine kurze Darstellung dessen, was Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus und an anderer Stelle vertritt:

„Der Materialismus überhaupt anerkennt das objektiv reale Sein (die Materie), das unabhängig ist von dem Bewußtsein, der Empfindung, der Erfahrung usw. der Menschheit. Der historische Materialismus anerkennt das gesellschaftliche Sein als unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschheit. Das Bewußtsein ist hier wie dort nur das Abbild des Seins, bestenfalls sein annähernd getreues (adäquates, ideal-exaktes) Abbild. Man kann aus dieser aus einem Guß geformten Philosophie des Marxismus nicht eine einzige grundlegende These, nicht einen einzigen wesentlichen Teil wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu entfernen, ohne der bürgerlich-reaktionären Lüge in die Fänge zu geraten.“

Für mich ist das Auffälligste an dieser Passage ihr Dogmatismus. Gleich nachdem er geschrieben hat, dass das Bewusstsein (und damit das Wissen) „bestenfalls“ eine Annäherung an das „Sein“ (Realität) sein kann, schreibt Lenin im Grunde genommen etwas, das man so paraphrasieren könnte: „Und wenn du auch nur einen Satz von dem, was ich hier geschrieben habe (also meine Interpretation des Marxismus), in Frage stellst, liegst du falsch, hast dich von der ‚objektiven Wahrheit‘ entfernt und verbreitest ‚bürgerlich-reaktionäre Lügen‘.“

Mit anderen Worten: Während Bewusstsein/Wissen im Allgemeinen nur annähernd wahr sein mag, ist der Marxismus (oder besser gesagt Lenins Interpretation davon) absolut wahr. Und Materialismus und Empiriokritizismus ist insgesamt so geschrieben, dass es jede Infragestellung des Marxismus angesichts der Entwicklungen in der Physik, die zu einer tiefgreifenden Revolution im wissenschaftlichen Denken führen sollten, entmutigen oder verhindern soll. Das, so behaupte ich, ist die eigentliche Botschaft des Buches. (Tatsächlich ist an Lenins Absatz selbst aus marxistischer Sicht vieles falsch, aber darauf kommen wir später noch zu sprechen.)

An anderer Stelle verrät Lenin das Geheimnis: „Das menschliche Denken ist also seiner Natur nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die sich aus der Summe der relativen Wahrheiten zusammensetzt, zu vermitteln, und es tut dies auch. Jede Stufe in der Entwicklung der Wissenschaft fügt dieser Summe der absoluten Wahrheit neue Körnchen hinzu; aber die Grenzen der Wahrheit jedes wissenschaftlichen Satzes sind relativ und können durch die weitere Entwicklung des Wissens entweder weiter oder enger gezogen werden.“ (S. 135.) Auf der nächsten Seite schreibt Lenin: „Vom Standpunkt des modernen Materialismus, d. h. des Marxismus, sind die Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich bedingt, unbedingt aber ist die Existenz dieser Wahrheit selbst, unbedingt ist, daß wir uns ihr nähern.“

Mit diesen Passagen versucht Lenin, eine Stelle zu erklären, die er gerade aus Friedrich Engels‘ Anti-Dühring zitiert hat. Auch wenn wir hier nicht die Ansichten von Engels (oder Marx) über Wahrheit und Wissen diskutieren wollen, lohnt es sich, die entscheidende Passage etwas ausführlicher zu zitieren. Es folgt Engels‘ Zitat, wie es von Lenin zitiert wird (Materialismus und Empiriokritizismus, gleiche Ausgabe, S. 133–134):

„… hier kommen wir vor die Frage“, schreibt Engels am Anfang des obengenannten Kapitels (Abschn. 1, Kap. IX) des „Anti-Dühring“, „ob und welche Produkte des menschlichen Erkennens überhaupt souveräne Geltung und unbedingten [Anspruch] auf Wahrheit haben können.“ (S. 79 der fünften deutschen Auflage.) Und Engels löst diese Frage folgendermaßen:

„Die Souveränität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andre“ (weder die absolut wahrhafte Erkenntnis noch die Souveränität des Denkens) „kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden.

Wir haben hier wieder denselben Widerspruch, wie schon oben; zwischen dem notwendig als absolut vorgestellten Charakter des menschlichen Denkens und seiner Realität in lauter beschränkt denkenden Einzelmenschen, ein Widerspruch, der sich nur im unendlichen Progreß, in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Menschengeschlechter lösen kann. In diesem Sinn ist das menschliche Denken ebensosehr souverän wie nicht souverän und seine Erkenntnisfähigkeit ebensosehr unbeschränkt wie beschränkt. Souverän und unbeschränkt der [Anlage], dem Beruf, der Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen Wirklichkeit nach.“

Ohne diese Passage eingehend zu analysieren, muss man feststellen, dass Engels, obwohl er die Möglichkeit absoluten, „souveränen“ Wissens zugesteht, sich ziemlich bedeckt hält. (Meiner Meinung nach weicht er der Frage aus.) Zu sagen, dass absolutes Wissen durch eine „unendliche Lebensdauer der Menschheit“ und/oder die „endlose Abfolge von Generationen der Menschheit“ möglich ist oder dass „das menschliche Denken ebensosehr souverän wie nicht souverän“ ist, ist keine besonders überzeugende Argumentation. Und es ist etwas ganz anderes als zu sagen, dass „das menschliche Denken ist also seiner Natur nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die sich aus der Summe der relativen Wahrheiten zusammensetzt, zu vermitteln, und es tut dies auch.“.

Obwohl Engels dazu gedrängt wird, zu sagen, dass die Annäherung an die Wahrheit „in unendlicher Progression“ (das heißt, so wie sich eine Hyperbel ihren Asymptoten nähert) letztendlich zu absolutem Wissen führt, versucht er, sich zurückzuhalten. Lenin hingegen gibt bestenfalls Lippenbekenntnisse zu der Idee ab, dass Wissen zu jedem Zeitpunkt relativ ist, und überspringt die „asymptotische Lücke“, als hätte sie keinerlei Relevanz.

Engels hatte zumindest eine Ausrede dafür, dass er dachte, Wissen sei wie eine glatte Kurve, die sich immer mehr der absoluten Wahrheit nähert. Er lebte in der letzten Phase einer Ära, in der sich die Wissenschaften über mehrere hundert Jahre hinweg mehr oder weniger kontinuierlich und reibungslos weiterentwickelt hatten. Bis zum Ende seines Lebens und sicherlich auch während seiner prägenden Jahre schienen die wissenschaftlichen Entwicklungen nahtlos in den allgemeinen Rahmen zu passen, der zur Zeit von Isaac Newton (1642–1727) eine ausgefeilte und elegante Form erreicht hatte. Natürlich schien absolutes Wissen als schrittweise Ergänzung relativer Wahrheiten möglich.

Lenin, der in einer Zeit der wissenschaftlichen Revolution lebte, die den alten Rahmen umwerfen würde, hatte keine solche Entschuldigung. Und trotzdem sind seine Ansichten weniger gemäßigt als die von Engels.

Weiter unten wird Lenin noch deutlicher. In seiner Diskussion über die Rolle der Praxis und nach einer typischen Einschränkung, dass die Praxis niemals „…irgendeine menschliche Vorstellung vollständig bestätigen oder widerlegen kann“ (seine Hervorhebung), schreibt Lenin: „Wenn das, was von unserer Praxis bestätigt wird, die letzte, objektive Wahrheit ist, so ergibt sich daraus, daß man als einzigen Weg zu dieser Wahrheit den Weg der auf dem materialistischen Standpunkt stehenden Wissenschaft anerkennen muß.“ (S. 141).

Und noch weiter geht Lenin, indem er Bogdanows Bereitschaft kritisiert, Marx‘ Theorie der Geldzirkulation nur als objektive Wahrheit für „unsere Zeit“ anzuerkennen, und sich weigert, dieser Theorie eine „überhistorische objektive Wahrheit“ zuzuschreiben. Lenin erzählt die ganze Geschichte (alle Hervorhebungen stammen von Lenin):

„Daß diese Theorie der Praxis entspricht, kann durch keine künftigen Umstände geändert werden, und zwar aus demselben einfachen Grunde, aus welchem die Wahrheit, daß Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben ist, ewig ist. Da aber das Kriterium der Praxis – d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten – nur die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt, und nicht die irgendeines Teils, einer Formulierung u. dgl. beweist, so ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier von „Dogmatismus“ der Marxisten gesprochen wird. Die einzige Schlußfolgerung aus der von den Marxisten vertretenen Auffassung, daß die Theorie von Marx eine objektive Wahrheit ‘ist, besteht im folgenden: Auf dem Wege der Marxschen Theorie fortschreitend, werden wir uns der objektiven Wahrheit mehr und mehr nähern (ohne sie jemals zu erschöpfen); auf jedem anderen Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Unwahrheit.“ (S. 143.)

Ich denke, das sollte reichen, um zu zeigen, dass Lenin an die absolute Wahrheit glaubte (wenn dich die Worte selbst nicht überzeugen, dann sollte es der Tonfall tun), nicht nur allgemein, sondern auch, dass der Marxismus diese Wahrheit ist, im Besonderen.

SECHS — Lenins Erkenntnistheorie Teil II

In unserem letzten Teil dieser Serie habe ich angefangen, über die Frage der absoluten Wahrheit und Erkenntnis und Lenins Haltung dazu zu reden.

Insbesondere habe ich erwähnt, dass ich der Meinung bin, dass der Glaube an absolutes Wissen einen „totalitären Kern“ darstellt, ein Potenzial für eine totalitäre Ideologie. Und anhand einer kurzen Skizze von Lenins Buch über die Frage des Wissens, Materialismus und Empiriokritizismus, habe ich gezeigt, dass Lenin trotz einiger Vorbehalte an die absolute Wahrheit und die Möglichkeit absoluten Wissens glaubte.

In diesem Teil möchte ich Lenins Erkenntnistheorie diskutieren, vor allem ihre Unfähigkeit, die Aktivität des Geistes/Wissens anzuerkennen; skizzieren, wie diese Auffassung ihn dazu brachte, die damalige wissenschaftliche Revolution falsch zu verstehen und sogar abzulehnen; und aufzeigen, wie sein Glaube an absolutes Wissen (das, zumindest was Gesellschaft und Geschichte betrifft, im Marxismus verankert ist) dazu beigetragen hat, den Weg für die Etablierung des Staatskapitalismus in Russland zu ebnen.

In Materialismus und Empiriokritizismus stellt Lenin eine Erkenntnistheorie vor, die zumindest zu dieser Zeit seinem Glauben an absolute Wahrheit und Wissen zugrunde lag. Diese Theorie lässt sich in wenigen Thesen zusammenfassen: 1) Die Realität ist nichts anderes als Materie in Bewegung; 2) menschliches Wissen ist eine Reflexion dieser Realität und entspricht ihr; 3) die Wahrheit eines bestimmten Gedankens, einer Idee, einer Theorie usw. wird durch Experimente bewiesen oder widerlegt, die die aus der Theorie abgeleiteten Vorhersagen überprüfen, sowie durch den allgemeinen Erfolg der Theorie in Bezug auf die Entwicklung von Technologie und die Förderung der Wissenschaft.

Trotz der offensichtlichen Plausibilität dieser Ansicht (es handelt sich um eine Art gesunder Menschenverstand) hält sie einer ernsthaften Untersuchung der Frage nicht stand.

Zunächst einmal widerspricht sie anderen Vorstellungen über Wissen und Bewusstsein, die Lenin selbst vertrat. Lenin glaubte, wie die meisten Marxisten, an den Begriff des „falschen Bewusstseins”. Dabei geht es um ein Bewusstsein (eine Weltanschauung, eine Reihe von Werten usw.), das bestimmte Leute in der Gesellschaft haben, das aber nicht zu ihrer Klassenposition „passt”.

Für Marxisten ist zum Beispiel das „wahre” Bewusstsein der Arbeiterklasse, das wahre „proletarische Bewusstsein”, der Marxismus oder zumindest ein gewisses Engagement für Revolution und Sozialismus. Die meisten Arbeiter sind aber keine revolutionären Sozialisten; sie haben kein „proletarisches Bewusstsein”. Stattdessen teilen sie die Weltanschauung anderer, nicht-proletarischer Klassen, wie der herrschenden Klasse oder Teilen der Mittelklasse. Die Arbeiter haben ein „falsches Bewusstsein”.

Das ist nicht nur das Ergebnis der bourgeoisen Medien, der bourgeoisen Bildung usw., obwohl diese sicherlich dazu beitragen. Es ist auch mehr als die Wirkung der „Hegemonie“ (eine Art kulturelle Führung) der herrschenden Klasse im Sinne des italienischen Marxisten Antonio Gramsci.

Das „falsche Bewusstsein“ der Arbeiter entspringt der fortwährenden Realität ihres täglichen Lebens, dass sie Arbeiter sind, die an bestimmten Arbeitsplätzen arbeiten, ihre Arbeitskraft für Löhne verkaufen usw. und bestimmte Beziehungen zu ihren Kollegen, Vorgesetzten, Händlern, Vertretern des Staates und (indirekter) anderen Kapitalisten eingehen. Ihr „falsches Bewusstsein“ entspringt dem Geflecht der alltäglichen sozialen Beziehungen, in das sie eingebunden sind, und ist Teil davon. Ihr Bewusstsein „reflektiert“ diese Beziehungen.

Das wirft aber ein kleines Problem auf. Wenn „falsches Bewusstsein“ ein Reflexion der (sozialen) Realität ist, wie kommen wir dann zu Wissen, wenn auch das ein Reflexion der Realität ist? Oder, wenn Wissen das Ergebnis der Reflexion der Realität im Geist ist, woher kommt dann „falsches Bewusstsein“? Offensichtlich fehlt in Lenins Erkenntnistheorie etwas, ein „“Mittelbegriff“. Lenin hat zwei Pole, Realität und Wissen, von denen der eine den anderen widerspiegelt. Aber die Art dieser Reflexion muss sich zwischen wahrem Wissen einerseits und falschem Wissen andererseits unterscheiden. Warum und wie dies geschieht, muss erklärt werden.

Tatsächlich ist die Erkenntnistheorie, die Lenin vorbringt, deutlich weniger ausgefeilt als die von Karl Marx, deren Theorie Lenin zu vertreten glaubte. (Lenins Konzeption ist im Grunde ein Rückgriff auf die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel Diderot und d’Alembert.)

Für Marx sind Realität (natürlich oder sozial) und Bewusstsein/Wissen keine zwei gegensätzlichen Begriffe, zwischen denen es nichts gibt (der eine spiegelt nur den anderen wider). Er sah sie als verschiedene Aspekte, zwei Facetten eines sozialen Prozesses („Praxis” oder „praxis” auf Griechisch), in dem die Menschheit sich selbst und die Realität durch Arbeit verändert.

(Lenin spricht in Materialismus und Empiriokritizismus von „Praxis“, neigt aber dazu, sie auf eine enge Form zu reduzieren und ihren für Marx grundlegenden Inhalt zu ignorieren, nämlich den sozialen Prozess, durch den die Menschheit sich selbst erschafft.)

In Lenins Darstellung ist die Realität im Grunde genommen gegeben, unbeweglich präsent; das menschliche Bewusstsein reflektiert sie nur. Bei all seinem Gerede über den „dialektischen“ Materialismus versäumt es Lenin, die „Dialektik“ dort zu sehen, wo sie am ehesten zu finden ist – im Prozess der gegenseitigen Transformation von Menschheit und Natur durch Arbeit.

Marx hingegen erkannte, dass die Realität, sowohl die natürliche als auch die soziale, durch diesen Prozess ebenso verändert wird wie die Menschen. Ein Aspekt dieser Veränderung ist offensichtlich: Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, und dabei wird die Welt/Natur durch die Entwicklung der Technologie, den Einfluss der menschlichen Gesellschaft auf die Natur (nicht immer zum Guten, das ist klar) usw. verändert.

Aber es gibt noch eine andere Facette dieser Idee, die nicht so leicht zu verstehen ist. Und zwar, dass sich die Natur, wie sie den Menschen präsentiert wird, wie die Menschen sie wahrnehmen und mit ihr konfrontiert sind, verändert. Die Natur, wie sie der primitiver Mensch wahrnahm, ihr Bild von ihr, unterscheidet sich von dem der modernen Menschheit. Ein Teil dieser Veränderung ist unmittelbar technischer Natur: Das Universum, das die heutige Menschheit mit modernen Instrumenten wie Radioteleskopen, Planeten-Sonden usw. wahrnimmt, unterscheidet sich stark von dem Universum, das der primitiver Mensch mit bloßem Auge sehen konnte.

Aber es gibt auch einen sozialen/kulturellen Unterschied. Das Universum, das von bestimmten Göttern und Geistern bevölkert und bewegt wurde, ist ein anderes Universum als das, das durch die Vorstellung vermittelt wird, dass der Raum am genauesten als nicht-euklidische Geometrie und subatomare Teilchen durch eine Reihe von partiellen Differentialgleichungen dargestellt wird.

Es ist nicht so, dass sich die „ultimative Natur” (was auch immer das sein mag) des Universums unbedingt verändert hat, sondern nur, dass die Natur, die „Realität”, der Menschheit nicht einfach gegeben ist – in ihrer Gesamtheit und so, wie sie „wirklich ist” –, sodass der menschliche Geist sie einfach widerspiegelt. Was Lenin nicht verstanden hat (zumindest als er Materialismus und Empiriokritizismus schrieb), ist, dass der menschliche Verstand (das menschliche Bewusstsein, Wissen), individuell und sozial betrachtet, aktiv ist. Er reflektiert die Realität nicht nur passiv wider, sondern verändert, wie ihm die Realität präsentiert wird, wie er die Realität wahrnimmt.

Wir können das etwas verdeutlichen, indem wir die Frage etwas anders betrachten. Lenin sagt, dass der Verstand die Realität widerspiegelt, aber ein Blick darauf, wie ein Individuum (oder eine Gruppe von Individuen) die Realität auf einer bestimmten Ebene wahrnimmt, legt nahe, dass diese Sichtweise zu einfach ist.

Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der Geist wie eine Kamera ist, die die (visuellen) Informationen, die sie empfängt, unverändert aufzeichnet, können wir leicht erkennen, dass er nicht rein passiv ist. Eine Kamera muss in eine bestimmte Richtung gerichtet werden, und außer bei sehr einfachen Kameras muss sie auch fokussiert werden (manuell oder automatisch). Mit anderen Worten: Wir müssen uns entscheiden, etwas anzuschauen. Wir öffnen nicht einfach unsere Augen und nehmen alles in 360 Grad, in allen Entfernungen usw. wahr. Diese Auswahl ist aktiv, sie ist nicht rein passiv wie ein Spiegel.

Tatsächlich umfasst diese Aktivität Prozesse, die viel komplizierter sind als das Ausrichten und Einstellen einer Brennweite. Zum Beispiel muss der Verstand das Gesehene interpretieren, um die unendliche Menge an Daten, die in ihn eindringen, in Muster zu ordnen. Ein Baby muss nicht nur lernen, seine Augen in eine bestimmte Richtung zu richten und zu fokussieren, sondern auch, was die Muster verschiedener Farben und Formen bedeuten, welche dieser Farben und Formen „zusammengehören” (z. B. als materielles Objekt, als Person usw.).

Selbst wenn wir gelernt haben, Muster und Formen zu erkennen, bleibt immer noch die Frage nach der Relevanz. Zu jeder Zeit und an jedem Ort müssen wir entscheiden, welche der Dinge, die wir sehen, für uns wichtig sind. Wenn wir in einem Café sitzen, ist der Styroporbecher vor uns wichtiger als die Autos, die draußen auf der Straße vorbeifahren. Wenn wir aber etwas später die Straße überqueren, sollten wir besser mehr auf die Autos achten als auf den Styroporbecher, der in der Rinne liegt.

Wenn wir nur die Frage eines Sinnes betrachten, nämlich des Sehens, können wir erkennen, dass viel mehr dazu gehört, als dass das Auge lediglich die Realität widerspiegelt. Die visuelle Funktion beinhaltet und erfordert die Auswahl und Interpretation der Daten, die auf das Auge einwirken. Dies ist ein aktiver Prozess, kein passiver Reflexionsprozess.

In einer kürzlichen Diskussion über seine Teilnahme an einer Gruppe von Wissenschaftlern und anderen, die in Ostafrika nach Fossilien suchen, bringt Stephen Jay Gould, Paläontologe und Wissenschaftsautor aus Harvard, diesen Punkt in einem etwas anderen Zusammenhang zum Ausdruck. Er erklärt, dass einige Suchende ein scharfes Auge für Fossilfragmente haben und andere diese zusammensetzen können, während er selbst nur Schnecken findet, und schreibt:

„Alle Naturforscher kennen und respektieren das Phänomen des „Suchbildes” – der beste Beweis dafür, dass Beobachtung eine Interaktion zwischen Geist und Natur ist und keine vollständig objektive und reproduzierbare Abbildung des Äußeren auf das Innere, die von allen sorgfältigen und kompetenten Menschen auf die gleiche Weise vorgenommen wird. Kurz gesagt, man sieht das, was man zu sehen gelernt hat – und die Beobachtung verschiedener Arten von Objekten erfordert oft eine bewusste Verlagerung des Fokus und keine totale und wahllose Ausweitung in der Hoffnung, alles zu sehen. Die Welt ist zu voll von Wundern, als dass man sie alle gleichzeitig wahrnehmen könnte; wir lernen, selektiv vorzugehen.“ (Natural History, Mai 1987, S. 27.)

Wenn ein einzelner Sinn aktiv ist, liegt es dann nicht auf der Hand, dass so komplexe Prozesse wie Bewusstsein und Wissen Aktivität erfordern? Wissenschaftler nehmen nicht einfach alle Daten auf, die sich ihnen bieten. Sie müssen auswählen, welche Daten für sie relevant sind. Auf der breitesten Ebene bedeutet das, dass ein Wissenschaftler das Gebiet auswählen muss, das er untersuchen will, oder das spezifische Problem innerhalb dieses Gebiets, das er erforschen will.

Noch spezifischer: Wenn Wissenschaftler ein bestimmtes Phänomen untersuchen wollen, müssen sie sich für eine Herangehensweise entscheiden und festlegen, welche Experimente sie durchführen wollen, um welche Daten zu sammeln. Und selbst wenn diese Experimente durchgeführt und die Daten aufgezeichnet wurden, liefern die gesammelten Daten an sich noch kein neues Konzept oder keine neue Theorie, die das untersuchte Phänomen erklären.

An diesem Punkt ist ein intuitiver Sprung erforderlich, eine inspirierte Vermutung, die eine neue Konzeption, eine neue Sichtweise auf das Problem postuliert, egal wie weit hergeholt sie auch sein mag. Albert Einstein beschrieb diesen Prozess folgendermaßen:

„Für die Entwicklung einer Theorie reicht die bloße Sammlung aufgezeichneter Phänomene nie aus – es muss immer eine freie Erfindung des menschlichen Geistes hinzukommen, die den Kern der Sache angreift.“ (The Cosmic Code, von Heinz R. Pagels, S. 141.)

Nun ist Wissenschaft ein sozialer Prozess; sie beinhaltet, dass viele Menschen über einen längeren Zeitraum miteinander kommunizieren. Als solcher unterliegt sie sozialen und kulturellen Einflüssen. Wissenschaftler leben wie wir alle in den Gesellschaften ihrer Zeit und ihres Ortes. Sie sind im Großen und Ganzen Mitglieder bestimmter sozialer Klassen usw. Und sie leben in bestimmten Kulturen und werden in hohem Maße von diesen geprägt. All diese Einflüsse wirken sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus.

So ist es kein Zufall, dass die Physik, die aus der sogenannten kopernikanischen Revolution hervorging, das Universum weitgehend in mechanischen Begriffen betrachtete, etwa als eine riesige Uhr, die von einem Schöpfer erschaffen und in Gang gesetzt wurde, der sich dann zurücklehnte, um zu beobachten, wie die Uhr in schöner Einfachheit und Regelmäßigkeit tickte. Diese spezielle Physik wurde in den frühen Phasen der Entwicklung des Kapitalismus entwickelt, der selbst auf der Schaffung und Nutzung mechanischer Geräte beruhte. Die Gesellschaft, die Technologie und die Wissenschaft waren Teil eines einzigen, sehr komplexen sozialen Prozesses, in dem jeder Bereich die Mittel für die Entwicklung der anderen schuf.

Die Konzeptionen der Wissenschaften in dieser Zeit spiegelten nicht nur die Natur wider, sondern konzeptualisierten die Natur aktiv auf eine bestimmte Weise. Solche Konzeptualisierungen variieren stark in verschiedenen Zeiten. Heute sind die vorherrschenden Konzeptionen der Physik nicht mehr mechanisch.

Genauer gesagt reichten mechanistische Erklärungen von Phänomenen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr aus, um die Probleme zu lösen, mit denen sich Physiker konfrontiert sahen. Es kam zu einer neuen Revolution in der Physik, die die Sichtweise der Wissenschaftler auf das Universum grundlegend veränderte. Infolgedessen sind die vorherrschenden Konzepte der Physik heute mathematischer Natur. Der Raum (Einstein nannte ihn Raumzeit) wird als (nicht-euklidische) Geometrie verstanden, die Struktur des Atoms als eine Reihe komplexer mathematischer Gleichungen.

Der wichtigste Punkt, den ich hier hervorheben möchte, ist, dass der Geist, das menschliche Bewusstsein, individuell und kollektiv betrachtet, aktiv und nicht passiv ist. Es entscheidet sich, bestimmte Dinge zu betrachten/zu untersuchen und andere nicht. Es sieht manche Dinge als wichtiger und relevanter an als andere. Es interpretiert, was es sieht; tatsächlich beinhaltet der Akt des Sehens diese Interpretation. Infolgedessen hat alles Wissen einen Grad an Subjektivität, der nicht beseitigt werden kann.

Deshalb sehen verschiedene Menschen die Realität unterschiedlich (sie sehen eine „andere Realität”). Ältere Menschen sehen die Realität im Großen und Ganzen anders als junge Menschen. Künstler neigen dazu, die Realität anders zu sehen als Wissenschaftler. Menschen der herrschenden Klasse sehen die Realität anders als Menschen der Arbeiterklasse. Menschen, deren Lebensziel es ist, Geld zu verdienen, sehen die Realität anders als Menschen, die für eine Sache leben. Nicht zuletzt sehen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen die Realität unterschiedlich.

Wissenschaftler haben im Gegensatz zu Künstlern eine gemeinsam vereinbarte Methode, um zu bestimmen, welche Theorie, welche Interpretation richtig ist. Dies geschieht durch Experimente und andere Formen der Theorieprüfung. Infolgedessen scheint die Wissenschaft oft absolutes Wissen zu verkörpern oder sich diesem anzunähern (zumindest bis zur nächsten wissenschaftlichen Revolution). Dennoch wird auch in der Wissenschaft das subjektive Element des Wissens, die Wirkung der Tatsache, dass der Verstand aktiv ist, nicht beseitigt.

Wenn der Verstand/das menschliche Bewusstsein in dem von mir beschriebenen Sinne aktiv ist, was bedeutet es dann, wenn Lenin sagt, dass Wissen die Realität „widerspiegelt”? Nicht besonders viel. Natürlich gibt es eine gewisse Verbindung, eine gewisse „Entsprechung” zwischen Realität und Wissen (sonst wäre die Menschheit wahrscheinlich ausgestorben). Aber es handelt sich sicherlich nicht um eine bloße Reflexion. Lenin konnte seine Ansicht vertreten, dass Wissen eine einfache Reflexion der Realität sei, weil er nicht verstand, dass der menschliche Geist, individuell und kollektiv, als Bewusstsein im Allgemeinen und speziell als Wissenschaft, aktiv ist.

Lenins einseitige und mechanische Vorstellung vom menschlichen Bewusstsein/Wissen (und sein Dogmatismus) führten dazu, dass er die Bedeutung der wissenschaftlichen Entwicklungen übersah, die genau zu der Zeit stattfanden, als er schrieb. Ja, er hat ein Kapitel (Kapitel 5) über die „jüngste Revolution in den Naturwissenschaften” in Materialismus und Empiriokritizismus. Aber Lenin bestreitet4, dass die revolutionären Entwicklungen in den Naturwissenschaften seiner Zeit tatsächlich eine echte Herausforderung für traditionelle wissenschaftliche Vorstellungen darstellen.

Stattdessen wirft er den Wissenschaftlern, die sich mit der Bedeutung und den Auswirkungen dieser neuen Entwicklungen beschäftigen, vor, dass sie, wenn sie philosophieren, nicht das befolgen, was Lenin als den de facto dialektischen Materialismus ansah, den sie als Wissenschaftler praktizieren. Mit anderen Worten: Lenin wirft ihnen eine Art Versagen vor.

Lenin war im Grunde genommen der Meinung, dass die philosophischen Antworten auf die Probleme, mit denen sich Physiker und andere Wissenschaftler herumschlagen, bereits gegeben waren (durch den dialektischen Materialismus) und dass alles gut laufen würde, wenn die Wissenschaftler aufhören würden, sich vom Idealismus und „Fideismus“ verführen zu lassen. Aber gerade die traditionellen Vorstellungen von Wissenschaft, einschließlich Lenins (und Friedrich Engels’) Begriff des dialektischen Materialismus, konnten keine zufriedenstellenden Antworten mehr auf die Fragen geben, die durch die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen aufgeworfen wurden. Infolgedessen leugnet Lenin am Ende die Existenz der Revolution in den Naturwissenschaften, von der er behauptet, sie zu diskutieren.

Dass Lenin nicht kapierte, was damals in der Physik wirklich ablief, zeigt sich in seinen Versuchen, konkret darüber zu reden. Schau dir mal die folgenden beiden Sätze an:

„Die Naturwissenschaft, im Jahre 1872 sowohl wie im Jahre 1906, suchte, sucht und findet – zumindest ertastet sie – das Atom der Elektrizität, das Elektron, im dreidimensionalen Raum. Für die Naturwissenschaft steht es außer Frage, daß der Stoff ihrer Forschung nirgendwo anders existiert als im dreidimensionalen Raum, und folglich existieren auch die Teilchen dieses Stoffes, und mögen sie auch so klein sein, daß wir sie nicht sehen können, „unbedingt“ in dem nämlich dreidimensionalen Raum.“ (Materialismus und Empiriokritizismus, S. 177.)

Von der Frage des „Stoffes” einmal abgesehen, lag Lenin in Bezug auf die Frage des dreidimensionalen Raums völlig falsch. Lenin schrieb, nachdem Albert Einstein seine Abhandlung über die Spezielle Relativitätstheorie (1905) veröffentlicht hatte, in der er die Lokalität und Variabilität der Zeit postulierte und sie damit als eine Art vierte Dimension etablierte. (Orte im Raum – was Einstein als Raumzeit bezeichnete – werden mathematisch durch vier Zahlen definiert, wobei drei die traditionellen Dimensionen und eine vierte die Zeit repräsentieren.) Heute denken Kosmologen, also diejenigen, die die ultimative Struktur des Universums erforschen und darüber spekulieren, in Theorien, die davon ausgehen, dass das Universum viel mehr als vier Dimensionen hat. Wie wäre es zum Beispiel mit zehn?

(Ist es vielleicht unfair, Lenin dafür zu kritisieren, dass er nicht ganz auf dem neuesten Stand der damaligen Entwicklungen in der Physik war, insbesondere da Einsteins Theorie relativ unbekannt, nicht akzeptiert und in keiner Weise bestätigt war? Ich glaube nicht. Wer hat Lenin gebeten, ein Buch über Probleme der Philosophie im Lichte der damals stattfindenden wissenschaftlichen Revolution zu schreiben? Lenin hängt sich selbst auf, weil er das Thema angesprochen hat.)

Es ist kein Zufall, dass die Person, gegen die Lenin mit den zitierten Sätzen polemisiert, kein Geringerer als Ernst Mach ist, den Einstein als einen seiner wichtigsten frühen Einflüsse bezeichnete. Obwohl ich dem Thema in einem so begrenzten Raum nicht gerecht werden kann, lohnt es sich, näher darauf einzugehen. Denn die Frage, die Mach aufwarf, sollte zu einem grundlegenden Anliegen der Physik des 20. Jahrhunderts werden.

In diesem Abschnitt seines Buches diskutiert Lenin Machs eher zögerliche Empfehlung, dass Physiker das Newtonsche Konzept von absolutem Raum und Zeit hinterfragen und vielleicht sogar aufgeben sollten:

„In der heutigen Physik, meint er, gilt noch die Newtonsche Auffassung von absoluter Zeit und absolutem Raum (S. 442-444), von Zeit und Raum als solchen. Diese Annahme erscheint „uns“ sinnlos, fährt Mach fort, … In der Praxis sei diese Auffassung allerdings [unschädlich] (S. 442) geblieben und deshalb lange einer ernsten Kritik entgangen.“ (Materialismus und Empiriokritizismus, S. 175.)

Für Lenin ist dieser Vorschlag „schädlich“ und muss abgelehnt werden. Warum? Weil „Machs idealistische Auffassung von Raum und Zeit, denn erstens öffnet sie dem Fideismus Tür und Tor, zweitens aber verführt sie Mach selbst zu reaktionären Schlußfolgerungen“ (Materialismus und Empiriokritizismus, S. 176.)

Was genau sind diese reaktionären Schlussfolgerungen?

Zum Beispiel schrieb Mach 1872, dass „man sich die chemischen Elemente nicht in einem dreidimensionalen Raum vorstellen muss“ (Erhaltung der Arbeit, S. 29, wiederholt auf S. 55). Dies zu tun würde bedeuten, „uns selbst eine unnötige Einschränkung aufzuerlegen. Es ist genauso wenig nötig, das bloß Gedachte räumlich, also in Bezug auf das Sichtbare und Greifbare, zu denken, wie es nötig ist, es in einer bestimmten Tonhöhe zu denken.“ (27) „Warum es bis jetzt nicht gelungen ist, eine befriedigende Theorie der Elektrizität herzustellen, das liegt vielleicht mit daran, daß man sich die elektrischen Erscheinungen durchaus durch Molekularvorgänge in einen Raume von drei Dimensionen erklären wollte.“ (30). (Materialismus und Empiriokritizismus, S. 179.)

Für Lenin ist das Unsinn.

„Eine vom Standpunkt jenes unumwundenen und nicht verworrenen Machismus, den Mach 1872 offen verteidigte, vollkommen unbestreitbare Überlegung: Wenn man Moleküle, Atome, kurz die chemischen Elemente nicht empfinden kann, so sind sie eben „das bloß Gedachte“. Ist dem aber so, und haben Raum und Zeit keine objektiv reale Bedeutung, dann ist es klar, daß man durchaus nicht verpflichtet ist, sich die Atome räumlich vorzustellen! Mögen sich Physik und Chemie auf einen Raum von drei Dimensionen, in dem die Materie sich bewegt, „beschränken“ – man könne dennoch, um die Elektrizität zu erklären, deren Elemente in einem nicht dreidimensionalen Raum suchen!“ (Materialismus und Empiriokritizismus, S. 176.)

Unabhängig davon, woher er philosophisch kam, war Machs Vorschlag (man beachte, dass er „vielleicht” schreibt), dass Wissenschaftler sich nicht auf die traditionelle Newtonsche Vorstellung von Raum und Zeit beschränken sollten, zutiefst prophetisch. Heute ist dies ein grundlegender Grundsatz der Physik. Die Relativitätstheorie mit ihrer Annahme, dass Zeit eine vierte Dimension ist, wurde, wie wir schon gesagt haben, direkt von Mach beeinflusst. In der Quantendynamik und ihren späteren Ausprägungen (Quantenelektrodynamik, Quantenchromodynamik) können Atome und ihre Bestandteile nicht räumlich gedacht werden, Zeit ist umkehrbar und traditionelle Logik gilt nicht.

Was würde Lenin dazu sagen?

Der Punkt ist nicht, dass Machs Philosophie richtig und Lenins falsch war. Der Punkt ist 1) Lenin war sich der wahren Natur der „Revolution in den Naturwissenschaften”, über die er schrieb und die die Menschen, gegen die er polemisierte, so sehr beschäftigte, nicht bewusst.

2) Noch wichtiger ist, dass Lenin sich durch seine philosophischen Vorurteile davon abhalten ließ, eine Idee, die zu einem Grundprinzip der Physik dieses Jahrhunderts werden sollte, überhaupt in Betracht zu ziehen, geschweige denn zu akzeptieren. Weil Lenins Ansicht nach Machs Sichtweise „dem Fideismus Tür und Tor öffnet“ und „Mach selbst dazu verleitet, reaktionäre Schlussfolgerungen zu ziehen“, verurteilt Lenin Machs Vorschlag, dass Wissenschaftler sich nicht auf die traditionelle Sichtweise von Raum und Zeit „beschränken“ sollten, und weigert sich sogar, in Betracht zu ziehen, dass die Realität mehr als drei Dimensionen haben könnte.

(Ich denke, das ist der Keim für den Versuch, Wissenschaftlern mit Ideologie vorzuschreiben, was sie tun und wie sie denken sollen, der unter Josef Stalin in Russland weit verbreitet war (mit entsprechenden Strafen, einschließlich Hinrichtung, für diejenigen Wissenschaftler, die sich nicht beugen wollten). Wenn eine bestimmte Theorie, These oder Annahme nicht mit (der Vorstellung von) dialektischem Materialismus vereinbar ist und/oder zu „reaktionären Schlussfolgerungen“ führt, ist sie a priori falsch und kann nicht einmal in Betracht gezogen werden. Im Namen der Wissenschaft wird die Ideologie über die Wissenschaft gestellt und maßt sich an, ihr Vorschriften zu machen.

(Ob Lenin selbst jemals versucht hat, Wissenschaftlern vorzuschreiben, wie sie denken und was sie tun sollen, ist nicht relevant. Relevant ist vielmehr, dass, wenn eine Partei mit Lenins Auffassung von Philosophie und Wissenschaft an die Macht kommt, es sehr wahrscheinlich ist, dass jemand in dieser Partei früher oder später versuchen wird, Wissenschaftlern vorzuschreiben, was sie tun und wie sie denken sollen.)

Aber Lenins Bemerkung, dass die Realität nur drei Dimensionen habe, beinhaltet mehr als nur Unwissenheit und (darf ich das sagen?) Arroganz. Sie impliziert eine bestimmte Vorstellung von der Beziehung zwischen Wissen und Wahrheit, Theorie und Realität.

Das ist eine Tendenz zu dem, was ich gerne als „Hypostasierung der Theorie” bezeichne. Mit diesem großen Wort (ich kann es kaum aussprechen) meine ich die Tendenz zu glauben, dass Theorie und Konzepte realer sind und mehr Substanz haben als die Realität, die sie zu erklären vorgeben.

Das ist das Gegenteil von dem, wozu Ernst Mach neigte. Mach betrachtete wissenschaftliche Konzepte und Theorien als „bloße Gedanken”, als eine Art Hilfsmittel, als Möglichkeiten für den menschlichen Verstand, Empfindungen oder Daten zu ordnen; die Frage, ob sie im traditionellen Sinne des Wortes wahr waren oder nicht, war irrelevant. Die einzige sinnvolle Frage, die man sich stellen muss, lautet: Ordnet eine bestimmte Theorie die Daten zweckmäßig? Oder, negativ formuliert: Fällt irgendeine der Daten außerhalb der Grenzen der Theorie? Dies ist eine Art Herabwürdigung der Theorie, eine Leugnung der Realität oder Wahrheit der Theorie.

Im Gegensatz dazu neigt Lenin dazu, der Theorie eine größere Wahrheit oder Substanz zuzuschreiben, als sie vernünftigerweise beanspruchen kann. Sobald eine bestimmte Theorie oder ein bestimmtes Konzept als „wahr“ erwiesen ist, hat es nach Lenins Ansicht mehr Wahrheit in sich als die Realität, die es beschreiben soll.

Dies zeigt sich in seiner Ansicht, dass die Realität nur dreidimensional ist und nur dreidimensional sein kann. Dass die Realität mehr als drei Dimensionen haben könnte, erscheint ihm völlig bizarr. Das liegt daran, dass Lenin nicht erkennt, dass Dimensionalität ein Konzept ist – genauer gesagt, eine Geometrie –, eine Erfindung des menschlichen Geistes.

(Die „gewöhnliche” Realität, also die Realität, die den Menschen im Allgemeinen präsent ist, lässt sich vielleicht fast perfekt in drei Dimensionen definieren/erklären. Das bedeutet aber nicht, dass die Realität drei Dimensionen hat und nur drei Dimensionen haben kann. Ebenso lässt sich das Universum heute am besten durch die Relativitätstheorie beschreiben, die den Raum (die Raumzeit) in vier Dimensionen beschreibt, aber das heißt nicht, dass die Realität vier Dimensionen hat und nur haben kann.)

Lenin nimmt das Konzept (in diesem Fall die Dreidimensionalität) und macht es zur Realität. Diese Tendenz, „Theorie zu hypostasieren”, zeigt sich auch in seiner Bemerkung, die wir in unserer letzten Sendung zitiert haben, dass Marx‘ Geldtheorie eine ewige Wahrheit habe, vergleichbar mit der Tatsache, dass Napoleon am 5. Mai 1821 starb. (Wir lassen die Frage, inwieweit diese „Tatsache” im Hinblick auf die Relativitätstheorie Bestand hat, mal beiseite: Was für die Erde und ihre Umgebung ein bestimmtes Datum war, war für andere Teile des Universums viele verschiedene Daten. In einigen Teilen des Universums ist Napoleon noch nicht gestorben. In anderen ist er noch nicht geboren.)

Nun ist Marx‘ Geldtheorie eine brillante Theorie (ebenso wie seine Analyse des Kapitalismus, meiner Meinung nach), aber zu behaupten, sie habe eine ewige Wahrheit, geht das nicht ein bisschen zu weit? Selbst Marx, arrogant wie er war, behauptete für seine Theorie nur eine Art „epochale“ Wahrheit, d. h., dass sie nur für eine bestimmte historische Epoche gültig ist.

Aber wenn man davon ausgeht, dass Lenin im Grunde meinte, Marx‘ Geldtheorie sei absolut wahr, kann man das meiner Meinung nach heute nicht mehr ernsthaft behaupten. Zum einen hat sie einen philosophischen Inhalt (über die Natur menschlicher Wesen, dass die Existenz von Geld ihre Entfremdung voneinander und diese wahre Natur in Reflexion widerspiegelt), der weder bewiesen noch widerlegt werden kann.

Viel wichtiger ist aber, dass ich nicht glaube, dass die Existenz absoluter Wahrheit und absoluten Wissens (was natürlich die Aussage bedeutet, dass Marx‘ Geldtheorie ewige Wahrheit hat) vernünftig behauptet werden kann.

Dies wird durch eine der wichtigsten Errungenschaften der Physik in diesem Jahrhundert nahegelegt, nämlich die Theorie der Quantenmechanik, die bei der Erklärung und Vorhersage atomarer und subatomarer Phänomene sehr erfolgreich war. Einer der Grundsätze dieser Theorie ist, dass es unmöglich ist, gleichzeitig die Geschwindigkeit und die Position eines subatomaren Teilchens, zum Beispiel eines Elektrons (oder eines Photons elektromagnetischer Strahlung), genau zu messen. Je genauer man seine Position misst, desto größer ist die Variabilität der Werte für seine Geschwindigkeit. Wenn man die Geschwindigkeit eines Elektrons genau messen würde, könnte man seine Position überhaupt nicht messen.

Das ist laut der Theorie nicht einfach nur was, das aus den Grenzen unseres Verstandes und unserer Messfähigkeit kommt. Es gibt eine gewisse Zufälligkeit, einen gewissen Indeterminismus in der Natur atomarer und subatomarer Phänomene. Je mehr man versucht, Gewissheit über einen Aspekt zu erlangen, desto weniger sicher werden andere.

Ein weiterer Aspekt der Theorie ist, dass subatomare Teilchen einen zweiseitigen Charakter haben. Ein Teil ihres Verhaltens lässt sich erklären, indem man annimmt, dass sie Teilchen sind, dass sie einfach nur Teilchen sind. Andere Aspekte ihres Verhaltens lassen sich erklären, indem man annimmt, dass sie Welleneigenschaften haben. Außerdem lassen sich diese unterschiedlichen Verhaltensweisen/Eigenschaften nicht kombinieren. Sie zeigen entweder die eine oder die andere Verhaltensweise/Eigenschaft, niemals beide gleichzeitig. Welche Eigenschaft sich zeigt, hängt davon ab, welches Experiment man durchführt, um danach zu suchen.

Eine Erklärung für diese verwirrende Situation, die von modernen Physikern am meisten akzeptiert zu sein scheint (soweit sie diese Dinge konzeptualisieren: Man kann einfach die Gleichungen verwenden – wir sprechen hier von hochkomplexer Mathematik –, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was sie „bedeuten“), ist, dass die Welleneigenschaften einen Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit darstellen, ein bestimmtes Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt dort zu finden.

Der wichtigste Punkt ist, dass auf atomarer und subatomarer Ebene ein gewisses Maß an Zufälligkeit oder Unsicherheit darüber besteht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht. Zumindest auf dieser Ebene ist die Realität nicht determiniert. Es gibt keine absolute Wahrheit; die Realität ist nicht genau dies und nicht jenes. Sie kann beides und/oder keines von beiden sein.

Und wo es keine absolute Wahrheit gibt, in dem Sinne, dass die Realität nicht genau bestimmt ist, kann es auch kein absolutes Wissen geben. Man kann nur annäherndes Wissen haben. Man kann nicht mit Sicherheit wissen, was passieren wird, man kann nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten haben, dass etwas passieren wird. Diese Wahrscheinlichkeit kann sehr hoch sein, aber es ist immer eine Frage der Wahrscheinlichkeit, nicht der Gewissheit.

Während das für mich bedeutet, dass die gesamte natürliche Realität probabilistisches Verhalten zeigt und dass das Wissen über „Makro”-Phänomene ebenfalls nur annähernd sein kann (in vielen Fällen ist die Variabilität zu gering, um praktische Auswirkungen zu haben), scheinen viele Physiker die Realität zu unterteilen. Auf subatomarer Ebene gibt es Unbestimmtheit und Wahrscheinlichkeiten. Auf supraatomarer Ebene gibt es Determinismus und absolute Vorhersagbarkeit. In den letzten Jahren hat sich die Physik jedoch zunehmend mit der Untersuchung von Zufallsprozessen beschäftigt, also Prozessen, die von Natur aus zufällig und unvorhersehbar, „chaotisch” sind. Ich vermute, dass in den nächsten Jahren immer mehr Prozesse, die bisher als determiniert und vorhersehbar galten, in die Kategorie der zufälligen oder zumindest etwas unbestimmten Prozesse fallen werden.

Was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass zwischen der unbestimmten, probabilistischen Natur der Realität und den Grenzen unserer Messfähigkeit und unseres Verstandes alles Wissen über die natürliche Welt bestenfalls annähernd und probabilistisch ist. Es gibt kein absolutes Wissen. Man erhält mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeiten. In einigen Fällen ist die Wahrscheinlichkeit so hoch, dass sie fast sicher ist, aber sie ist dennoch nicht sicher.

Auf die Gefahr hin, zu vereinfachen, ist es vielleicht besser zu sagen, dass die Realität immer komplizierter ist als jede gegebene Theorie. Die Realität beinhaltet Veränderung, Neuheit. Die Theorie beinhaltet, vielleicht aufgrund der Natur des menschlichen Verstandes, Einheitlichkeit oder, um einen Begriff zu verwenden, der in der Physik derzeit sehr in Mode ist, Symmetrie. Nun gibt es eindeutig Symmetrie in der Natur, sonst wären wissenschaftliche Theorien nicht so erfolgreich, wie sie es sind.

Aber was wäre, wenn (wie ich vermute) die Realität nicht völlig symmetrisch wäre? Was wäre, wenn sie nicht einheitlich wäre? Was wäre, wenn sie auf einer grundlegenden Ebene asymmetrisch wäre? Dann gäbe es immer einen Aspekt der Realität, der nicht in Theorien einbezogen werden könnte, die aufgrund ihrer Natur Einheitlichkeit und Symmetrie implizieren, selbst wenn diese „gebrochen” ist. Wenn dem so ist, bedeutet das, dass jede Theorie, egal wie erfolgreich sie bei der Vorhersage von Phänomenen ist, egal wie perfekt sie auch erscheinen mag, irgendwann auf ein Phänomen stoßen wird, das sie nicht erklären oder vorhersagen kann und auch nicht erklären oder vorhersagen kann. Oder anders ausgedrückt: Früher oder später werden Wissenschaftler ein Phänomen entdecken, das mit der aktuellen Theorie nicht erklärbar und unvereinbar ist.

(Wenn das so ist, dann ist Lenins Hypostasierung der Theorie tatsächlich eine Form genau des Idealismus, den Lenin so sehr hasste. Theorie ist eine Idee, ein Konzept. Zu glauben, dass wissenschaftliche Theorien die wahre Realität repräsentieren, wahrer als die konkrete Realität, die wir sehen, hören und berühren, bedeutet zu glauben, dass die ultimative Realität ideal und nicht materiell ist.)

(Lenin sagt, dass die materielle Realität aus „Materie in Bewegung“ besteht. Aber die Bewegungen dieser Materie werden von den „Bewegungsgesetzen” bestimmt, die von der Wissenschaft entdeckt wurden. Mit anderen Worten: Die Struktur dieser Materie und die Strukturen, aus denen Materie besteht, werden von diesen „Bewegungsgesetzen” bestimmt. Aber diese Bewegungsgesetze sind eine Art Logik. Für Lenin ist also die reale Realität, die bestimmende Struktur der Realität, die Logik, die durch diese „Bewegungsgesetze” definiert wird. Dies ist eine Form des objektiven Idealismus. Ohne es zu wissen, war Lenin ein Idealist.)

Wenn nun auf der Ebene der natürlichen Realität alles Wissen annähernd und probabilistisch ist, sollen wir dann ernsthaft glauben, dass absolutes Wissen möglich ist, wenn es um die soziale Realität, um Geschichte, Ökonomie, Politik usw. geht – kurz gesagt, um Menschen? Ich glaube nicht. Tatsächlich halte ich diese Vorstellung für absurd.

Es ist genau die Entwicklung des menschlichen Geistes/Bewusstseins, die die Komplexität der Motivation (einschließlich Handlungen aus Boshaftigkeit, aus purer Perversität, nur zum Spaß usw.) so sehr vervielfacht, die Menschen so unberechenbar macht. Daher ist absolutes Wissen über Menschen und die menschliche Gesellschaft ausgeschlossen.

Aber Lenin glaubte, dass so ein Wissen möglich ist, ja sogar existiert … in Form des Marxismus.

„Man kann aus dieser aus einem Guß geformten Philosophie des Marxismus nicht eine einzige grundlegende These, nicht einen einzigen wesentlichen Teil wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu entfernen, ohne der bürgerlich-reaktionären Lüge in die Fänge zu geraten.“ (Materialismus und Empiriokritizismus, Gesammelte Werke, Band 13, S. 326.)

„(…) das Kriterium der Praxis – d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten – nur die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt, und nicht die irgendeines Teils, einer Formulierung u. dgl. beweist, so ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist (…)“ (S. 143)

Und das ist, wie ich in unserer letzten Ausgabe geschrieben habe, die philosophische Wurzel des Staatskapitalismus. Wenn eine Partei, die glaubt, dass ihre Ideologie die absolute Wahrheit ist (und jede andere Ideologie eine „bürgerlich-reaktionäre Lüge“), durch eine bewaffnete Revolution an die Macht kommt, wird sie der Wahrung der demokratischen Rechte anderer politischer Parteien keine allzu große Priorität einräumen.

Mehr noch, wenn die Herrschaft dieser Partei bedroht ist, wird sie der Wahrung der demokratischen Rechte der Klasse, die sie zu vertreten vorgibt, keine allzu große Priorität einräumen, insbesondere wenn Mitglieder dieser Klasse beginnen, sich in einer Weise zu verhalten, die sie nicht „sollten”. Schließlich ist es diese Partei, die das „wahre Bewusstsein“ der Arbeiter repräsentiert. Daher stehen diejenigen Arbeiter, die andere Parteien oder Organisationen unterstützen, „unter dem Einfluss nicht-proletarischer Ideologien“.

Und ihre politischen Rechte müssen einer Repression unterzogen werden, um die „Herrschaft der Arbeiter“ zu verteidigen.

Und wenn die gesamte Arbeiterklasse aufhört, diese Partei zu unterstützen, wird die Partei sie im Namen der „historischen Interessen der Arbeiterklasse“ politisch entrechten. Mit anderen Worten: Die ideale, abstrakte Arbeiterklasse der marxistischen Theorie wird über die konkreten Arbeiter gestellt und zu einem Instrument der erneuten Versklavung der Arbeiter. Das ist, kurz gesagt, meiner Meinung nach in Russland passiert.

Nachwort. Während des Ersten Weltkriegs las Lenin Hegel, insbesondere dessen „Logik“. Diese Lektüre hatte zwar einen bedeutenden Einfluss auf Lenins Denken, dürfte aber seinen Glauben an die Möglichkeit absoluten Wissens nicht geschwächt haben. Wenn überhaupt, dann hat sie ihn wahrscheinlich noch verstärkt. Hegels Philosophie dreht sich um die Idee, dass absolutes Wissen nicht nur möglich ist, sondern dass Hegels System dieses absolute Wissen ist.

Schlussfolgerung

Mittlerweile ist meine allgemeine Einschätzung des Leninismus wohl ziemlich klar. Ich denke zwar, dass der Leninismus nicht komplett, also zu 100 % autoritär ist, sondern dass es auch einige wirklich befreiende und demokratische Impulse gibt, aber ich glaube, dass diese Impulse von denen, die in Richtung Staatskapitalismus gehen und diesen implizieren, bei weitem überwiegen. Außerdem sind letztere so stark, dass sie die demokratischen Impulse selbst verzerren, anstatt sie nur zu überschatten. Zum Beispiel wird die Befürwortung einer klassenlosen und staatenlosen Gesellschaft in Staat und Revolution durch Lenins Vorstellung, wie dies zu erreichen ist, ins Gegenteil verkehrt, z. B. durch den Aufbau eines starken zentralistischen Staates nach dem Vorbild des deutschen Postsystems.

Auch wenn sich der Großteil der Serie auf die staatskapitalistischen Elemente im Leninismus konzentrierte, lohnt es sich wahrscheinlich, meine Ansichten dazu zusammenzufassen. Ich glaube, dass von den verschiedenen Tendenzen innerhalb des Leninismus, die in Richtung Staatskapitalismus weisen, drei die wichtigsten sind:

Erstens die Tatsache, dass der Leninismus zwar die Errichtung einer staatenlosen Gesellschaft befürwortet, aber nicht nur vorschlägt, den Staat zur Erreichung dieses Ziels zu nutzen, sondern den Einsatz des Staates als den wichtigsten Weg zur Erreichung dieses Ziels ansieht. Nicht zuletzt soll dieser Staat, obwohl er als proletarischer Staat, als Diktatur des Proletariats, bezeichnet wird, mit relativ wenigen Ausnahmen nach hierarchischen und bürokratischen, also kapitalistischen Prinzipien strukturiert sein. Ist es angesichts dessen verwunderlich, dass das Ergebnis der bolschewistischen Revolution von 1917 keine klassenlosen, staatenlosen Gesellschaften waren, sondern monströse, klassenorientierte, staatlich dominierte Sozialsysteme?

Die zweite staatskapitalistische Tendenz innerhalb des Leninismus, die ich für entscheidend halte, ist sein Eintreten für zwanghafte, rücksichtslose Methoden. Während eine gewisse Form von bewaffneter Gewalt/Zwang in fast jeder Revolution unvermeidlich ist, schwelgt Lenin geradezu darin: die Notwendigkeit, „rücksichtslos gegenüber unseren Feinden“ zu sein, „vor den rücksichtslosesten Maßnahmen nicht zurückzuschrecken“, „zu schießen und zu schießen und noch mehr zu schießen“. Da Moral in der Geschichte liegt, ihr immanent ist, d. h. Moral findet ihre Erfüllung im Ergebnis der Geschichte (wie Marx in Anlehnung an Hegel argumentiert), besteht keine Notwendigkeit, moralisch zu handeln, es gibt keine Moral im Bereich der Politik. Aber wie kann moralischer Neutralismus außerhalb der marxistischen/hegelianischen (oder einer anderen vergleichbaren) Metaphysik zu einer moralischen Gesellschaft führen? Das kann er nicht und hat er auch nicht getan.

Die dritte fundamentale staatskapitalistische Tendenz im Leninismus, die alle drei miteinander verbindet, ist Lenins Glaube an Determinismus und absolutes Wissen. Die physische und soziale/historische Realität ist absolut determiniert, der Marxismus repräsentiert das wahre Wissen über diese Realität (er nähert sich dieser Realität immer mehr an), die bolschewistische Fraktion/Partei hat die einzig richtige Interpretation des Marxismus – das sind die Grundprinzipien des bolschewistischen Denkens. Und sie weisen direkt auf die Errichtung einer Diktatur der Partei über das Proletariat im Namen des Proletariats selbst hin. Wenn nur die Bolschewiki den Marxismus verstehen, dann haben nur sie das wahre proletarische sozialistische Bewusstsein; sie sind die geistigen Vertreter des Proletariats. Wenn das Proletariat mit der bolschewistischen Partei nicht einverstanden ist, dann ist es unter den Einfluss nicht-proletarischer Klassen geraten; es ist nicht mehr das wahre Proletariat. Mit dieser Idee fest in ihren Köpfen verankert, war die Unterdrückung aller Oppositionsparteien und das Verbot oppositioneller Fraktionen sogar innerhalb der bolschewistischen Partei durch die Bolschewiki fast unvermeidlich.

Dieser letzte Faktor gewinnt noch mehr an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass diese Haltung, dieser absolute Glaube, dass sie und nur sie das Proletariat – die Geschichte, die Moral und die Wahrheit – repräsentieren, grundlegend für die Mentalität der Bolschewiki war. Sie schuf eine psychologische und moralische Kultur – einen rücksichtslosen, parteiorientierten Fanatismus –, die alles verschlang und selbst die formal demokratischen Aspekte der bolschewistischen Theorie ihres Inhalts beraubte. Aus dieser Kultur ging ein Mann wie Stalin hervor, und aufgrund dieser Kultur war die bolschewistische Partei nicht in der Lage, ihn zu stoppen. Stalin gehört zwar der Vergangenheit an, aber die Möglichkeit neuer Stalins bleibt bestehen, weil die intellektuelle/moralische Kultur des Leninismus nach wie vor dieselbe ist wie eh und je.

Diese drei Tendenzen (zusammen mit den anderen, die in früheren Artikeln besprochen wurden) erklären meiner Meinung nach das grundlegende Problem der Strategie und Taktik, die die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution verfolgten. Es war das Versagen, das zu bewahren, was ich als Einheitsfrontcharakter der Russischen Revolution bezeichne, ja sogar das Versagen, dies überhaupt zu versuchen.

Die Russische Revolution, einschließlich der Februarrevolution und der Oktoberrevolution, hatte einen Einheitsfrontcharakter. Damit meine ich, dass sie wie alle populären Revolutionen das Ergebnis mehr oder weniger unterschiedlicher Bewegungen verschiedener Klassen, Gruppen und politischer Organisationen war, die sich zusammenschlossen, um ein unterdrückerisches Regime und eine unterdrückerische Gesellschaftsordnung zu stürzen. Die wichtigsten Klassen waren die Arbeiter sowie die Bauern. Viele verschiedene Nationalitäten, z. B. Ukrainer, Belarussen, Finnen, Georgier usw., kämpften für die Befreiung von der großrussischen Herrschaft. Verschiedene politische Organisationen waren daran beteiligt.

Das traf natürlich auf die Februarrevolution zu, aber auch auf die Oktoberrevolution der Bolschewiki. Während Arbeiter (meist Bauern in Uniform) die Revolution in den Städten durchführten, führten die Bauern, die einen im Sommer begonnenen Aufstand verstärkten, den Aufstand auf dem Land durch, vertrieben die Grundbesitzer, brannten ihre Güter nieder und beschlagnahmten das Land. (Die Bedeutung dieses Teils des Kampfes wird nicht immer anerkannt.)

Die Revolution führte auch zur Fortsetzung der Revolte der unterdrückten Nationalitäten. Und die organisierten politischen Kräfte, die die Revolution anführten, soweit sie überhaupt angeführt wurde, bestanden nicht nur aus der bolschewistischen Partei, sondern auch aus dem linken Flügel der Sozialrevolutionären Partei (den „Linken SRs”) und verschiedenen anderen linken sozialistischen und Anarchisten.

Obwohl unklar ist, ob die revolutionären Kräfte angesichts der Isolation der Revolution, der Armut des Landes usw. hätten durchhalten können, lag meiner Meinung nach der Schlüssel zu ihrem Überleben in der Aufrechterhaltung des Einheitsfrontcharakters der Revolution, d. h. ihres Charakters als eine Art Koalition verschiedener Klassen, Nationalitäten und Organisationen. Dies hätte bedeutet, bestimmte Regeln für das politische Funktionieren in den Sowjets, Arbeiterräten und anderen Massenorganisationen auszuarbeiten. Vor allem hätte es eine Verpflichtung seitens der großen politischen Parteien, insbesondere der Bolschewiki, erfordert, nicht zu versuchen, die anderen Organisationen zu verdrängen oder zu unterdrücken.

Leider verfolgten die Bolschewiki eine solche Politik nicht. Sie versuchten es nicht einmal. Von Anfang an bemühten sich die Bolschewiki, so viel politische Macht wie möglich in ihren Händen zu konzentrieren. Obwohl sie sieben oder acht Monate lang die formale Einheitsfront mit den Linken Sozialrevolutionären aufrechterhielten, scheint es mir, dass sie davon ausgingen, dass dieses Bündnis irgendwann auseinanderbrechen würde, und sich kaum bemühten, es aufrechtzuerhalten.

Der erste große Streit zwischen den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären betraf die Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit den Deutschen und Österreichern im Spätwinter 1918. In den politischen Debatten innerhalb der bolschewistischen Partei über die Unterzeichnung eines Vertrags (die Partei hätte sich wegen dieser Frage fast gespalten) wurde von Lenin oder anderen kaum oder gar nicht darüber nachgedacht, welche Auswirkungen dies auf die Linken Sozialrevolutionäre haben würde, die sich gegen die Unterzeichnung eines Vertrags aussprachen. Tatsächlich geht Lenin in seinen Reden und Schriften zu diesem Thema praktisch davon aus, dass die Linken Sozialrevolutionäre irrelevant sind und es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Bündnis zerbricht.

Die Linken Sozialrevolutionäre waren aber selbst ziemlich sektiererisch, und da die ganze Frage, ob der Vertrag unterzeichnet werden sollte, problematisch ist, sagt das Verhalten der Bolschewiki in dieser Frage nicht viel aus. Viel mehr lässt sich aber über die Art und Weise sagen, wie die Bolschewiki im späten Frühjahr und Frühsommer 1918 mit den Bauern umgingen.

Wie wir oben schon erwähnt haben, war die Oktoberrevolution das Ergebnis eines doppelten Kampfes, der einerseits von denArbeitern (etwa drei Millionen) und andererseits von den Bauern (viele Millionen) geführt wurde. Die Bolschewiki versuchten, dieses Bündnis direkt nach dem Oktoberaufstand zu festigen, indem sie verfügten, dass das Land den Bauern gehörte. (Sie hatten wirklich keine andere Wahl. Die Bauern hatten das Land selbst besetzt, und die Bolschewiki hatten auf dem Land fast keine Organisation und keine Unterstützerbasis.)

Ich denke, die einzige Chance für das revolutionäre Regime, zu überleben, war, das Bündnis zwischen den Arbeitern und Bauern aufrechtzuerhalten. Aber ab Juni 1918 haben die Bolschewiki unter dem Vorwand, „die Revolution aufs Land zu bringen“, einen massiven Angriff auf die Bauern gestartet. In der Überzeugung, dass die Kulaken (die besser situierten Bauern, die reich genug waren, um andere Bauern als Arbeiter anzustellen) Getreide aus den von Hunger bedrohten Städten horteten, schickten die Bolschewiki bewaffnete Arbeiter in die Dörfer, um das angeblich gehortete Getreide mit Gewalt zu beschlagnahmen. Die Bolschewiki glaubten auch, dass es eine große Gruppe armer Bauern gab (Bauern, die nicht genug Land hatten und sich deshalb als Arbeiter bei den Kulaken verdingen mussten), die die Politik der Bolschewiki unterstützen würden. Tatsächlich waren nach den Landbeschlagnahmungen Ende 1917 fast alle Bauern sogenannte Mittelbauern (Bauern, die genug Land hatten, um sich und ihre Familien zu ernähren, aber nicht reich genug waren, um externe Hilfe anzuheuern). Es gab praktisch keine Kulaken oder armen Bauern.

Die Politik der Bolschewiki bestand, wie sich herausstellte, nicht darin, „den Klassenkampf auf das Land zu tragen“, sondern in einem regelrechten Angriff auf die große Mehrheit der Bauern und einer Aufkündigung des Bündnisses zwischen den Arbeitern in den Städten und den Bauern auf dem Land. Es war diese Taktik, die schließlich das Bündnis der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären zerbrach und den konterrevolutionären Kräften (die zu diesem Zeitpunkt praktisch besiegt waren) eine Massenbasis verschaffte.

Das Ergebnis war ein blutiger Bürgerkrieg, der über zweieinhalb Jahre dauerte, die russische Ökonomie praktisch zerstörte und das Land verwüstete. Als die Bolschewiki schließlich siegten (die Bauern bevorzugten sie, da sie ihnen zumindest ihr Land ließen, gegenüber den Weißen Konterrevolutionären, die ihnen bei der Eroberung eines Gebiets dieses wegnahmen), wurden sie von fast allen gehasst.

Manchmal wurde argumentiert, dass die Bolschewiki keine andere Wahl hatten, als das Getreide zu beschlagnahmen, weil die Menschen in den Städten hungerten und den Bauern nichts im Tausch gegen das Getreide zu verkaufen hatten. Die Antwort darauf ist jedoch, dass die Bolschewiki 1921, nach dem Bürgerkrieg, nachdem das Land verwüstet war und die Städte den Bauern noch weniger im Tausch gegen Getreide anzubieten hatten, auf Drängen Lenins die Neue Ökonomische Politik (NEP) einführten, die den Bauern das Recht gab, Getreide frei zu handeln, nachdem sie eine „Sachsteuer” an den Staat gezahlt hatten. Wäre diese Politik schon 1918 verfolgt worden, hätte man einen Großteil, wenn nicht sogar die meisten Zerstörungen des Bürgerkriegs vermeiden können! Die konterrevolutionären Kräfte hätten keine nennenswerte Unterstützerbasis gehabt.

Meiner Meinung nach war der Kurs der Bolschewiki nicht nur ein Fehler. Er ergab sich logisch aus der grundlegenden Weltanschauung und Politik der Bolschewiki, insbesondere aus den oben erwähnten staatskapitalistischen Tendenzen. Das Hauptanliegen der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution war nicht, den Einheitsfrontcharakter der Revolution aufrechtzuerhalten. Ihr Hauptinteresse galt der Konsolidierung möglichst großer politischer Macht in ihren Händen und deren Erhalt mit allen notwendigen Mitteln, unabhängig davon, ob diese Mittel den volksdemokratischen Charakter der Revolution selbst untergruben oder nicht.

Da ihrer Ansicht nach die Arbeiterklasse die einzige konsequent revolutionäre Klasse ist, da nur die Bolschewiki mit ihrer einzig wahren Interpretation des Marxismus die Arbeiterklasse wirklich vertreten, da die wichtigste politische Aufgabe die Erlangung und Aufrechterhaltung der Staatsmacht ist und da brutale Methoden nicht nur erlaubt, sondern sogar bevorzugt sind, ordneten die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution alle anderen Anliegen einem einzigen unter: der Aufrechterhaltung ihrer Macht über den Staat.

Früher dachte ich, dass die Hauptgründe für das Handeln der Bolschewiki in externen Faktoren lagen, vor allem in der Armut des Landes, der Tatsache, dass es in den ökonomisch weiter entwickelten Ländern keine erfolgreichen Arbeiterrevolutionen gab, usw. Heute glaube ich, dass es, wenn es solche Revolutionen gegeben hätte, zumindest in Russland nicht viel anders gekommen wäre. Das Land wäre nicht zerstört worden, und vielleicht wäre die Herrschaft der Bolschewiki weniger brutal gewesen. Aber Russland wäre immer noch von den Bolschewiki regiert worden, und das soziale System, das sich etabliert hätte, wäre staatlicher Kapitalismus gewesen, nicht libertärer Sozialismus. Denn die grundlegende Politik der Bolschewiki, vor allem ihr Fokus auf die Nutzung des Staates und ihre Überzeugung, absolutes Wissen über Geschichte, Gesellschaft und Politik zu besitzen, war staatskapitalistisch.

Es ist eine Sache, den Leninismus zu analysieren und zu kritisieren, aber es ist eine andere, neue politische Ideen zu entwickeln, die die rückschrittlichen Tendenzen der Vergangenheit vermeiden. Diese neue Aufgabe, vor der die Revolutionary Socialist League steht, wird ein bisschen machbarer, wenn wir eine grundlegende Eigenschaft der Geschichte und Entwicklung unserer Organisation erkennen. Das ist die Tatsache, dass sich zwar unsere Politik weiterentwickelt hat, die Werte, die unsere Politik repräsentieren soll, aber gleich geblieben sind, oder genauer gesagt, sich viel langsamer weiterentwickelt haben. Um es vielleicht etwas vereinfacht auszudrücken: Ich glaube nach wie vor, und ich hoffe, dass die RSL dies auch tut, dass der Weltkapitalismus ein ungerechtes und gefährliches System ist, das durch eine internationale Revolution der großen Mehrheit der arbeitenden und unterdrückten Menschen beseitigt werden muss und kann. Das Ziel dieser Revolution ist die Errichtung eines demokratischen und egalitären Sozialsystems, einer Gesellschaft, die direkt und demokratisch von den Mitgliedern der ehemals unterdrückten Klassen regiert wird, in der die für frühere Sozialsysteme charakteristischen extremen Reichtümer beseitigt sind und in der der Staat und andere autoritäre Institutionen abgeschafft wurden.

Bis vor etwa zwei Jahren glaubte ich, dass Lenins Interpretation, Theorie und Praxis des Marxismus eine Verkörperung dieses Ideals darstellte, die sowohl dem Ideal treu war als auch ein praktisches Mittel zu seiner Verwirklichung darstellte. Ich hielt den Leninismus nicht für perfekt, aber angesichts der Alternativen, so wie ich sie verstand, schien er die beste Grundlage zu bieten, auf der eine konsistente Politik entwickelt werden konnte.

Eine solche Ausarbeitung ist meiner Meinung nach das, was die RSL in den letzten 15 Jahren versucht hat. Kurz gesagt, wir haben versucht, eine Interpretation des Leninismus zu entwickeln (wir haben nie die Interpretation anderer akzeptiert), die sowohl unsere grundlegenden Ideale repräsentierte als auch innerhalb der formalen Grenzen des Leninismus blieb.

Ich glaube nicht, dass das alles falsch, völlig inkonsequent oder lächerlich war. Es ist leicht, im Nachhinein zu sagen, dass das, woran wir früher geglaubt haben, dumm war. Aber diese Art des Denkens ignoriert den Lernprozess, der es einem ermöglicht hat, frühere Ideen zu überwinden.

Angesichts unserer Herkunft (im Sinne der Studentenbewegung der 1960er Jahre) und der Tatsache, dass es keine bedeutende organisierte libertäre Strömung gab (weder revolutionär-demokratisch-sozialistisch noch anarchistisch/antiautoritär), sind unsere politische Ausrichtung und Entwicklung durchaus sinnvoll. Und ich glaube immer noch, dass unsere Politik die beste war, die es gab. Wären wir politische Genies gewesen, hätten wir vielleicht eine völlig neue Politik entwickeln können, die weit über das politische Material hinausging, mit dem wir arbeiten mussten. Aber praktisch keine Ideologie entwickelt sich auf diese Weise; selbst die größten intellektuellen Errungenschaften sind eine Synthese aus früheren Strömungen.

Im Nachhinein denke ich, dass unser Hauptfehler darin bestand, Lenin in einer revolutionär-demokratischen Richtung falsch zu interpretieren. Wir tendierten dazu, die Elemente in Lenins Weltanschauung und Praxis (die es tatsächlich gibt), die in eine demokratische Richtung weisen, überzubetonen und die autoritären Elemente herunterzuspielen oder wegzuerklären.

Zum Beispiel haben wir Staat und Revolution mehr Gewicht beigemessen, als es für die Bolschewiki selbst tatsächlich hatte. Wir neigten auch dazu, die autoritären Aspekte dieses Werks zu übersehen oder herunterzuspielen.

Auch wenn das, wie ich heute denke, eine Fehlinterpretation des Leninismus war, war es methodisch gesehen nicht völlig unbegründet. Angesichts unserer Ausgangslage und der offensichtlichen Alternativen war es durchaus logisch, ja sogar klug, zu versuchen, den Rahmen unserer formalen Politik zu „biegen”, um einem zunehmend konsequenten libertären Instinkt Rechnung zu tragen. Letztendlich muss man jedoch Widersprüche lösen, die immer offensichtlicher geworden sind. Man muss einige „große” Entscheidungen treffen. So sollten wir meiner Meinung nach unsere politische Entwicklung betrachten.

Wenn man die Geschichte der RSE in diesem Licht betrachtet, ergeben sich meiner Meinung nach bestimmte Schlussfolgerungen: Erstens besteht der Weg nicht darin, alles über den Haufen zu werfen und zu versuchen, eine völlig neue Politik zu entwickeln. Es gibt viele Dinge, an die wir lange geglaubt haben und an die ich bis heute glaube.

Wie ich oben in anderer Form erwähnt habe, halte ich den Kapitalismus nicht für ein faires oder sehr tragfähiges System. Ich glaube nicht, dass er reformiert werden kann. Ich denke, die Menschheit braucht und sollte versuchen, ein wirklich demokratisches, kooperatives und egalitäres Sozialsystem zu etablieren.

Wenn wir uns hinsetzen und die Implikationen und Auswirkungen dieser wenigen Sätze durchdenken, werden wir meiner Meinung nach schnell erkennen, wie viel von unserer bisherigen Politik wir tatsächlich beibehalten. Ich würde sie sicherlich anders beschreiben als in der Vergangenheit und uns in Bezug auf historische politische Strömungen anders positionieren. Aber wenn wir danach suchen, werden wir meiner Meinung nach eine große Kontinuität in unserem politischen Denken und unserer Entwicklung feststellen. Ich für meinen Teil bin nicht bereit, christlicher Sozialist oder Pazifist zu werden, auch wenn ich glaube, dass wir von Menschen dieser Strömungen lernen können und bereit sein sollten, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Der zweite Punkt, den wir meiner Meinung nach bei unserer Neudefinition im Auge behalten sollten, ist, dass wir uns gegen einen Rechtsruck wehren sollten. Derzeit ist das politische Klima in den Vereinigten Staaten und international konservativ, auch wenn sich dies allmählich zu ändern beginnt.

(Einer der Gründe für diesen Konservatismus ist, dass frühere Radikalisierungen auf Ideologien wie den verschiedenen Formen des Leninismus beruhten, die in Wirklichkeit autoritär und damit letztlich konservativ waren. Die Radikalisierungen legten somit den Grundstein für ihren eigenen Untergang.)

In einer solchen Zeit steht eine politische Strömung wie die unsere, insbesondere wenn sie sich neu definieren will, unter großem, aber oft unsichtbarem Druck, sich nach rechts zu bewegen. Dieser Druck nach rechts kann eine politische Strömung auf verschiedene Weise beeinflussen. Da in Zeiten wie diesen radikale und revolutionäre Ideen im Allgemeinen wenig Anklang finden, besteht ein großer Druck, maximale, „utopische“ Visionen aufzugeben und sich für schrittweise Reformen einzusetzen. Da heute nur noch wenige Menschen an die Möglichkeit einer globalen klassenlosen und demokratischen Gesellschaft glauben, scheint es manchmal einfacher zu sein, sich mit anderen über die Notwendigkeit einiger „realistischer“ Veränderungen einig zu sein. Kurz gesagt, in Zeiten wie diesen gibt es einen starken Druck, reformistisch zu werden und die revolutionäre Opposition gegen den Kapitalismus (sowie den Staatskapitalismus) abzuschwächen. Ich denke, wir sollten uns dem widersetzen.

Angesichts der AIDS-Krise gibt es auch einen starken Drang, in Fragen der Sexualität/Geschlechter(Gender) und damit verbundenen Themen, die allgemein als „zivil-libertär“ wahrgenommen werden, konservativer zu werden.

Schließlich ist es angesichts der Untätigkeit der Arbeiterklasse, insbesondere der ärmsten Schichten besonders unterdrückter Gruppen (Latinos, Schwarze, Frauen, Homosexuelle, Körperbehinderte), leicht, sich von den (meist egozentrischen) Modeerscheinungen der Mittelklasse (New-Age-Idiotie, Besessenheit von persönlicher Gesundheit, Angriff auf Raucher) beeinflussen zu lassen. Unabhängig davon, was Individuen denken oder wie sie ihr Leben leben wollen, sollten wir uns dagegen wehren, dass solche Anliegen unseren Fokus von der eigentlichen Ursache sozialer Missstände, dem Kapitalismus, und dem Kampf zu seiner Überwindung ablenken.

Meiner Meinung nach besteht der wichtigste Weg, dem Druck nach rechts zu widerstehen, darin, die Organisation nach links zu bewegen. Dies steht auch im Einklang mit unserer Neubewertung des Leninismus. Meiner Ansicht nach besteht das Problem des Leninismus nicht darin, dass er zu radikal oder zu revolutionär ist. Das Problem ist, dass er nicht radikal oder revolutionär genug ist. Er geht zu viele Kompromisse mit dem Kapitalismus ein und verkörpert zu viele kapitalistische Denk- und Handlungsweisen, um eine wirklich revolutionäre Kraft zu sein.

Obwohl er zum Beispiel behauptet, langfristig den Staat abschaffen zu wollen, versucht er, ihn kurzfristig aufzubauen und zu stärken. Er behauptet, eine demokratische und kooperative Gesellschaft aufbauen zu wollen, betont aber autoritäre und zwanghafte Methoden.

Am wichtigsten ist jedoch, dass sie zwar behauptet, eine wirklich freie Gesellschaft aufbauen zu wollen, aber glaubt, dass ihre Ideologie, ihre Interpretation des Marxismus, die einzig richtige Interpretation der Geschichte (und alles anderen) darstellt, und damit die ultimative Grundlage der Freiheit, das Recht, anders zu denken und zu glauben – die intellektuelle und spirituelle Freiheit – ablehnt.

Ich denke, wir sollten uns politisch neu definieren, und zwar auf drei Arten. Erstens sollten wir eine Vision von Freiheit entwickeln, um unsere Vorstellung von einer wirklich demokratischen, kooperativen und egalitären Gesellschaft zu konkretisieren (einschließlich alternativer Lösungen für verschiedene Probleme).

Tatsächlich haben wir das schon immer gemacht (z. B. unsere Erfolge in Sachen Geschlechter(Gender)- und sexuelle Befreiung), auch wenn wir uns nicht immer bewusst waren, was das bedeutet. In letzter Zeit haben wir unsere Vision einer libertären Gesellschaft bewusster entwickelt. Wir sollten unsere Ideen in diesem Bereich weiterentwickeln und auf verschiedene Weise bekannt machen.

Diese Ausarbeitung einer Vision einer freien Gesellschaft ist ganz klar antimarxistisch. Im Gegensatz zu den sogenannten utopischen Sozialisten weigerten sich Marx und Engels, eine Vision der zukünftigen Gesellschaft zu entwickeln. Das lag vor allem daran, dass ihrer Ansicht nach die zukünftige Gesellschaft aus dem Klassenkampf hervorgehen würde: Diese Gesellschaft ist, um es mit philosophischem Jargon zu sagen, immanent in der Geschichte. Diese Ansicht hing eng mit der Überzeugung von Marx und Engels zusammen, dass die Geschichte determiniert ist und dass die Errichtung des Sozialismus „historisch notwendig” im Sinne von unvermeidlich ist. Wenn dem so ist, warum sollte man sich dann die Mühe machen, eine Vision zu entwickeln?

Heute glaube ich das nicht mehr. Ich glaube nicht, dass die Geschichte determiniert ist, und selbst wenn sie es wäre, glaube ich nicht, dass wir wissen können, was passieren wird. Mit anderen Worten: Ich glaube nicht, dass es absolutes Wissen gibt. Außerdem würde eine vorbestimmte Geschichte und ein unvermeidlicher Sozialismus nicht zu Freiheit führen, weil Unvermeidbarkeit, historische Notwendigkeit, nicht zu Freiheit führt, sondern zur Versklavung durch das historisch Notwendige. Eine freie Gesellschaft kann nur möglich sein, wenn es die Möglichkeit der Wahl gibt, wenn die Menschheit sich dafür entscheidet, frei zu sein, anstatt versklavt oder vernichtet zu werden.

Das Ergebnis all dessen ist meiner Meinung nach, dass Sozialisten, die an einen libertären Sozialismus glauben, an Freiheit glauben müssen, daran glauben müssen, dass es in der Geschichte eine Wahl gibt, dass Geschichte nicht vorbestimmt oder „notwendig” ist. Sozialismus kann nur entstehen, wenn die Mehrheit der Menschheit sich für eine solche Gesellschaft entscheidet und bewusst und demokratisch daran geht, sie aufzubauen. Die Aufgabe der Sozialisten besteht daher darin, die Arbeiter sowie andere unterdrückte Menschen davon zu überzeugen, dass sie für die Errichtung eines libertären Sozialismus kämpfen sollten. Dazu ist es unerlässlich, eine Vision einer solchen Gesellschaft zu entwickeln, die so konkret wie möglich zeigt, wie eine solche Gesellschaft funktionieren könnte und wie verschiedene Probleme, die uns der Kapitalismus hinterlassen hat, gelöst werden könnten.

Der zweite Teil unserer Neudefinition besteht darin, unsere Strategie, Taktik, Organisationsprinzipien und Methoden zu überdenken und so anzupassen, dass sie mit unserer Vision übereinstimmen. Meiner Meinung nach besteht die wichtigste Änderung gegenüber unserer früheren Konzeption in der Taktik der Einheitsfront. Für Leninisten dient die Einheitsfront zusammen mit der entsprechenden Taktik der kritischen Unterstützung dazu, die Basis einer rivalisierenden politischen Organisation für sich zu gewinnen und die rivalisierende politische Führung zu diskreditieren und zu zerstören. Mit anderen Worten: Es ist eine Politik, die darauf abzielt, einigen Leuten in den Rücken zu fallen. In einigen Fällen, z. B. bei reformistischen Bürokraten, ist das gerechtfertigt. Aber die Bolschewiki glaubten, dass nur sie die wahren Interessen der Arbeiter vertraten und dass daher jede rivalisierende Organisation, egal wie revolutionär sie auch sein mochte, letztlich ein Agent der Bourgeoisie war.

Heute, da wir nicht mehr an die absolute Wahrheit glauben und daran, dass wir allein Zugang zu ihr haben, sollten wir die Einheitsfront als eine Möglichkeit sehen, mit anderen Organisationen und Individuen zusammenzuarbeiten, mit ihnen in einen Dialog zu treten und zu versuchen, von ihnen zu lernen. Vielleicht lernen wir mehr von ihnen als umgekehrt.

Schließlich sollten wir, ausgehend von dem oben Gesagten, nach Organisationen, Gruppen und Individuen suchen, die unsere allgemeine Vision (relativ weit gefasst) teilen, und versuchen, dauerhafte Beziehungen zu ihnen aufzubauen, um im Laufe der Zeit eine größere theoretische und praktische Einheit zu erreichen. Dies kann durchaus erhebliche Veränderungen in der Form unserer Organisation bedeuten

.Ich persönlich glaube, dass die meisten dieser Gruppen und Personen eher im anarchistichen/libertären Milieu zu finden sind als im marxistischen oder sozialdemokratischen Milieu. Letztere sind zu sehr mit Etatismus belastet, dem Glauben an die inhärente Fortschrittlichkeit von verstaatlichtem Eigentum und staatlicher Planung und verschiedenen anderen Altlasten, die in Richtung Staatskapitalismus weisen.

Eine grundlegende methodische Faustregel lautet, dass unsere politische Arbeit, sowohl theoretisch als auch praktisch, nicht von abstrakten politischen Kategorien bestimmt werden sollte. Nur weil sich manche Gruppen oder Personen anders definieren als wir oder eine andere politische Terminologie verwenden, sollte das kein Grund sein, den Dialog und die Zusammenarbeit mit ihnen abzulehnen.

Oder umgekehrt: Nur weil sich Menschen genauso definieren wie wir und dieselbe Sprache verwenden, heißt das nicht, dass wir automatisch einer Meinung sind. Intellektuelle Kategorien, vor allem politische, können irreführend sein und das Denken einschränken. Jahrelang haben wir uns als (marxistisch-leninistische) Trotzkisten bezeichnet, waren aber mit den grundlegenden Werten, geschweige denn den weniger wichtigen Dingen, der Gruppen, die sich Trotzkisten nannten, nicht einverstanden. Das sollte uns eine Lehre sein.

Vor diesem Hintergrund sehe ich in dem, was ich der Organisation vorgeschlagen habe, keine drastische „Wende” oder Neuausrichtung unserer Politik. Ich sehe es als eine Art Fortsetzung der politischen Suche, die unsere Existenz von Anfang an geprägt hat. Diese Suche – die Suche nach einem Weg zur Freiheit – hat uns über die Grenzen traditioneller politischer Kategorien hinausgeführt. Die Suche war konsequent und verlief mehr oder weniger in die gleiche Richtung. Sie hat sich einfach nicht, oder zumindest nicht lange, von den Kategorien anderer Leute bestimmen lassen.

Früher waren wir Marxisten und Leninisten, aber keine Trotzkisten. Eine Zeit lang waren wir Trotzkisten, die Trotzki in Bezug auf Russland für falsch und nicht libertär genug hielten. Jetzt haben wir meiner Meinung nach die Grenze zwischen Trotzkismus und Leninismus überschritten und sind zu etwas anderem geworden, etwas, das wir noch definieren müssen. Wir sollten andere Menschen in ihren Kategorien gefangen bleiben lassen und weiterhin unsere eigenen Kategorien bestimmen, um wir selbst zu sein.

Ich denke, die wichtigste Veränderung, die wichtigste Erkenntnis, die wir gewonnen haben, ist, dass es kein absolutes Wissen gibt. Früher suchten wir nach einem System, einer Ideologie, die alle Fragen beantwortete. Jetzt wissen wir, dass es so etwas nicht gibt und dass Systeme und Ideologien, die behaupten, absolutes Wissen zu verkörpern und alle Fragen zu beantworten, inhärent gefährlich sind.

Heute wissen wir, dass die (relative, sich verändernde) Wahrheit nur durch einen Dialog, eine Diskussion zwischen verschiedenen Gruppen und Individuen gefunden werden kann. Die Menschheit kann ihre Probleme nur lösen, wenn sie sie diskutieren, darüber sprechen und zu demokratischen Entscheidungen gelangen kann. Lenin, der Marx folgte (der wiederum Hegel folgte), subsumierte den Dialog unter die Dialektik der Geschichte (die schließlich zum Sozialismus führt) und ein absolutes Wissen über diese Geschichte, den Marxismus.

Obwohl Lenin subjektiv für Freiheit war, trug er dazu bei, sie zu ersticken, weil er glaubte, dass die historische Wahrheit in der bolschewistischen Partei verkörpert sei. Wir müssen erkennen, dass nur eine nie endende Dialektik, ein Dialog zwischen Menschen, zu Freiheit führen kann.


1A.d.Ü., an dieser Stelle wird in der englischen Originalversion, wie auch an anderen Stellen wo wir es besser zu lösen wussten, der Begriff des operative verwendet. Dieser Begriff kann als (Fach-)Arbeiter, Geheimagent, usw. verwendet werden. Aber das es sich hier um Mitglieder der Bolschewiki handelt, haben wir uns für Militanten entschieden, wer es sprachlich/politisch am näherstehen kommt.

2A.d.Ü., einiges was hier kritisiert wird, kann auch auf die anarchistische Bewegung, oder gewissen Strömungen zumindest, jener Teil auch angewandt werden, wo z.B., Mitglieder der FAI (die außerdem meistens abstinent lebten) auch als Pfarrer bezeichnet wurden.

3A.d.Ü., der ganze Absatz sagt folgendes: „Solange in Deutschland die Revolution mit ihrem „Ausbruch“ noch säumt, ist es unsere Aufgabe, den Staatskapitalismus bei den Deutschen zu erlernen, ihn uns mit allen Kräften zu eigen zu machen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Aneignung noch mehr zu beschleunigen als Peter der Große die Aneignung der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, wobei er vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei nicht zurückschreckte. Wenn es unter den Anarchisten und linken Sozialrevolutionären (ich erinnere mich unwillkürlich an die Reden Karelins und Geys im Zentralexekutivkomitee) Leute gibt, die imstande sind, wie ein Narziss zu denken, dass es uns Revolutionären nicht gezieme, bei dem deutschen Imperialismus zu „lernen“, so muss man nur eins sagen: die Revolution, die solche Leute ernst nehmen wollte, wäre hoffnungslos (und ganz mit Recht) verloren.“

4A.d.Ü., hier ist die Rede von denies was auch als leugnet übersetzt werden kann. Wir haben den Kapitel nicht bi zum Ende gelesen, können dazu nichts genaues sagen.

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