Roi Ferreiro, Gegen den politischen Fetischismus (Kritik des „plattformistischen“ Anarchismus oder Anarchobolschewismus.)

Von uns übersetzt, der Hauptgrund für diese Übersetzung liegt auf seiner, am Ende erscheinende, Kritik am Plattformismus. Ansonsten beschäftigt sich der Text mit der historischen Frage um die Organisation(-sfrage) und woraus sie resultiert. Sprich auch der Spannungsfeld von vermeintlichen revolutionären Minderheiten. Eine Sache die uns an den Text missfällt ist der mythologische und fetischisierte Bezug auf die Demokratie als ein Konzept welches uns als Revolutionäre überhaupt dienlich sein könnte, was es nicht ist. Einerseits lehnt der Autor diesen Begriff ab, weil dieser nur ein Instrument der herrschenden Klasse ist, anderseits verteidigt er diesen sporadisch als ein Werkzeug damit revolutionäre Minderheiten die Oberhand in sozialen Spannungen (als Form der Selbstorganisierung die nicht rekuperiert werden kann) gewinnen könnten. Es gibt nicht verschiedene Arten der Demokratie die antagonistisch zu einander stehen (Direkte Demokratie, Arbeiterdemokratie, bourgeoise Demokratie, Rätedemokratie, usw.), sie alle entspringen derselben Logik, sowohl das Subjekt wie das Kollektiv, nämlich die Theorie von der Praxis, zu trennen. Eine Trennung zwischen dem Handeln (Aktion) und dem Denken. Für Roi Ferrero ist in diesem Text Demokratie eine quasi Metapher für die historische Kampfpraxis und Kampfselbstorganisation des Proletariats was als Räte/Sowjets bezeichnet wird. Aber es sind auch gewisse rätekommunistische Tendenzen und Denker die gerne über Rätedemokratie reden, also ob die Demokratie Ausdruck von Selbstorganisation wäre. Demokratie von der jetzigen Herrschaft zu trennen, die sich ja zu Recht Demokratie nennt, ist ein Fehler des Autoren, den wir hier so nicht stehen lassen können. Hier wird wieder einmal Demokratie mit Befreiung verwechselt. Wir lehnen solche Jongliertricks ab. Als Anarchistinnen und Anarchisten müssen wir immer und überall unser Maximalprogramm verteidigen, die Zerstörung des Staates und des Kapitals.

Wer Interesse an der Kritik an der Demokratie mag sich an der Textreihe freuen die wir bis jetzt veröffentlicht haben (Übersetzungen aus der halben Welt) die wir bis heute auch weiterführen

Auch gewisse opportunistische Vorschläge, die eher auf einen wirken wie „was wäre wenn“ Schlussfolgerungen die genauso aus einem Reagenzglas stammen könnten, wie das agieren in, wir nennen sie mal eher Kämpfe, Organisationen die zwar an sich reformistisch sind, aber eine Tendenz zur revolutionären Aktion haben. Wir wüssten am heutigen Tag, keine Ahnung worauf sich der Autor damals auf seine Situation bezog, abgesehen dass er von der IAA sprach, also ein historisch abgelaufenes Ereignis, nicht worauf wir dies anwenden könnten und die vorgeschlagene Aktion nichts anderes übrig lässt als den Kadaver vom Entrismus im Maul.

Ansonsten beschäftigt sich der Text tiefer mit dem Verhältnis zwischen Entfremdung, Organisation und der Selbstbefreiung des Proletariats, was dem Text, trotz der schon erwähnten Kritik, eine Qualität gibt die ihn interessant und diskussionswürdig machen.

Soligruppe für Gefangene (Gruppe gegen Intellektuelle, Ideologien und Ignoranz)


Roi Ferreiro, Gegen den politischen Fetischismus

Antiautoritarismus und soziale Entfremdung: zwei sich ergänzende kritische Ansätze

Alle Klassen und Parteien hatten sich während der Junitage zur Partei der Ordnung vereint gegenüber der proletarischen Klasse, als der Partei der Anarchie, des Sozialismus, des Kommunismus.“ K. Marx, Der achtzehnte Brumaire, 1852.

Kurze Einführung

Wie wir schon in anderen Texten und Diskussionen oft gesagt haben, ist die Trennung zwischen marxistischen Kommunisten und Anarchisten in der revolutionären Praxis der Avantgarde – wo sie heute relevant ist – anachronistisch und historisch rückschrittlich1. In diesem Text wollen wir einige Punkte klären, die mit dem Ursprung der Unterschiede in der Analyse und Bewertung beider Strömungen in Bezug auf Fragen des Autoritarismus, der Demokratie und der Formen der politischen Praxis im Allgemeinen zusammenhängen. Dabei versuchen wir nicht, beide Theorien zu versöhnen, indem wir ihre wesentlichen Unterschiede ausklammern, sondern ihre Verbindungen und Komplementaritäten aufzuzeigen – ein Kriterium, das im Zentrum des Textes steht, der Kritik am politischen Fetischismus, einem gemeinsamen Punkt, der wiederum die Schwierigkeiten, die diesem Thema innewohnen, abgrenzt und hervorhebt.

Wir wollen nicht rein theoretisch lösen, was nur die Arbeiterklasse selbst in ihrer lebendigen und kreativen Selbstentwicklung als revolutionäres Subjekt leisten kann; aber wir versuchen mit unserem kritischen Ansatz, diese Unterschiede zu überwinden und die Grundlagen für eine einheitliche allgemeine Theorie der proletarischen Selbstbefreiung mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft zu skizzieren.

Roi Ferreiro und Ricardo Fuego

I. Die politische Form und der soziale Inhalt der Praxis.

Weder theoretisch noch praktisch haben sich Marx und Engels jemals als „antiautoritär” bezeichnet. In diesem Punkt stimmen sowohl ihre in bestimmten Aspekten und Momenten fragwürdige Form der politischen Praxis als auch alle ihre mehr oder weniger präzisen theoretischen Ausführungen zum Problem der Autorität im Allgemeinen (die offensichtlich mit dem gesamten Problem des Staates zusammenhängen) überein. Für sie hatte der Begriff der Arbeiterdemokratie keine methodologisch-formale Bedeutung, die heute ein Nebenprodukt der Kontamination der proletarischen Bewegung durch die bourgeoise Ideologie ist. Ihre praktische Verteidigung der Arbeiterdemokratie konnte daher durch ihre vorübergehende Negation erfolgen. Dies geschah mit dem Ausschluss des anarchistischen Flügels aus der ersten IAA. Ihr Standpunkt für diese theoretisch-praktische Entscheidung war jedoch nicht die Verbundenheit mit der Macht. Bereits mit der Auflösung der Kommunistischen Liga vor geraumer Zeit (im Jahr 1850) hatten sie gezeigt, dass selbst die Beibehaltung mehr oder weniger „eigener” formaler Organisationen ihnen angesichts dessen, was sie als reale Wege zur Verwirklichung ihrer Ziele betrachteten, überflüssig erschien. Ihr Standpunkt entsprach somit den evolutionären Tendenzen des Klassenkampfs und der Arbeiterbewegung jener Zeit, und in dieser Hinsicht ist es zweifellos so, dass der Ausschluss des anarchistischen Flügels und die Auflösung der ursprünglichen IAA die tatsächlichen Tendenzen der damaligen Arbeiterbewegung in Richtung Reformismus widerspiegelten, während, wie Bakunin selbst nach der Spaltung erkannte, die Bedingungen für die Entwicklung der IAA als internationale Organisation des sozialistischen Proletariats nicht mehr gegeben waren.

Tatsächlich konnte sich der Bakuninismus, wie auch Marx und Engels analysiert hatten, nur in relativ rückständigen Ländern entwickeln. Einerseits, weil seine praktische Haltung des „politischen Indifferentismus“ das Proletariat in die Hände einer der Bourgeoisie ergebenen Staatsmacht, indem sie auf Arbeiterkandidaturen für das Parlament verzichtete oder in einer revolutionären Situation nicht eiligst eine eigene, einheitliche revolutionäre Macht aufbaute, die den politischen und repressiven Apparat des bourgeoisen Staates vollständig zerstörte und dessen administrative Struktur2 sich aneignete und umgestaltete. Aus dieser Sicht war die einzige realistische Option für die Arbeiterklasse damals die von der Sozialdemokratie vorgeschlagene. Andererseits mussten unter den Bedingungen eines mehr oder weniger stabilen und noch aufstrebenden Kapitalismus – das sind die Bedingungen der damaligen Zeit, auf die ich mich hier beschränke – die bakunistischen Positionen eine Minderheit bleiben, außer in den Ländern, in denen der Kapitalismus noch große Hindernisse für seine Entwicklung vorfand, und der Staat sich daher noch nicht eindeutig dem Kapital unterworfen zeigte, sondern den Anschein erweckte, über den Klassen zu stehen, begleitet von einer allgemeinen Krise der historischen Entwicklung, die die Klassenantagonismen verschärfte und anhaltende politische Instabilität auslöste. Ein klares Beispiel für diese Situation war die Arbeiterbewegung im spanischen Staat von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in der der bakunistische Anarchismus unter dem radikalsten Teil der Arbeiterklasse deutlich vorherrschte.

Aber es ist eine Sache, dass ihre Analysen richtig waren, und eine andere, dass die praktischen politischen Schlussfolgerungen, die Marx und Engels daraus zogen, ebenfalls richtig waren. Die Tendenz, die sie mit ihrer Haltung in der IAA vertraten, war nicht revolutionär, sondern reformistisch, und obwohl ihre Entwicklung (angesichts des mehrheitlichen und anhaltenden Verlaufs der internationalen Arbeiterbewegung) unvermeidlich war, trugen sie mit ihrer unkritischen Haltung und ihrer späteren Integration in die Sozialdemokratie nicht nur zur Stärkung des Reformismus bei, sondern auch zur sozialdemokratischen Verzerrung ihres eigenen Denkens. Auch wenn der Bakuninismus als Massenbewegung nur in einigen wenigen rückständigen Ländern eine Rolle spielte, war das nur ein Zeichen dafür, dass sein Ansatz und seine Taktik eine historische Phase repräsentierten, die auf globaler Ebene bereits überwunden war (mit dem Kapitalismus kurz vor seiner Reife und den industrialisierten Gesellschaften). Das war nur ein formales Zeichen für seine Überholtheit, für seine historische Unangemessenheit. Im Wesentlichen zeigte es aber nicht seinen kleinbourgeoisen Charakter, sondern die Beständigkeit seines proletarischen und revolutionären Charakters (natürlich nur, solange er sich aktiv gegen die reformistische Entwicklung wehrte, die auch in den „revolutionären” Gewerkschaften/Syndikate Fuß fasste). Ihre Isolation war dadurch bedingt, dass sie den Gegenpol zur reformistischen Mehrheitstendenz bildete, deren Ideologie und Projekt die Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus darstellten.

Die fortschreitende Vollendung dieser Isolation führte zur Ideologisierung und damit zur Trennung des anarchistischen Denkens von den immer komplexer werdenden Bedingungen der unabhängigen Tätigkeit der Klasse, was eine wesentliche Entwicklungsbeschränkung mit sich brachte, unter der der Bakuninismus seitdem zu leiden hatte: die Überzeugung, dass die bereits theoretisch erarbeiteten Wege des revolutionären Bruchs – die anarchische Rebellion der Massen, politischer Antiautoritarismus, der Aufbau embryonaler Formen einer revolutionären Gesellschaft innerhalb der alten Gesellschaft – ausreichten, um den Kapitalismus zu überwinden. Diese Überzeugung besiegelte auch die historische Niederlage des klassischen anarchistischen Projekts, d. h. seine Unfähigkeit, den Reformismus zu überwinden, bis die historische Reifung schließlich die Entstehung von Strömungen mit komplexeren Analysen erzwang. Die Erfahrung würde zeigen, dass die anarchische Rebellion der Massen nicht ausreichte, um die kapitalistische Herrschaft zu besiegen, denn dazu müssten die Massen ihren geistigen Zustand der Entfremdung überwinden und fähig werden, Formen zu schaffen, die der freien und nachhaltigen Entwicklung ihrer höheren Selbstaktivität gegenüber den herrschenden Mächten angemessen sind; sie würde auch zeigen, dass politischer Antiautoritarismus nicht ausreichte, um solche Formen zu schaffen, sondern von der Entwicklung eines proletarischen Bewusstseins begleitet werden müsste, das die Notwendigkeit einer vollständigen Beteiligung an der Bewegung und den Organisationen erkennt, der Arbeiterdemokratie einen wirksamen Inhalt gibt und sie zum wahren Ausdruck der „Souveränität der Gesamtheit der Arbeiter*innen als politische Subjekte” macht (darauf werden wir später noch ausführlich eingehen). Die Erfahrung würde schließlich zeigen, dass das, was sich innerhalb des Kapitalismus wirklich als Klassenorganisationen herausbilden und entwickeln konnte, keine embryonalen Organisationen waren, die als möglichst optimale Verkörperung eines zukünftigen Ideals oder sozialer Prinzipien konzipiert waren, sondern Organisationen, die den Bedingungen und Prinzipien unterworfen waren, die der proletarischen Praxis unter den bestehenden Rahmenbedingungen innewohnen; folglich konnten revolutionäre Organisationsformen nur als Ausdruck einer strukturellen Krise des Kapitalismus entstehen und noch ein widersprüchlicher Ausdruck des Klassenkampfs zwischen den kapitalistischen Kräften und der Tendenz des Proletariats zum revolutionären Handeln sein. Es handelte sich also um Übergangsformen, die ständig in Konflikte zwischen neuen und alten sozialen Inhalten verwickelt und komplexen Entwicklungsbedingungen unterworfen waren; es waren keine idealen embryonalen Formen, sei dieses Ideal nun willkürlich oder nicht, Formen, die sich organisch (anstatt durch die Dynamik der Gesamtheit bestimmt) und progressiv und linear entwickeln könnten, bis ihre quantitative Macht ausreicht, um die herrschenden Institutionen zu verdrängen und zu ersetzen.

Aber kommen wir zurück zu den Streitigkeiten innerhalb der IAA. Wenn wir uns jetzt hypothetisch in die Lage der IAA versetzen würden, müssten wir uns klar gegen den Ausschluss des antiautoritären Flügels aussprechen. Wir müssten dies aber aus Gründen der historischen Kohärenz mit dem revolutionären Projekt tun, d. h. wegen der langfristigen Folgen einer solchen Entscheidung – Förderung der Spaltung und Verwirrung in der revolutionären Bewegung –, nicht aus Kohärenz mit bestimmten Formen der politischen Praxis oder wegen einer größeren Nähe zum oft allzu simplen und unverzüglichen Revolutionarismus Bakunins.

(Übrigens waren die Fraktionsbildung und die Ansprüche der Bakuninisten in der IAA auch aus ideologischen und parteipolitischen Gründen fragwürdig, da die IAA ein pluralistischeres Gebilde war und dies auch sein wollte. Die abgespaltenen Sektionen bildeten später eine schlechte Kopie, die doktrinär viel einheitlicher war, obwohl sie keine Parteiform annahmen. Diese spätere Vereinheitlichung lässt sich nicht nur durch die ungünstigen Bedingungen für die Entwicklung der „antiautoritären IAA” erklären. Sie ist umso schwerwiegender, wenn man die Vielfalt der Strömungen berücksichtigt, die in der Arbeiterbewegung jener Zeit existierten – noch zur Zeit der Kommune von 1871 gab es Proudhonisten, Blanquisten, die IAA umfasste auch die englischen Trade Unions, der Marx nahestehende Kreis war innerhalb der IAA selbst relativ klein usw. Selbst wenn die Bakuninisten die Mehrheit gewonnen und die Richtung der IAA bestimmt hätten, wäre ihr Anspruch, ihre Kriterien durchzusetzen, auch wenn dies demokratisch geschehen wäre, nicht fortschrittlich gewesen, sondern hätte ebenso zum Zerfall des ursprünglichen Projekts geführt, eine breite Vereinigung zu gründen, was tatsächlich mit dem Versuch des antiautoritären Flügels geschah, diese „antiautoritäre IAA” aufrechtzuerhalten, wodurch der Name IAA fortan mit dem Anarchismus verbunden blieb. Wenn die Politik von Marx ebenfalls zur Auflösung führte, muss man auch in der Spaltung der IAA den Faktor der Unfähigkeit der verschiedenen revolutionären Strömungen zur Zusammenarbeit anerkennen.)

Die Entscheidung, den anarchistischen Flügel aus der IAA auszuschließen, wäre nicht „besser” gewesen, wenn sie wirklich mit demokratischer Sorgfalt in den Entscheidungsmethoden getroffen worden wäre. Was die revolutionäre Klassenkohärenz ausmacht, sind nicht die politischen Aktionsformen, sondern ihr tatsächlicher sozialer Inhalt. Also nicht ihr Inhalt im vulgären „materiellen” Sinne, denn dann würden wir bei der Frage nach dem „organisatorischen” Inhalt der Praxis stehen bleiben und aus den Augen verlieren, dass die Organisation als Gesamtheit von Verfahren vom Standpunkt des gesamten Prozesses der sozialen Praxis immer nur eine bloße Form ist. Dieser „materielle” Inhalt wäre also nur der „materielle Inhalt der Form”, nicht der tatsächliche materielle Inhalt, der die Gesamtheit des sozialen Inhalts wäre – die Wechselbeziehungen der Individuen, ihre Bedingungen, Tendenzen und Eigenschaften –, ein sozialer Inhalt, der diesen materiellen Inhalt natürlich einschließen kann und muss, indem er ihn in Beziehung zu seiner Gesamtheit setzt – aber natürlich ist der soziale Inhalt viel mehr, da die Organisation, selbst wenn wir sie als Mikrogemeinschaft verstehen, in der Regel nur einen winzigen Teil der Arbeiterklasse umfasst.

Diese Unterscheidung zwischen der organisatorischen Form oder dem organisatorisch-materiellen Inhalt der Praxis und ihrem tatsächlichen sozialen Inhalt impliziert die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen beiden. In diesem Fall kommt es darauf an, ob es sich um einen Widerspruch handelt, der durch interne oder externe Bedingungen bestimmt ist, und ob die durchgeführten Aktivitäten zu seiner Überwindung beitragen oder nicht. Das heißt, die Kohärenz von Prinzipien, Mitteln und Zielen in der revolutionären Praxis kann nicht einfach anhand der Organisationsformen dieser Praxis beurteilt werden. Es handelt sich um sozial determinierte Formen, die daher nicht unabhängig von der historischen Entwicklung der objektiven und subjektiven Bedingungen frei gewählt werden können. Sowohl der Grad und die Breite der Entwicklung der proletarischen Bewegung als bewusste revolutionäre Gemeinschaft als auch ihre objektiven Bedingungen der sozialen Existenz – Lohnniveau, Länge des Arbeitstages, Zugang zu kultureller Entwicklung usw. – bestimmen die Möglichkeiten der effektiven Entwicklung der proletarischen Praxis auf der Ebene der sozialen Form, unabhängig davon, dass lokale proletarische Bewegungen mit unterschiedlichen formalen Entwicklungsstadien in ihren Aktionen einen im Wesentlichen identischen sozialen Inhalt zum Ausdruck bringen können. Die Frage der Form bezieht sich hier auf die Treue und Vollständigkeit, mit der die Bewegung in ihrer Selbsttätigkeit den Grad und die Breite der Befreiung der ihr innewohnenden menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten zum Ausdruck bringt, d. h. die Bedingung für den Fortbestand ihrer Entwicklung und ihren endgültigen Sieg.

Umgekehrt kann es vorkommen, dass Bewegungen mit identischen Organisationsformen radikal unterschiedliche soziale Inhalte zum Ausdruck bringen.

Wir haben also, dass eine revolutionäre Bewegung in ihren operativen, funktionalen Formen mehr oder weniger vollständig demokratisch sein kann, ohne dass dies einen direkten Einfluss auf ihre revolutionäre Qualität hat. Eine Bewegung ist nicht revolutionär oder nicht revolutionär, je nachdem, ob sie beispielsweise eher delegative oder eher direkte Organisationsformen verwendet. Eine in ihren Formen hochdemokratische Bewegung kann dennoch einen reformistischen und bourgeoisen sozialen Inhalt haben und in der Praxis als Bewegung oder Projekt zur Reform der bourgeoisen Demokratie wirken, solange sie eine umfassendere Form der Demokratie anstrebt. (Erinnern wir uns hier daran, dass der historische Materialismus unter anderem darin besteht, Individuen nach ihrer historischen Praxis zu beurteilen, nicht nach dem, was sie über sich selbst sagen oder denken.) Umgekehrt kann eine Bewegung, die in ihren Formen wenig demokratisch und relativ autoritär ist, einen sozial revolutionären Inhalt haben, wenn ihre praktische Tätigkeit tatsächlich darauf ausgerichtet ist, die bestehenden Verhältnisse revolutionär zu verändern. Und dabei würde sie wiederum die notwendigen Bedingungen und Impulse schaffen, um diese Formen der Tätigkeit zu verändern, sei es in Form einer Selbstüberwindung der Bewegung oder in Form von Brüchen und Bewegungen, die gegen die alte Bewegung kämpfen müssen, die nun als rückschrittliche oder konterrevolutionäre Kraft wirkt. So war es zum Beispiel beim Bolschewismus.

Die Einheit der Organisationsform mit dem sozialen Inhalt der Praxis ist Ausdruck der Einheit zwischen den sozialen Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit. Die einzige Bedingung für die Einheit von Organisationsform und revolutionärem sozialem Inhalt ist daher, dass zwischen dieser Form und der notwendigen Entwicklung der revolutionären Klasse als kollektives soziales Subjekt ein Mindestmaß an Übereinstimmung besteht. Aus dieser Sicht ist die einzige Voraussetzung für eine solche Organisationsform, dass sie zunächst eine Entwicklung der Aktion des Proletariats ermöglicht, die über die Herrschaftsfähigkeit der herrschenden sozialen Verhältnisse hinausgeht (was natürlich in jeder historischen Epoche mit der Entwicklung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Macht der herrschenden Klasse variieren muss). Aber ganz allgemein kann eine Organisationsform, solange sie die einfache Entwicklung der proletarischen Subjektivität durch die Ausweitung ihrer Selbstaktivität ermöglicht, als vorübergehender Ausdruck der fortschrittlichen Tendenzen der Klasse fungieren, bis ihre Grenzen offensichtlich werden und sie so zu einem Hindernis wird. So liegt zum Beispiel das Scheitern der Gewerkschaft-, und Syndikatsform und der Parteiform in der Entwicklung des Kapitals und der damit verbundenen Anhebung des Mindestentwicklungsniveaus der subjektiven Aktivität des Proletariats, das notwendig ist, um – zunächst natürlich nur teilweise – als autonome Kraft gegenüber dem Kapital zu agieren. Dagegen waren dieselben Formen nützlich, als die Entwicklung des Kapitalismus und seine Herrschaft über die Entwicklung der sozialen Subjektivität noch viel schwächer und weniger umfassend waren. Ebenso reicht die Einführung direkter Demokratieformen nicht mehr aus, um die bewusste politische Beteiligung der Arbeiterklasse zu fördern, sobald die geistige Herrschaft des Kapitalismus alle Bereiche des täglichen Lebens erfasst hat und die gesamte Tätigkeit der Individuen dem Prozess der Selbstverwertung des Kapitals unterwirft, d. h. sie real oder virtuell in Arbeit verwandelt – natürlich in entfremdete Arbeit. Das gesamte menschliche Leben ist zu einer erweiterten Überlebensaktivität geworden, die dem Prozess der Mehrwertproduktion untergeordnet ist.

Die sofortige, ahistorische Identifizierung der Kohärenz zwischen Prinzipien, Mitteln und Zielen, sowohl auf organisatorischer Ebene als auch auf der Ebene der effektiven Aktion, d. h. auf der Ebene der internen Aktivität der Bewegung und auf der Ebene ihrer externen Aktivität, verhindert, dass man die Komplexität der Entwicklung sieht. Daher wird sie auch verhindern, dass ihre Hindernisse überwunden werden. Da sie die historische Unvermeidbarkeit der Widersprüche zwischen beiden Ebenen der proletarischen Selbsttätigkeit nicht anerkennt, verwechselt diese für den Anarchismus charakteristische Auffassung das ideale Modell mit der tatsächlichen historischen Realität und versucht, Letztere mechanisch an Ersteres anzupassen (und ich sage „mechanisch”, weil es völlig richtig ist, dass ein solches ideales Modell keine willkürliche Erfindung, sondern eine historisch notwendige praktische Bedingung ist). Da in der praktischen Realität der Widerspruch zwischen Form und Inhalt bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar ist und die proletarische Bewegung in ihrer Entwicklung ständig begleitet, lässt sich das ganze Problem darauf reduzieren, welches Kriterium vorherrschen soll: die formale Kohärenz oder die reale Kohärenz. Sogar einige „marxistische“ Strömungen würden sich empören, wenn man behauptet, dass die proletarische Rebellion zunächst beispielsweise durch „caudillistische“ Formen voranschreiten kann (die natürlich im proletarischen Sinne nicht revolutionär sind). Aber solche Formen haben sicherlich funktioniert und können auch weiterhin funktionieren – siehe das aktuelle Beispiel Venezuela – als Teilkanal des antikapitalistischen Bruchs, als Ausdruck der Klassenpolarisierung, aber nicht darüber hinaus. Die „bolivarische Revolution“ drückt eine Tendenz des Vorrückens des Proletariats zu seiner eigenen Revolution aus, wenn auch noch in den Formen einer bourgeoisen Revolution, die sich schnell in einem Machtwechsel und oberflächlichen Reformen niederschlägt und sich gegen den Fortschritt der Massen wendet, der ihr Entstehen und ihre Konsolidierung vorangetrieben oder ermöglicht hat. Überall wird sich das Proletariat zwischen den Formen der bourgeoisen Revolution und denen der proletarischen Revolution entscheiden müssen3.

Angesichts dieser Frage muss man verstehen, dass sich die sozialen Formen der Aktivität (ökonomisch, politisch oder kulturell) nur aus der Entwicklung der sozialen Aktivität als Gesamtheit von Bedürfnissen und Fähigkeiten heraus und auf deren Grundlage entwickeln können. Ohne die Erweiterung des Bedarfshorizonts und die umfassende Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten der Proletarier*innen für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft und ihrer selbst können sich die Organisationsformen ihrer sozialen Aktivität nicht fortschreitend entwickeln. Höchstens kann eine Minderheit die Mehrheit der Klasse zu weiter entwickelten Formen „überzeugen” (lies: mitreißen), für die sie noch nicht bereit ist, wodurch solche Formen unhaltbar werden: Entweder fallen sie in das Alte zurück, degenerieren oder zerfallen und verschwinden. Denn die Quantität und Qualität der proletarischen Selbsttätigkeit, die auch den Aspekt der organisatorischen Beteiligung einschließt, kann nicht künstlich entwickelt werden, indem man einfach die Organisationsformen ändert, selbst wenn die Verschärfung des Antagonismus zwischen den Klassen als dynamisierender Faktor vorhanden ist.

II. Revolutionäre Kohärenz und Arbeiterdemokratie.

Nachdem wir die theoretischen Kriterien für die Analyse und Bewertung der Wechselbeziehung zwischen Formen und Inhalten der politischen Praxis geklärt haben, können wir zu dem allgemeinen Fall zurückkehren, mit dem wir begonnen haben: dem Autoritarismus der Minderheit gegenüber der Mehrheit, also einem eklatanten Fall der Verletzung der inneren Demokratie.

Wenn wir uns heute in einer allgemeinen Situation befänden, die politisch umgekehrt zu der der ursprünglichen IAA ist, das heißt, wenn wir als Minderheit einer reformistischen Mehrheit in einem Kontext gegenüberstehen würden, der zu revolutionären Massenaktionen tendiert, dann dürften wir nicht zögern, diese Mehrheit zu beseitigen, sobald es genügend Beweise dafür gibt, dass sie zu einem Hindernis für die Entwicklung der Selbstaktivität der Klasse geworden ist. Dies kann leicht passieren, wenn wir uns in einer revolutionären Notlage der Massen oder einer Situation, die dazu tendiert, in einer Organisation (oder organisierten Bewegung) befinden, in der die Mehrheit hinter der praktischen Bewegung der Klasse zurückbleibt. Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: die Spaltung oder, wenn es sinnvoll oder notwendig ist, einen mehr oder weniger gewaltsamen Fraktionskampf, um uns die Struktur der Organisation mit Gewalt wieder anzueignen (was „sinnvoll” sein kann, wenn die Organisation ein politischer Bezugspunkt mit der Fähigkeit ist, die allgemeine Mobilisierung voranzutreiben, aber auch „notwendig” sein kann, um zu verhindern, dass sie andernfalls für Zwecke instrumentalisiert wird, die dem Fortschritt der Klasse entgegenstehen). In diesem Zusammenhang können wir sagen, dass die berühmte Aussage von Engels, dass die proletarische Revolution eine autoritäre Bewegung gegen die Bourgeoisie ist, auch auf Fraktionen ausgedehnt werden kann, die sich dem Voranschreiten der Revolution innerhalb der Arbeiterklasse selbst widersetzen.

Solche Konfrontationen sind möglich, weil die Arbeiterklasse sich nicht auf homogene Weise als Klasse für sich, als bewusstes soziales Subjekt, konstituiert. Das Tempo der Entwicklung und die Erfahrungsgrundlage variieren je nach Land, sozialer Schicht, historischer Entwicklung der proletarischen Bewegung, kulturellen Hintergründen usw. Gleichzeitig wird dieser Prozess der Selbstkonstitution zu einem autonomen Subjekt durch die Entwicklung des Kapitalismus und die ihm innewohnenden sozialen Widersprüche bestimmt – also angetrieben, aber auch begrenzt. Aus all diesen Gründen vollzieht sich die Selbstentwicklung des Proletariats nicht als einheitlicher und linearer Aufstieg, sondern als komplexes Geflecht individueller und fraktioneller Prozesse des Fortschritts und Rückschritts, die manchmal aufeinanderprallen und sich gegenseitig bekämpfen, manchmal aber auch miteinander verschmelzen und sich gegenseitig verstärken. Die Einheit dieser Prozesse wird letztlich durch die Einheit des Kapitalismus selbst bestimmt, der dem Klassenantagonismus einen gemeinsamen inneren Inhalt gibt und alle Bewusstseins- und Kampfprozesse des Proletariats auf dieselben wesentlichen Inhalte ausrichtet. Diese Einheit ist aber nur eine implizite Bestimmung in der sozialen Existenz der Proletarier*innen: Ihre tatsächliche Verwirklichung erfolgt hingegen durch eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Bewegungen, die formal – und oft auch scheinbar – unzusammenhängend sind. Aber diese Bewegungen oder Prozesse sind nicht nur unzusammenhängend, sondern auch in ihrer Qualität und Quantität ungleich, so dass ihre Zusammenstöße und Auseinandersetzungen manchmal unvermeidlich werden.

Unter diesen Bedingungen kann die Arbeiterdemokratie nur dann einen fortschrittlichen sozialen Inhalt haben, wenn sie als variable Vermittlung der Praxis verstanden wird und nicht als ein Mittel, das mechanisch mit abstrakten Prinzipien und mehr oder weniger langfristigen Zielen verbunden ist. Oder anders gesagt: Sowohl die Form als auch der soziale Inhalt der Arbeiterdemokratie unterliegen der widersprüchlichen Entwicklung der proletarischen Bewegung. Sie bekommt erst dann einen eigenen Klasseninhalt, ist erst dann ein Kanal für die spezifischen Interessen des Proletariats und nicht für seine kapitalistische Integration, wenn sie einer praktischen Aktion, einem Kampf dient, der effektiv auf die Bekämpfung des Kapitals ausgerichtet ist, und in diesem Maße und durch diesen Kampf reift ihre angemessene Form entsprechend der Tiefe der Ziele, die sich das Proletariat setzt, und breitet sich aus.

Die Formen des Kampfes gegen das Kapital werden wiederum von den historischen Bedingungen bestimmt: Sobald der Reformismus erschöpft ist, der Kapitalismus als sozial fortschrittliches System offen zusammenbricht, kann der Kampf gegen das Kapital nicht mehr durch eine im Wesentlichen reformistische Praxis vorankommen: Es müssen Methoden angewendet werden, die auf die offene Auseinandersetzung mit dem Kapital und die Entwicklung des proletarischen Subjekts als völlig autonom gegenüber der gesamten bourgeoisen Gesellschaft abzielen (nicht mehr Formen begrenzter oder negativer Autonomie, sondern eine Autonomie, die sich der Notwendigkeit bewusst ist, alle ihre Inhalte kreativ und positiv zu bestimmen). Unter diesen historischen Bedingungen kann nur eine feindselige Haltung der Revolutionäre gegenüber allen Formen des Reformismus vorherrschen, eine allgemeine Situation, die zu offenen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den organisierten reformistischen Fraktionen führen muss.

Natürlich sind diese offenen Auseinandersetzungen und ihre gewaltsame, autoritäre Lösung nur dann gerechtfertigt und historisch konsequent, wenn eine konkrete Situation entstanden ist, in der es keinen anderen Ausweg mehr gibt: wenn es wirklich um den Fortschritt zur Revolution (= die allgemeine Selbstentwicklung des Proletariats) geht, nicht um die Macht einer Minderheit oder, schlimmer noch, einer Clique, die sich zur „revolutionären Führung” erheben will (= entfremdetes Verhältnis zwischen Avantgarde und Massen). Die Taktik der Opposition gegen regressive demokratische Formen muss nach streng antisubstitutionistischen Kriterien angewendet werden. Die vorgeschlagenen Aktionen der Avantgarde sind nur dann demokratisch legitim, wenn sie durch die praktische, empirische Haltung der Masse gestützt werden, sei es durch die Mehrheit oder durch eine Minderheit, die tatsächlich dazu in der Lage ist, zur Mehrheit zu werden. Es geht um Aktionen, die damit im Einklang mit der Auffassung von der Funktion der Avantgarde als Werkzeug oder Hilfsmittel der Klasse in ihrer Selbstentwicklung stehen; sie entsprechen daher ausschließlich den Bedürfnissen, die sich aus der Aktion der Arbeiterklasse selbst ergeben, niemals ihren eigenen Bestrebungen, isolierten Initiativen oder besonderen Ansätzen. Ihre Aktion kann nur insofern einen fortschrittlichen Inhalt haben, als sie sich in die Dynamik der Gesamtheit der Klasse einfügt, insofern sie nicht substituierend ist im Sinne, dass sie den Platz einnimmt und selbstständig das tut, was die Klasse als Ganzes selbst tun muss. Natürlich ist Substitutionismus an sich und in jedem Kontext ein Übel, ein Hemmnis für die Entwicklung. Aber einerseits ist die allgemeine Entwicklung und ihre Förderung wichtiger als die Entwicklung eines recht kleinen, wenn nicht gar winzigen Teils; und andererseits hat praktischer Antisubstitutionismus revolutionären Sinn, wenn er der Selbstentwicklung der Proletarier in Richtung ihres Bruchs mit der bourgeoisen Gesellschaft und der parallelen Schaffung der dafür notwendigen Bedingungen dient; er verliert aber seinen fortschrittlichen und im Wesentlichen revolutionären Charakter, wenn er auf Sektoren angewendet wird, die zwar Arbeiter sind, sich aber selbst der bourgeoisen Gesellschaft verschrieben haben. Denn das Verhalten dieser Sektoren wird sich nicht durch Reden und Kritik, also durch Demokratie, ändern, sondern nur durch die Kraft des wachsenden Antagonismus zwischen den Klassen und dessen Auswirkungen auf ihre praktischen Bedürfnisse und ihr Bewusstsein. In diesem Fall ist es ein Verbrechen gegen den tiefen Sinn der Demokratie als „Volkssouveränität“, die potenzielle Entwicklung des Ganzen einem Teil unterzuordnen, der mehr oder weniger freiwillig stagniert, denn gerade im Kapitalismus ist der Prozess der Selbstkonstitution als Klasse nicht wie das Erklimmen einer Treppe; es gibt keine „Pausen”; anzuhalten, die Perspektive zu verlieren, zurückzuschauen, bedeutet, sich auf einen Rückschritt einzulassen, die Selbstaktivität zu reduzieren, sich selbst zum Konformismus zu verleiten; ein solcher Zustand bedeutet oder ist die Äußerung dessen, dass die „konstituierende Spannung”, die den Prozess belebte, nicht mehr ausreicht, um ihn aufrechtzuerhalten, er ist das Zeichen, das einen Rückschritt ankündigt, denn mit dem Rückgang der autonomen Selbstaktivität in Quantität und Qualität macht sich die materielle und geistige Macht des Kapitals als Gesamtgefüge der sozialen Beziehungen wieder immer stärker bemerkbar, und seine herrschenden Zentren werden dank der Trägheit, in die das Proletariat verfällt, beginnen, ihre Schwächung zu überwinden.

Die Verteidigung der Arbeiterdemokratie und ihrer maximalen Entwicklung, wie sie hier vorgeschlagen wird, ist letztlich keine fetischistische Verteidigung, wie sie derzeit von der westlichen Bourgeoisie gefördert wird und die ein Großteil des Proletariats verinnerlicht hat. Sondern die Verteidigung der Arbeiterdemokratie als wirksames Mittel für den tatsächlichen Fortschritt in der Selbstentwicklung des Proletariats oder, wenn man so will, für den Fortschritt in der Selbstbefreiung der Proletarier als Ganzes, als Klasse. Dieser kritisch-praktischen Auffassung von Demokratie liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es sich um eine begrenzte und unvollständige Form der menschlichen Selbsttätigkeit handelt. Es ist eine Form mit politischem Charakter, in der sich die Minderheit der Mehrheit oder das Individuum der Gemeinschaft unterordnet – reiner und freier Konsens ist eine seltene Ausnahme. Unser immanentes Ziel ist nicht die Demokratie als solche, sondern die sozialisierte Entwicklung der ungehinderten Freiheit, was als politische Form der bewussten und kreativen Anarchie in einem Gemeinschaftsgeist entspricht, nicht der Demokratie. Dieser Punkt ist wichtig, um den ursprünglichen revolutionären Ansatz der Abschaffung des Staates ernsthaft zu verstehen: Der Staat wird nicht abgeschafft, um eine „freiere” Form der politischen Herrschaft zu etablieren, sondern damit die Organisation der Gesellschaft selbst ihren politischen Charakter verliert und die Herrschaft der Individuen über die Individuen weniger zu einer spontanen Angelegenheit der freien Interaktion im Alltag wird und untrennbar von diesem. Alle Organe, die speziell dazu da sind, diesbezügliche Entscheidungen zu treffen, auch die Organe der direkten Beteiligung, werden nicht mehr existieren, weil sie überflüssig werden; die bewussten Individuen werden ihre Beziehungen zu anderen ohne äußere Zwänge selbst regeln, entsprechend ihrer eigenen Erfahrung, da es keine materielle Grundlage mehr gibt, die soziale Konflikte und die Spaltung in Parteien und Klassen aufrechterhält. Es werden nur Verwaltungsorgane notwendig sein, in denen Entscheidungen auf der Grundlage technischer, statistischer und wissenschaftlicher Kriterien getroffen werden können. Unter diesen Bedingungen wird das Fortbestehen von Konflikten vor allem mit den entfremdeten Bewusstseinsformen zu tun haben, die noch aus der kapitalistischen Gesellschaft übernommen wurden, aber die neuen Formen und Inhalte der gesellschaftlichen Aktivität werden deren Auflösung und die Entstehung eines neuen, menschlicheren Bewusstseins fördern.

Der demokratische Fetischismus setzt im Gegensatz zu diesem kritisch-praktischen Ansatz eine bestimmte Form der Demokratie als Endziel der bestehenden praktischen Tätigkeit voraus und lässt damit die anarchistische Gemeinschaft im Bereich der fantastischen Literatur und der frommen Wünsche zurück. Oder, wenn man so will, indem sie die Theorie der Anarchie in eine von der sozialen Entwicklung losgelöste Fantasie verwandelt und ihre eigene Praxis in Widerspruch zu ihren theoretischen Zielen stellt, wodurch sie für eine revolutionäre Transformation unwirksam wird. Der radikale Bruch mit diesem Fetischismus ermöglicht es uns, jede bedingungslose Bindung an die demokratische Form endgültig zu überwinden und stattdessen die allgemeine Entwicklung der Individuen als autonome Subjekte zu privilegieren und diese Entwicklung damit zur wirksamen politischen Bedingung zu machen, auf der die Verteidigung der Demokratie beruhen muss und der sie untergeordnet ist, die letztlich nichts anderes ist als eine bestimmte Form des Zusammenhalts dieser sich entwickelnden Individuen. Die Demokratie über die individuelle Selbstentfaltung zu stellen, bedeutet, das Pferd hinter den Karren zu spannen oder eine so extrem reduktionistische Sicht der menschlichen Freiheit zu haben, dass sie nur dann als begründet angesehen wird, wenn sie sich im Rahmen einer politischen Gemeinschaft und politischer Aktivität entfaltet. Was wir vorschlagen, geht letztlich über die traditionellen Polemiken des Anarchismus über den Gegensatz zwischen der Freiheit des Individuums und der auf soziale Befreiung ausgerichteten kollektiven Aktivität hinaus.

Wenn die Arbeiterdemokratie als Mittel zur Rekuperation benutzt wird, als Plattform, um konservative Ideologien zu verbreiten und praktische Aktionen zu versteinern, dann ist diese Art von Demokratie kontraproduktiv, genauso wie die Organisation, die sie umsetzt und in der Praxis als reaktionäre Kraft auftritt. Aber ich betone noch einmal: Solange es nicht unbedingt notwendig ist, sollten im Allgemeinen friedliche und dialogorientierte Formen der Opposition vorherrschen, nicht aus Opportunismus, sondern weil sie wünschenswert sind, weil sie die kreative Interaktion zwischen Individuen fördern. Gewalttätige oder autoritäre Formen der Opposition innerhalb einer Arbeiterorganisation oder zwischen verschiedenen Organisationen sind nur dann wirklich fortschrittlich, wenn sie ein theoretisch-politischer Ausdruck ebenso fortschrittlicher Tendenzen im Klassenkampf sind, d. h. wenn dieser Kampf zwischen rückständigen und fortschrittlichen Fraktionen der Klasse bereits auf der Ebene der Mehrheit der Klasse deutlich stattfindet. Dann wird sich dieser Kampf in theoretisch-politischer Form in den Debatten jeder Organisation wiederholen, und es wird notwendig werden, eine feste Entscheidung zu treffen, ohne dass in der Praxis Ambivalenzen möglich sind. Denn derselbe Kampf muss auf der Ebene der Klasse als Ganzes geführt werden, insbesondere im Rahmen ihrer einheitlichen organischen Ausdrucksformen, sofern es solche gibt (Vollversammlungen, Streikkomitees usw.).

Aus dieser Perspektive muss der gesamte Kampf gegen die verschiedenen reformistischen Fraktionen und ihre organisatorische Ausrichtung verstanden werden. Die Fraktionen, die sofort offen und vollständig bekämpft werden müssen, sind diejenigen, die sich der Weiterentwicklung (zur Autonomie) des Klassenkampfs in seiner gegenwärtigen Phase widersetzen, nicht diejenigen, die noch dazu beitragen können, ihn voranzutreiben. Gegenüber den anderen kann und muss vorerst eine kritische Position und zumindest punktuell eine gewisse Zusammenarbeit beibehalten werden. Dies konkretisiert sich in den jeweils geeigneten Formen der organisatorischen Praxis. So ist es zum Beispiel nicht verwunderlich, dass die Verteidigung der Vollllversammlungsdemokratie mit offenen Angriffen, sogar mit Sabotage, gegen Versuche einhergehen muss, sie demagogisch zu nutzen, um die Zustimmung oder Unterwerfung der Arbeiter*innen unter das Kapital zu erreichen, wie es die herrschenden Gewerkschaften/Syndikate tun. Gerade weil es nicht um Demokratie als Verfahren geht, sondern um den sozialen demokratischen Inhalt dieses Verfahrens, um seine Eigenschaft als Vehikel der Interessen des Proletariats als Klasse, ist es manchmal notwendig, formale demokratische Ausdrucksformen zu zerstören, um sie durch andere zu ersetzen, was natürlich die Anwendung formal undemokratischer Methoden voraussetzt. Es geht, das kann man nicht oft genug wiederholen, um das Prinzip, dass die Demokratie der Arbeiterklasse ihre Diktatur gegen das Kapital und seine Vertreter ist, sonst wird sie zu einer Fälschung.

Für diejenigen, denen diese Aussagen „übertrieben” erscheinen mögen, muss darauf hingewiesen werden, dass die traditionelle anarchistische/vollversammlungsorientierte Kritik am Bürokratismus und ihre rein organisatorische Scheinlösung das Verständnis dafür verhindert, dass bürokratische Arbeiterorganisationen ebenfalls Ausdruck der Arbeiterklasse sind und daher über eine entsprechende Massenbasis (Mitglieder, Sympathisanten, beeinflussbare Sektoren) verfügen, weshalb der Kampf gegen den Reformismus zwangsläufig auch ein Fraktionskampf – manchmal friedlich, manchmal gewaltsam – innerhalb der Arbeiterklasse selbst ist. (Selbst die „Arbeiterorganisationen”, die eigentlich nur noch Agenten des Kapitals sind und total in den Staat integriert sind, können nicht formal nicht-arbeiterisch sein, um ihre Funktion zu erfüllen, und müssen daher eine minimal „arbeiterische” Zusammensetzung, Ideologie und Funktionen beibehalten – indem sie das Proletariat als bloßes variables Kapital darstellen, d. h. sie vermitteln in ihren rein funktionalen Beziehungen zum Kapital –, sodass sie auch epochal von „kritischen“ Tendenzen und Kämpfen an der Basis beeinflusst werden können.)

Schließlich sind, wie ich bereits sagte, Unterschiede in Tempo und Form der sozialen Entwicklung immanent, insbesondere auf der Grundlage entfremdeter sozialer Beziehungen, und solche Unterschiede können zu Spaltungen innerhalb der Klassenbewegung führen. Diese Spaltungen sind aber nicht kontraproduktiv für ihre Entwicklung oder politisch reaktionär; im Gegenteil, sie sind notwendig, damit jeder Teil der Klasse und sogar jedes Individuum seine Zeit und seinen Spielraum hat, um in seinem eigenen Tempo und entsprechend seiner Erfahrung zu reifen, und was zählt, sind nicht diese Reifungsunterschiede und die daraus resultierenden formalen Spaltungen, sondern der Fortschritt in Richtung Zusammenfluss und Zusammenarbeit für das gemeinsame Projekt. Was die verteidigte revolutionäre Taktik deutlich macht, ist, dass die Ähnlichkeit zwischen denen, die sich als Revolutionäre bezeichnen, um in der Praxis eine reformistische Politik zu betreiben und eine reformistische soziale Aktivität zu entwickeln, und denen, die sich in einer Bewegung für eine effektive revolutionäre Transformation engagieren wollen, nur eine Fassade ist, hinter der sich ein scharfer Antagonismus verbirgt. Je radikaler die reformistischen Vorstellungen werden, je radikaler ihr Versuch ist, die bourgeoise Gesellschaft zu verändern, ohne das Wesentliche zu verändern – wie im leninistischen Jakobinismus, der nur im bourgeoisen Sinne revolutionär ist –, desto deutlicher zeigt sich der radikale und totale Unterschied zwischen diesen Tendenzen und denen, deren Daseinsberechtigung gerade darin besteht, das Wesen des Kapitalismus zu beseitigen. Diese Unterschiede nicht klar zu sehen, wie es in der Vergangenheit der Fall war – und aufgrund der verbleibenden Mängel unseres Bruchs mit der bourgeoisen Weltanschauung auch weiterhin in gewissem Maße der Fall sein wird –, ist eine Folge der Unreife des Proletariats als revolutionäre Kraft; aber sie nicht zu sehen, bedeutet nicht, dass sie nicht da waren und nicht da sein werden, völlig sichtbar und greifbar für diejenigen von uns, die aus eigener Erfahrung die entfremdenden Grundlagen und unüberwindbaren Grenzen des Kapitalismus entdeckt haben.

III. Zusammenfassung: Der Kampf gegen den Reformismus erfordert die Überwindung des politischen Fetischismus.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der Kampf gegen den Reformismus mit möglichst demokratischen Methoden und Formen geführt werden muss, solange der Reformismus noch nicht als eindeutig rückschrittliche oder konterrevolutionäre Kraft wirkt, aber vorübergehend auch weniger demokratische oder sogar undemokratische Formen annehmen, wenn die Situation progressive oder revolutionäre Aktionen erfordert, da sonst die Bewegung, die Organisation oder die Gruppe, die sich dieser „autoritären“ Praktiken „enthält“, in die Position einer rückständigen oder konterrevolutionären Kraft oder zu einem trägen oder unfreiwilligen Instrument derselben geraten würde. Dieser Verlauf des Kampfes wird manchmal unvermeidlich sein, sowohl als innerfraktioneller Kampf auf der Ebene der Klasse als Ganzes als auch als Kampf zwischen Organisationen und als Kampf innerhalb der Organisationen selbst. Denn in solchen Situationen vertreten die rückständigen Elemente mit ihrer tatsächlichen sozialen Praxis – unabhängig von ihrer „organisatorischen“ Praxisform – die Interessen der Bourgeoisie und nicht die der Arbeiterklasse. Das Problem sind hier nicht die Organisationsmethoden, sondern die Bestimmung des allgemeinen Interesses der Klasse. Dies kann nicht in erster Linie durch eine Theorie bestimmt werden, sondern durch den tatsächlichen Verlauf des Klassenkampfs in seiner inneren Dimension: als Kampf an der Basis (neben dem Kampf zwischen Organisationen und Gruppen) der großen Fraktionen der Arbeiterklasse.

All das lässt sich zu der Regel verallgemeinern, dass wir immer die fortgeschrittenen Teile der Klasse unterstützen müssen, egal wie schwierig das ist, und wenn nötig auch auf Kosten „unserer” Organisationen und der formalen Demokratie. Wenn diese fortgeschrittenen Teile noch in der Minderheit sind oder wenn wir innerhalb der organisierten Bewegung in der Minderheit sind, kann diese Politik gewaltsame oder autoritäre Methoden erfordern. Im Falle eines Kampfes innerhalb derselben Organisation, vorausgesetzt, dass man ihre Struktur wiederherstellen will, weil sie politisch nützlich und notwendig ist, setzt dies natürlich voraus, dass es sich bisher um eine Organisation mit progressivem Charakter handelte, in der wir uns vorübergehend zusammenschließen konnten, um die autonome proletarische Strömung aufzubauen. Außerhalb dieses Falles, zum Beispiel in alten, konsolidierten und in das Kapital integrierten Organisationen, ist eine solche Politik nicht durchführbar (außer als teilweise Wiederaneignung). Sicherlich kann es auch sein, dass eine solche Absicht, die Organisation zu übernehmen, nicht möglich ist, weil eine aktive Mehrheit dagegen ist, ob sie nun von einer konservativen Minderheit, die bisher die politische Kontrolle hatte, manipuliert wird oder nicht. Aber unabhängig von Überlegungen zur Durchführbarkeit sind in solchen Fällen undemokratische Praktiken zur Verhinderung der Aneignung der Ressourcen und der Identität der Organisation durch die historische Kohärenz der Klasse gerechtfertigt. Die Weiterentwicklung demokratischer Formen durch eine erweiterte Selbstaktivität der Arbeiter hat Vorrang vor der Erhaltung der gegenwärtigen Formen der Demokratie, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht immer begrenzter werden – auch wenn ihre Verteidiger sie in ihrer egozentrischen Engstirnigkeit als „das Letzte“ und „Endgültige“ in Sachen Demokratie und Organisation betrachten.

Die wirkliche Demokratie wird nie etwas anderes sein als die bewusste Selbstbestimmung der Individuen entsprechend ihrem Wesen, und diese kann sich nur mit der Entwicklung der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt fortschreitend entwickeln. Sie ist weder etwas, das uns vorgegeben ist, noch kann sie durch einfache Organisation und Propaganda innerhalb des Kapitalismus geschaffen werden. Wir fordern und praktizieren daher „Demokratie“ als Inhalt der Tätigkeit des als bewusste Klasse konstituierten Proletariats; auf dieser Ebene ist Demokratie eine lebenswichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Proletarier*innen als Individuen und für ihre kollektive Aktion. Auf der anderen Seite fordern und praktizieren wir die „Diktatur” gegen alle Elemente, die offen die Interessen des Kapitals vertreten, und auch gegen diejenigen, die sich aktiv der Entwicklung der fortschrittlichen Tendenzen der Klasse widersetzen. Letzteres kann natürlich zu unangenehmen Konflikten und Kämpfen führen, aber die Geschichte verläuft nicht nach dem Geschmack aller, und auch wenn wir uns in unseren Entscheidungen irren können, hat niemand absolute Gewissheiten, und Demokratie ist kein Schutz davor (das wäre die Taktik des Straußes: den Kopf vor der Gefahr verstecken und andere die Entscheidungen treffen lassen, in diesem Fall mit der Ausrede, dass sie die formal legitimierte Mehrheit sind). Unser Streben nach Demokratie darf uns nicht dazu bringen, an den Anforderungen unserer Erfahrung und unseres Urteilsvermögens zu zweifeln. Wie bei allem anderen ist auch die psychologische Bindung an demokratische Formen wenig zuverlässig, da solche Formen nicht „besessen” werden können, sondern nur „sein” können. Sie beginnen zu sterben, sobald ihr Lebensprinzip, die unbegrenzte Entfaltung der proletarischen Selbsttätigkeit, geleugnet wird, auch wenn ihre Existenz oder Möglichkeit im Inneren abstrakt behauptet wird.

Beide Prinzipien, „Demokratie“ und „Diktatur“, die ganz praktisch sind – Arbeiterdemokratie und Klassendiktatur – finden ihre Einheit in der globalen Aktivität der Klasse und in ihren praktischen historischen Tendenzen die Quelle ihrer Legitimität und die Überprüfbarkeit ihrer Anwendung. Auch wenn die fortschrittlichen Tendenzen manchmal nicht siegen, heißt das nicht, dass wir nicht versuchen, ihnen den Weg zu ebnen, indem wir mit den konservativen Fraktionen der Arbeiterbewegung brechen und, wenn nötig, gewaltsam gegen sie kämpfen. Der Revolutionär ist nicht derjenige, der sich vor die Masse stellt, um ihr zu sagen, was sie tun soll, sondern derjenige, der sich dem Kampf hingibt, um sie bewusst an die Grenze ihrer Möglichkeiten zu führen. Dies mag nicht mit den „Prinzipien“ irgendwelcher Ideologien vereinbar sein, aber es ist die effektive Kohärenz mit dem gemeinsam proklamierten Ziel: „Die proletarische Anarchie ist der Krieg gegen das Kapital in all seinen Formen“. Andererseits können die Entscheidungen der großen Mehrheit der Klasse falsch sein, auch wenn sie die größte demokratische Legitimität oder Gültigkeit haben. In diesem Fall werden wir diese Legitimität und Gültigkeit immer anerkennen, aber das hindert uns nicht daran, sobald sich bedeutende Risse in dieser großen Mehrheit zeigen, den fortschrittlichsten Teil vorbehaltlos gegen die verbleibende konservative Mehrheit zu unterstützen. Entscheidend ist hier nur, ob diese fortschrittliche Minderheit groß genug ist und ob sie die historische Dynamik der Entwicklung des Kapitalismus und des Klassenkampfs auf ihrer Seite hat: Je nachdem muss die eine oder andere Politik verfolgt werden, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und zur autoritären Lösung von Differenzen führen kann. Schließlich wird Demokratie unter den vorhersehbaren Bedingungen des Kapitalismus immer die Durchsetzung des Willens der Mehrheit über die Minderheit sein. Und im Sinne einer historischen, nicht formalistischen Kohärenz kommt es darauf an, dass die bewusste Mehrheit als Klasse, die den zukünftigen Fortschritt und die Befreiung repräsentiert, über die unbewusste Mehrheit als Klasse, die konservative und rückschrittliche Tendenzen repräsentiert, siegt. Das ist die wahre proletarische Demokratie, denn Demokratie ohne Bewusstsein oder, genauer gesagt, mit einem Bewusstsein, das von der Realität der Welt und von sich selbst entfremdet ist, ist nichts anderes als eine Reproduktion der bourgeoisen Demokratie und damit direkt oder indirekt der Herrschaft des Kapitals.

Das Proletariat ist entweder revolutionär oder es ist nichts.“ Marx, Brief an Schweitzer, 1865.

IV. Anarchie vs. Demokratie: eine grundsätzliche Kritik am Demokratie-Fetischismus.

Dass die Welt zwangsläufig in zwei Lager geteilt wird, das Lager des neuen Lebens und das Lager der alten Privilegierten, und dass zwischen diesen beiden gegensätzlichen Lagern, die durch gemeinsame Ideen und Interessen verbunden sind, ein Krieg ohne Gnade und ohne Waffenstillstand ausbrechen wird. Dass die soziale Revolution, die in ihrem Wesen der heuchlerischen Politik der Nichteinmischung, die nur den Sterbenden und Ohnmächtigen nützt, entgegensteht, aus eigenem Interesse an ihrer Gesundheit und Selbsterhaltung, da sie nur durch ihre Entwicklung leben und triumphieren kann, die Kriegsbeile nicht begraben wird, bevor sie alle Staaten und alle alten religiösen, politischen und ökonomischen Institutionen in Europa und in der gesamten zivilisierten Welt zerstört hat.“ Michail Bakunin, Organisation der Internationalen Revolutionären Bruderschaft, 1865.

Trotz der Verzerrungen, denen sie im Laufe der Zeit ebenfalls unterworfen war, war die anarchistische Strömung in ihren Anfängen nicht Gefangene des demokratischen Fetischismus, und hat als revolutionäre Strömung viel klarere Beiträge zum Verständnis dieses Problems geleistet als die marxistische Strömung, denn wie wir bereits gesehen haben, war für Marx und Engels selbst die Frage der politischen Ordnung vor allem ein funktionales Problem, das weitgehend der Spontaneität der Arbeiter*innen überlassen blieb. Sie haben klar erkannt, dass nur die Demokratie den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Proletariats als politisches Subjekt und seinen Aufstieg zur herrschenden Klasse bilden kann, weshalb sie die Ausweitung der bourgeoisen Demokratie als ein fortschrittliches Mittel zu diesem Ziel verstanden haben. Aber anscheinend haben sie die Bedeutung der Demokratie als konkrete und wirksame politische Praxis, als Form der Selbstentfaltung der Individuen, nie richtig eingeschätzt, sondern ihre Überlegungen dazu sind eher abstrakt. Und obwohl wir zuvor gesagt haben, dass es eine fetischistische Position ist, der politischen Praxis und noch mehr ihrer Form Vorrang vor allen anderen Formen sozialer Aktivität und ihrer Entwicklungsdynamik einzuräumen, bedeutet dies nicht, dass wir die Bedeutung dieser Praxis und ihrer Form nicht anerkennen. Ganz im Gegenteil, denn im Gegensatz zu den klassischen anarchistischen Positionen wollen wir nicht nur die formalen Bedingungen für freie politische Teilhabe schaffen, sondern diese Teilhabe auch umfassend und ganzheitlich gestalten, und das kann nur auf der Grundlage einer möglichst breiten formalen Demokratie erreicht werden.

In seinen Schriften kritisierte Bakunin Gewalt und Autorität als im Staat begründet und sah in der Gewalt der Rebellion der Ausgebeuteten eine Reaktion auf diesen Autoritarismus, deren Gewalt sich vor allem gegen Institutionen und nicht gegen Personen richten würde. Er verstand die Durchsetzung des Willens der Unterdrückten gegenüber ihren Unterdrückern als einen Akt der Befreiung und nicht als einen Akt der Autorität, weil es in Wirklichkeit die Rückgabe an die Gesellschaft dessen ist, was in der autonomisierten Macht über die Individuen entfremdet ist – ihre eigenen politischen Fähigkeiten. Eine solche revolutionäre Praxis ist daher niemals im Wesentlichen autoritär, sondern die Wiederherstellung der Freiheit der Individuen, die ein fester Teil der menschlichen Natur ist. Auch wenn sie manchmal autoritäre Züge annimmt, zielt sie nicht darauf ab, stabile oder dauerhafte Formen des Autoritarismus zu schaffen, und in diesem Sinne kann man sagen, dass selbst wenn sie die Demokratie verletzt, diese Gewalt nicht zu einem im Wesentlichen autoritären oder dauerhaften Phänomen wird. Dies gilt jedoch nur abstrakt, unter der Voraussetzung, dass die konkreten Aktionen mit den revolutionären Zielen historisch kohärent sind. Im Bereich der Gegenwart und der konkreten Aktion, wo diese Kohärenz schrittweise aufgebaut werden muss, müssen wir dank der Bewusstseinsentwicklung und der Überwindung entfremdeter Formen der Aktion, des Denkens und des Seins in der Lage sein, die Last der in unseren Handlungsformen impliziten Widersprüche auf unsere Schultern zu nehmen, auch wenn wir vernünftigerweise darauf vertrauen, dass diese Widersprüche durch die globale Entwicklung identifiziert, ausgeglichen und gelöst werden.

Wenn einerseits der Anarchismus die proletarische Denkströmung war, die am meisten zur Kritik der Demokratie beigetragen hat, indem er das anarchische Regime als politische Form, die der wahren menschlichen Gemeinschaft entspricht, fest am Horizont der historischen Aktion verankert hat, so haben andererseits sein adialektischer theoretischer Ansatz und seine doktrinäre Tendenz – die ihn dazu führen, die Existenz von Autoritarismus in der revolutionären Aktivität los zu sagen – oder als relativ positiven Faktor im Verlauf der fortschreitenden Entwicklung der proletarischen Bewegung – haben ideologische Tabus begünstigt und damit die einfache, bedingungslose Zustimmung zu den radikalsten Formen der Demokratie als den im Hier und Jetzt realistischsten Weg zum Ideal der Anarchie. Mit anderen Worten: Ihre theoretischen Ungereimtheiten haben dazu geführt, dass eine Mischung aus kleinbourgeoisen Idealismus und Reformismus entstanden ist, deren Karikatur der genossenschaftliche Selbstverwaltungsismus ist, der am Rande des kapitalistischen Systems überleben will, indem er sein eigenes „autonomes” ökonomisches, politisches und kulturelles Subsystem aufbaut. Genossenschaftliche ökonomische Netzwerke, Gewerkschaften/Syndikate, soziale Zentren und Basisbewegungen, die sich als „Gegenmächte” etablieren wollen, sind die konkreten Ausdrucksformen dieser Ideologie, die in der Praxis eine unbegrenzte Koexistenz mit dem Kapitalismus bedeuten.

Was wir hier jetzt klarstellen wollen, nämlich die politischen Formen der revolutionären Aktion der Avantgarde innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, kann nicht durch rein abstrakte Ansätze erreicht werden, sondern erfordert eine konkrete Festlegung der sozialen Merkmale unserer Aktionen und ihrer Modalitäten. Bakunin hat dieses kritische und praktisch-kritische Kriterium auch auf die Demokratie angewendet, denn obwohl „wir zweifellos alle Demokraten sind“, weil wir „die Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ verteidigen.

Wir müssen echt naiv sein, um zu glauben, dass die Arbeiter – unter den sozialen und ökonomischen Bedingungen, in denen sie sich jetzt befinden – ihre politische Freiheit voll ausnutzen oder ernsthaft und real nutzen können.

„[„Das allgemeine Wahlrecht ist die Konterrevolution“ (Proudhon)]. Nein, es kann nicht anders sein, und das wird in noch größerem Maße zutreffen, solange die Ungleichheit der ökonomischen und sozialen Bedingungen in der Organisation der Gesellschaft vorherrscht und solange diese in zwei Klassen gespalten bleibt, von denen die eine – die ausbeutende und privilegierte Klasse – alle Vorteile des Reichtums, der Bildung und der Muße genießt, während der anderen Klasse – in der sich die gesamte Masse des Proletariats befindet – nur Zwangsarbeit und Monotonie, Unwissenheit und Armut mit den notwendigen Begleiterscheinungen zustehen: faktische, wenn nicht sogar rechtliche Sklaverei.

Meiner Meinung nach ist das allgemeine Wahlrecht die umfassendste und zugleich raffinierteste Ausdrucksform der staatlichen politischen Scharlatanerie; es ist zweifellos ein gefährliches Instrument, das von denen, die es benutzen, große Geschicklichkeit und Kompetenz verlangt, aber gleichzeitig, wenn diese Leute lernen, es zu benutzen, zum sichersten Mittel werden kann, um die Massen zur Mitarbeit am Aufbau ihres eigenen Gefängnisses zu bringen.“ Michail Bakunin, Schriften zur politischen Philosophie, zwei Bände.

Ein weiterer großer Kritiker des demokratischen Fetischismus war der galicische Anarchist Ricardo Mella, der in seiner Broschüre „La ley del número“ (1899) die Thesen Bakunins ausführlich entwickelte, obwohl viele Anarchistinnen und ANarchisten aus der Broschüre nur den typischen antiparlamentarischen und delegationsfeindlichen Aspekt4 übernommen haben, nicht aber die Kritik an der Demokratie selbst als Form, die genau ihren Kern ausmacht:

Man könnte das, was der Wahnsinn des Prinzips selbst ist, auf Unreinheiten der Realität zurückführen und trotz aller gegenteiligen Erfahrungen die Möglichkeit bejahen, sich nach den Entscheidungen der Mehrheiten zu richten. Und in diesem Fall müssen wir, auch auf die Gefahr hin, dass diese Arbeit monoton wird, die Falschheit des angeblichen Gesetzes in allen Aspekten aufzeigen.

Überzeugt vom radikalen Antagonismus zwischen individueller Freiheit und der überwältigenden Vorherrschaft der Masse, lehnen wir jede Autorität ab, sei sie aus Gewalt oder aus der Zahl hervorgegangen. Damit das Individuum und die Gruppe nebeneinander existieren können, ohne sich zu zerstören, muss jede Form der Unterwerfung des einen unter den anderen beseitigt werden.

Und da dieses Kriterium der Freiheit jede Idee der Unterordnung unter die Mehrheit ausschließt, werden wir zeigen, dass das Gesetz der Zahl an sich falsch ist und dass die Gesellschaft alle ihre Angelegenheiten regeln kann, ohne auf das Wahlverfahren zurückzugreifen.

Mella beginnt seine Kritik der Demokratie mit einem Angriff auf die bourgeoise politische Gleichsetzung von tatsächlichen Bedürfnissen und bewussten Interessen:

Es wird gesagt, und es ist kaum zu bezweifeln, dass die Mehrheit in allen Fragen klarer sieht als die Minderheit und dass es, da viele Dinge allen Menschen gemeinsam sind, logisch und notwendig ist, dass die Mehrheit darüber entscheidet, wie und in welcher Form die allgemeinen Ziele zu erreichen sind.

Das Gesetz der Mehrheiten ist nicht das Gesetz der Vernunft, es ist nicht einmal das Gesetz der Wahrscheinlichkeiten der Vernunft. Der soziale Fortschritt verläuft genau umgekehrt, nämlich durch den Impuls von Minderheiten oder, noch treffender, durch den Drang des Individuums, das sich offen gegen die Masse auflehnt. Alle unsere Fortschritte sind durch wiederholte individuelle Negationen gegenüber den Behauptungen der Menschheit zustande gekommen. Sicherlich hat die Masse, nachdem sie die individuelle Hypothese akzeptiert hat, immer das Werk vollendet, aber der Impuls kam nie von den Mehrheiten.

Die gesamte, absolut gesamte Geschichte ist eine Negation des Gesetzes der Zahl, des barbarischen, ja, des barbarischen Gesetzes der Zahl. Jeder Schritt, den wir getan haben, war ein offener Kampf mit den anderen. In Wissenschaft und Kunst, ebenso wie in Politik und Ökonomie, ebenso wie im praktischen Leben, ist alles gegen den Willen und die Entscheidungen der Mehrheiten geschehen.

Wollen wir weiterhin die Vorzüge der Zahl, der höchsten Wissenschaft und der höchsten Vernunft der Mehrheit besingen? Halten wir es noch immer für wenig weniger als leichtsinnig, die begrenzten oder unbegrenzten Rechte der Mehrheit in Frage zu stellen?“

Für Mella müssen die delegatorischen und vereinheitlichenden Folgen der Demokratie auf jeden Fall hinterfragt werden, denn „von der Unterordnung des Denkens und Handelns der einen … unter die der anderen kann nichts Dauerhaftes oder Praktisches erwartet werden, und … da die Erfahrung der große Prüfstein aller Auseinandersetzungen ist, wird die Vielfalt der Praktiken immer der Beschränkung der bereits Gewohnten vorzuziehen sein“. Er betont aber, dass die Probleme der Demokratie vor allem darin liegen, dass sie als heiliges und absolutes Prinzip angesehen und gelebt wird:

Was jedoch bei der Diskussion über das Gesetz der Zahl wirklich zur Debatte steht, ist ein politischer Mystizismus, der dringend beseitigt werden muss, nämlich der politische Mystizismus des sozialen Rechts, in dessen Namen tausend Parteien und tausend Schulen mit dem vergeblichen Anspruch gegründet wurden, die Welt von den Höhen der Macht aus und mit denselben Mitteln, die sie eigentlich ablehnen, zu erneuern. Was tatsächlich diskutiert wird, ist, ob die Gemeinschaft ihren Mitgliedern Regeln vorschreiben kann; denn wenn sie es kann, gibt es kein anderes Mittel, dieses Recht auszuüben, als die Anwendung des Gesetzes der Zahl; und wenn sie diese Macht hingegen nicht hat, fehlt der Herrschaft der Mehrheit jede Grundlage.

So wie im Namen des religiösen Aberglaubens Tausende von großzügigen Menschen, die für die Zukunft lebten, geopfert und die Wahrheit immer wieder verurteilt, exkommuniziert und verboten wurde, wird im Namen des politischen Aberglaubens des sozialen Rechts die menschliche Persönlichkeit geopfert, das individuelle Recht missachtet und mit Füßen getreten, die Wahrheit, die der Wissenschaftler kühn formuliert, oder derjenige, der großzügig das Elend seiner Mitmenschen beenden will, oder derjenige, der schließlich versucht, sein eigenes Recht gegen die brutale Macht der Mehrheit durchzusetzen, mit Blut erstickt.

Unter dem Deckmantel des Sozialrechts, aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, wie die mystischen Revolutionäre sagen, werden dem Individuum alle möglichen Folterungen und Demütigungen auferlegt. (…) Wenn es notwendig ist, zwanzigtausend oder hunderttausend Menschen zu köpfen, damit die anderen diese oder jene, immer fiktiven Vorteile erhalten, werden hunderttausend oder zwanzigtausend Menschenköpfe unter dem Beil des Henkers fallen. (…)

Angesichts des angeblichen Sozialrechts muss die Fahne der freien Individualität hochgehalten werden. Angesichts der Willkür der Gruppe muss die Unabhängigkeit und Achtung der menschlichen Persönlichkeit eingefordert werden.

Gegen diese verhängnisvolle Doktrin proklamiert der revolutionäre Sozialismus die vollständige persönliche Unabhängigkeit und die Freiheit der Aktion für alle Menschen in einer Welt der Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit.

Mella argumentiert, dass die Gesetze selbst, das Recht, eine Einschränkung des Lebens sind, die dazu führt, dass soziale Veränderungen auf gewaltsame Weise durchgesetzt werden müssen:

In den öffentlichen und privaten Beziehungen, in Industrie und Arbeit, im gesamten sozialen Leben stehen die Bräuche über den Gesetzen. Viele davon sind für die Menschen nur toter Buchstabe. Gesetze sind eigentlich ein Eingriff in das Leben der Menschen; sie sind die Tricks einer Falle, die nur Anwälte und Prozessfälscher gut kennen. Die Bräuche hingegen, die von Nation zu Nation, von Region zu Region und von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich sind, regeln alle unsere Handlungen und bestimmen unser ganzes Leben. Deshalb müssen die Menschen ihr Dasein zwischen ständigen Aufständen und Ausflüchten aller Art verbringen. Aber um den Auswirkungen des Gesetzes zu entgehen und nach eigenem Willen zu handeln, muss man sich selbst entehren und ungerecht und egoistisch sein und das eigene Interesse über alles andere stellen, so ist auch das von der Mehrheit geschaffene Gesetz die Ursache all unserer Übel und die absolute Negation der persönlichen Integrität und der menschlichen Freiheit zum Vorteil einer großen Zahl von Dummköpfen oder einer Minderheit von Schurken.

Wenn also das einfache und praktische Leben einiger Völker mit der Realität einer zivilisierten und gesetzeswidrigen Existenz verbunden wäre, würde dies beweisen, dass das Verfahren der Mehrheiten nicht nur falsch, sondern auch unnötig und schädlich ist. Was sollen wir dann den Ungläubigen, den Fanatikern der Zahlen und den Anbetern des modernen Fetischs sagen?

Verkümmerte Gehirne sind unfähig, die soziale Existenz von ihrer wirklich positiven Seite zu begreifen, und sie sehen sie nur von ihrer künstlichen Seite.“

Natürlich bleibt Mella der für den Anarchismus typischen Tendenz zum Staatsfetischismus verhaftet, einer theoretischen Umkehrung, die den politischen Autoritarismus als Ursache der sozialen Übel betrachtet, anstatt ihn als Ausdruck (und wiederum selbstverstärkenden Faktor) der ökonomischen Verhältnisse und der daraus resultierenden Klassenteilung der Gesellschaft zu verstehen. Dennoch erkennt Mella offen die Notwendigkeit von Gewalt zur Beseitigung des bestehenden Regimes an:

Sind alle Hindernisse, alle staatlichen oder gesetzlichen Zwänge für die individuelle und kollektive Entfaltung beseitigt, kann sich die Entwicklung der Sitten, die Entwicklung der Methoden des sozialen Zusammenlebens, ebenso wie die der Menschen und der Dinge, kurz gesagt, der Fortschritt in seiner Gesamtheit, frei entfalten.

Wir wollen, dass das, was mit Gewalt entstanden ist, auch mit Gewalt zerstört wird, aber friedlich. Jeder Zusammenhalt oder jede Trennung, die aus zwingenden Notwendigkeiten entsteht, muss eher durch die spontane und entschiedene freie Entfaltung der Elemente, die diese Notwendigkeiten begründen, als durch Kampf und Gewalt zustande kommen. Wir verkünden die Theorie der Freiheit in ihrer ganzen Reinheit.

In allen zitierten Argumenten von Bakunin und Mella wird jedoch deutlich, dass sie sich weigern, aus ihren Positionen und Analysen explizit die revolutionäre Notwendigkeit abzuleiten, die Demokratie zu überwinden und daher, wenn nötig, proletarische Gewalt anzuwenden. Ebenso deutlich wird ihre generelle Weigerung, die Notwendigkeit eines gewaltsamen Kampfes offen anzuerkennen, um rückständige Praxisformen zu überwinden, gerade weil diese in der Klassengesellschaft dazu neigen, sich in verschiedenen politischen Formalitäten und Ideologien zu verfestigen und so zu Fetischen zu werden, die die objektiven Ziele ersetzen, die den Bedürfnissen der Individuen entsprechen. Diese theoretische Auslassung führt zu einer praktischen Unfähigkeit, diese Beschränkungen und das damit einhergehende falsche Bewusstsein zu bekämpfen und zu überwinden. Indem er die transitorisch, widersprüchlichen, der historischen Praxis und dem menschlichen Werden innewohnenden Vermittlungen meidet und versucht, sie durch ideale Vermittlungen zu ersetzen, die abstrakt aus den historischen Zielen abgeleitet werden, sobald diese in mentale Prinzipien übersetzt sind, neigt der klassische Anarchismus dazu, die „zerstörerische Leidenschaft” von der „schöpferischen Leidenschaft” zu trennen, entgegen der von Bakunin leidenschaftlich vertretenen Idee, Schöpfung und Zerstörung in der revolutionären Bewegung zu vereinen. Kreativität wird abstrakten Prinzipien und ihrer ideologischen deduktiven Logik untergeordnet und damit eingeschränkt, und in der gegenwärtigen Praxis herrschen Kompromisse mit den bestehenden Verhältnissen vor. Damit wird auch das kritisch-praktische, destruktive Potenzial der gegenwärtigen sozialen Praxis eingeschränkt.

Um das Problem in die Diskussion über den politischen Fetischismus zu stellen, können wir die aufgezeigten Einschränkungen so zusammenfassen: Aus der radikalen Kritik am demokratischen Fetischismus will der klassische Anarchismus nicht ableiten, dass diese Kritik tatsächlich theoretisch bis zu den Wurzeln des politischen Fetischismus im Allgemeinen vorgedrungen ist, indem sie die Autonomisierung der Formen der sozialen Macht mit der Klassenteilung der Gesellschaft verbindet. Daher muss diese Kritik auch auf jede Form der politischen Praxis ausgedehnt werden, egal ob ihre Subjekte sie als „autoritär” oder als „libertär” bezeichnen. Sobald wir über den statischen Begriff der Freiheit hinausgehen und Freiheit als die spontane und volle Entfaltung aller Potenziale der Individuen verstehen, können wir auch erkennen, dass die individuelle Freiheit als reale Grundlage jeder gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur ihrer fortschreitenden Entwicklung angemessene soziale Formen, sondern auch entsprechende soziale Bedingungen erfordert. Die Entwicklung der Freiheit setzt daher auch die Rebellion gegen alle rückständigen sozialen Bedingungen voraus, einschließlich der politischen Strukturen, die ihr entgegenstehen, unabhängig von ihren formalen Merkmalen. Denn in diesem Fall wirken solche Strukturen oder Formen als Vehikel einer historisch reaktionären und damit direkt oder indirekt unterdrückerischen Tätigkeit, deren soziale Auswirkungen normalerweise wichtiger sind als alle ihre inneren oder rein persönlichen Vorzüge, einschließlich der „antiautoritären” Vorzüge.

V. Autoritarismus, Freiheit und Entfremdung im Kapitalismus.

Wie wir gesehen haben, ist die Verteidigung des „revolutionären Autoritarismus” als vorübergehendes formales Mittel keineswegs fremd oder widersprüchlich zur ursprünglichen marxistischen Theorie und erklärt einen Teil des Hintergrunds ihrer historischen Praxis – den methodisch kohärenten Teil, im Gegensatz zu anderen möglichen Exzessen. Diese Theorie schlägt auf ihre Weise und als grundlegenden Schlüssel ihrer Praxis eine kritische – wenn auch konkret wenig entwickelte – Sichtweise des politischen Autoritarismus vor. Was im bakuninistischen Theoriegebäude die revolutionäre Kritik der „Autorität” darstellt, ist im marxistischen Theoriegebäude die revolutionäre Kritik der „Entfremdung” als soziales, historisch-praktisches Phänomen (im Gegensatz zur hegelianischen Verwendung des Begriffs).

Allerdings muss man klar zwischen der ursprünglichen Position von Marx und der später vom Bolschewismus eingenommenen Position unterscheiden. Lenin benutzte die politische Praxis von Marx als Deckmantel und nahm sie, nachdem er sie von ihrem theoretischen Inhalt und ihrem historischen Kontext abstrahiert hatte, als sein „Modell”. Auf diese Weise wurde die politische Form der Praxis von der Entwicklung der realen Proletarier*innen als revolutionäre Subjekte losgelöst und behielt diese Verbindung nur noch als Schein, der durch Diskurse und abstrakte Wortgefechte (die Selbsternennung der Bolschewiki zu Vertretern des Proletariats) suggeriert wurde. So wurde es möglich, den leninistischen Zentralismus praktisch zu rechtfertigen, denn wenn seine eigene politische Praxis es nicht zuließ, die individuelle Freiheit als Bedingung für die kollektive Freiheit zu setzen, konnten die Entwicklung und die Aktion des Proletariats als kollektives revolutionäres Subjekt nicht als eine Gesamtheit artikuliert werden, die sich aus der Gesamtheit der Proletarier und ihren Wechselbeziehungen zusammensetzt, sondern nur in der repräsentativen Form der Entwicklung und Aktivität einer ideologisierten Partei, die sich wiederum auf eine Theorie der Praxis der Avantgarde stützte, die ihre politische und ideologische Unabhängigkeit gegenüber der Masse rechtfertigte. Von der praktischen Kritik der sozialen Entfremdung und der Selbstentwicklung der Proletarier durch die freie Entfaltung ihrer Selbstaktivität, die auf methodologischer und politischer Ebene im marxistischen Denken wesentlich sind, ist in der Theorie und Praxis des Bolschewismus nichts übrig geblieben, außer in Form von Zitaten, die ihrer konkreten Bedeutung beraubt sind.

Die Bedeutung und der Einfluss des historisch-materialistischen Konzepts der Entfremdung für die theoretische Analyse werden deutlich, wenn man zwischen verschiedenen Ebenen der Realität und des Bewusstseins derselben unterscheidet. Ich werde hier nicht ausführlich die Beschreibung der Entfremdung der sozialen Selbstaktivität wiedergeben, sondern nur ihre wesentlichen Merkmale zusammenfassen:

– Autonomisierung des Objekts gegenüber dem Subjekt, das es produziert

– Entfremdung des Subjekts gegenüber dem produzierten Objekt und seiner Bewegung

– Entfremdung oder Herrschaft des Objekts in Bewegung über das Subjekt

– Feindseligkeit der Macht des Objekts gegenüber dem Subjekt

– Antagonismus der Subjekt-Objekt-Entwicklung: Die Entwicklung der Produktion von Objekten und ihrer Macht bedeutet die fortschreitende Entfremdung des Subjekts.

Darüber hinaus führen die verschiedenen phänomenologischen Ebenen der Realität dazu, dass sich die entfremdete soziale Tätigkeit dem Subjekt im Kapitalismus in ihrer unmittelbaren, vermittelten und idealen Form (als konkrete mentale Repräsentation) jeweils als Abstraktion, Verdinglichung und Fetischisierung der menschlichen Tätigkeit und ihrer Produkte darstellt. (In der fetischistischen Denkweise wird die kapitalistische Entfremdung als praktischer Ausdruck rationaler Ideen und Logik für die menschliche Entwicklung dargestellt.) Aus diesen Erscheinungsformen der Entfremdung ergeben sich beispielsweise auf ökonomischer Ebene je nach ihrer Tiefe unterschiedliche Wahrnehmungen des Kapitals:

1) Kapital als Privateigentum oder Aneignung von Mehrarbeit durch „Partikularisten” (im Gegensatz zu seiner sozialisierten Aneignung, was zur Mystifizierung der sozialisierten Aneignung in Form der Aneignung durch den Staat als „Vertreter der Gesellschaft” führt),

2) Kapital als Trennung zwischen Führenden und Ausführenden (im Gegensatz zur formalen Selbstverwaltung, die die Lohnform der produktiven Tätigkeit und den Automatismus des Marktes noch nicht radikal in Frage stellt, ebenso wenig wie den Charakter der „Arbeit” als Abspaltung und Unterordnung des gesamten sozialen Lebens unter das ökonomische Leben), und

3) das Kapital als Autonomisierung des Objekts gegenüber dem Subjekt durch die Aktion des Subjekts selbst (das Kapital als identisch mit der Selbstentfremdung der Arbeit und daher nur als Aufhebung aller sozialen Ausdrucksformen der Entfremdung des Arbeiters überwindbar).

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass jede Entfremdung der praktischen Tätigkeit von Individuen immer eine Form von Autoritarismus beinhaltet, sei sie explizit oder verdeckt. Aber es handelt sich um eine Unterdrückung, die aus der Praxis des unterdrückten Subjekts selbst entsteht und nicht außerhalb dieser Praxis liegt. Daher muss diese Entfremdung aus der inneren oder immanenten Form ihrer eigenen Praxis entstehen, bevor sie sich manifestieren kann (sobald die günstigen oder notwendigen historischen Bedingungen gegeben sind). Entfremdung ist im Wesentlichen „Selbstwiderspruch“.

„…daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären..” (Marx, IV These über Feuerbach, 1845.)

Das beste Beispiel dafür, ebenso wie für die daraus folgenden Grenzen der traditionellen antiautoritären Kritik gegenüber der dialektisch-materialistischen Kritik (ich definiere sie so anhand der Art der Analyse oder des theoretischen Vorgehens, die sie anwenden), ist das „Spektakel“ als soziale Beziehung. Das Spektakel präsentiert sich nicht unbedingt als autoritär. In seiner häufigsten Form in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft ist es eine „Freizeitbeschäftigung”, und doch ist das Spektakel, wie Debord und die Situationisten sagten, das Kapital in Form eines Bildes. Und Kapital bedeutet auch eine konkrete soziale Beziehung, die die Menschlichkeit des Subjekts abstrahiert und seine Tätigkeit in eine erweiterte Reproduktion dieser Abstraktion von sich selbst verwandelt (zunächst formal, dann zunehmend in ihrem „konkreten” Inhalt: Abstraktion von den eigenen Bedürfnissen und der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten – Denken, körperliche Betätigung, Geselligkeit usw., ganz zu schweigen von deren kreativem Aspekt).

Im Gegensatz zu einer bestimmten vulgären „kritischen” Meinung ist der Kapitalismus nicht durch persönliche und direkte Unterdrückung gekennzeichnet, sondern durch unpersönliche und indirekte Unterdrückung in Form von „frei” eingegangenen Beziehungen. Diese Freiheit ist in ihrer Form real, aber nicht in ihren realen Bedingungen5: Wir sind zum Beispiel frei, unsere Arbeit zu wählen, aber nur innerhalb der Dynamik und Bedingungen des Marktes. Auf dieser begrenzten Grundlage freier Beziehungen konstituiert sich die Sozialisierung des arbeitenden Individuums, so dass der/die Lohnsklav/in die Rolle des Staatsbürgers/der Staatsbürgerin übernimmt, d. h. des/der von Rechten beraubten Privateigentümers/in.

In der spektakulären Beziehung – in ihrer spezifisch kapitalistischen Form, nicht in den abgeleiteten oder noch mit direkten Formen der Herrschaft vermischten Formen – entscheidet sich das Subjekt frei, in diese Beziehung einzutreten, in der die Inhalte einseitig von einem anderen bestimmt werden, wenn nicht in ihrer Gesamtheit, so doch zumindest zum größten Teil. Das Wesentliche ist nicht, dass das Spektakel absolut ist, sondern dass die Aktivität des Zuschauers von der spektakulären Produktion gesteuert wird: Daher verwirklicht sich das Wesen des Spektakels nicht im Fernsehspektakel, sondern im Konzept der programmierten Interaktion innerhalb einer virtuellen Realität. Das Spektakel reproduziert das Verhältnis der Lohnarbeit, das insofern ein freies Verhältnis ist, als es ein Verhältnis zwischen privaten Eigentümern ist – dem einen als Verkäufer von Arbeitskraft und dem anderen als Käufer –, sich aber in ein Verhältnis der Unterordnung und Herrschaft der lebendigen Arbeit durch die tote Arbeit im Produktionsprozess verwandelt. Es handelt sich also um eine falsche Freiheit, aber nicht um eine völlig illusorische. Auf diese Weise wird es möglich, dass die Individuen diese Freiheit als etwas Positives und damit auch den entfremdeten Inhalt ihrer Tätigkeit annehmen, solange ihre Einschränkungen für die Entfaltung ihres Lebens nicht in den Vordergrund treten. Und selbst dann, da es sich um eine sozial begründete Freiheit handelt, kann man diese Grenzen und die daraus resultierenden Antagonismen noch eine Zeit lang besonderen oder vorübergehenden Bedingungen zuschreiben – sogar Bedingungen, die durch kollektive Aktionen verändert werden können und somit nicht der kapitalistischen Gesellschaft innewohnen. Man sieht immer die „gute Seite” des Kapitalismus, und daraus entsteht der Anspruch, ihn „verbessern” zu wollen, bis diese Wahrnehmung und die damit verbundene praktische Haltung schließlich durch die Rückschläge der kollektiven historischen Praxis verworfen werden.

Wir haben also zwei Faktoren. Auf der einen Seite die Merkmale der Entfremdung in ihrer am weitesten entwickelten Form, nämlich in der bourgeoisen Gesellschaft. Auf der anderen Seite die Merkmale, die sie überlagern und sie formal – und ich sage formal, nicht scheinbar – als Verwirklichung der Freiheit darstellen, also als Freiheit im Zustand der tatsächlichen Möglichkeit, jedoch untergeordnet der vom Kapital bestimmten sozialen Dynamik. Die kapitalistische Verzerrung der proletarischen Selbsttätigkeit zeigt sich im Allgemeinen nicht als eine Form der Selbsttätigkeit, die persönliche und direkte Autoritätsverhältnisse akzeptiert oder fördert. Dies kann der Fall sein, wenn in der objektiven und subjektiven Struktur der Gesellschaft noch vorkapitalistische Faktoren fortbestehen, aber nicht, sobald diese eine eigentliche kapitalistische Existenzform angenommen hat. Darüber hinaus sind diese Formen der Herrschaft der vom Kapital begründeten unterlegen, gerade weil in ihnen der Autoritarismus personifiziert ist und als direkt von einem Individuum oder einer Minderheit von Individuen ausgehend erscheint, während dies im Kapitalismus nicht mehr der Fall ist –abgesehen davon, dass es nicht so ist6.

Im Kapitalismus handeln die Bourgeois selbst größtenteils so, wie es die blinde Dynamik der globalen Kapitalentwicklung vorgibt, deren entfremdeter Charakter aus der Spaltung zwischen Produzenten und Produkt kommt und daher im Kapitalismus trotz aller Formen der Kontrolle und überbäulichen Aktion, die über den Produktions-Zirkulations-Verwertungsprozess hinausgehen (Produktionsplanung, staatliche Eingriffe, Werbekampagnen usw.), nicht zu überwinden ist. Das Kapital tritt umso mehr als soziale Kraft auf und wirkt umso stärker, je weiter es sich entwickelt und je mehr die Formen des Arbeitsprozesses und des gesellschaftlichen Lebens seiner Natur entsprechen (reale Subsumtion, also über die bloße Vermarktung der Aktivitäten und die Bildung eines entsprechenden gesellschaftlichen Bewusstseins hinaus, denn das begleitete es schon von Anfang an). Seine spezifische Herrschaftsform ist daher nicht auf persönlichen Beziehungen, sondern auf ausschließlich sozialen Beziehungen, die sich als Entwicklung der Freiheit der Individuen darstellt, im Wesentlichen aber deren Versklavung ist, und die in ihrer Form den Widerspruch zwischen konkreter Arbeit und abstrakter Arbeit oder zwischen Arbeitsprozess und Verwertungsprozess reproduziert, da sie in ihrer produktiven/kreativen Phase untergeordnet, in ihrer Zirkulations-/Mediationssphase aber frei ist. Die bourgeoise Demokratie ist die politische Umsetzung dieses Dualismus: Die Wahl der Vertreter ist frei, aber die Entscheidungsfindung ist fremden Interessen untergeordnet. Die direkte Demokratie, verstanden als freies Verfahren der Entscheidungsfindung, aber losgelöst von der notwendigen Grundlage (subjektive Selbstentwicklung), damit die Inhalte dieser Entscheidungen den eigenen Interessen des Proletariats entsprechen, geht daher nicht über die bourgeoise Demokratie hinaus, sondern ist nur eine andere, scheinbar populärere Form derselben.

Die spezifischen Merkmale der Unterdrückung im Kapitalismus sind jedoch nur verständlich, wenn man die sozialen Beziehungen als Prozesse versteht, in denen sich die Individuen selbst entfremden. Auf diese Weise kann ein und dieselbe Beziehung Momente in sich tragen, die sich gegenseitig widersprechen und dann auf entfremdende, mystifizierende Weise miteinander versöhnt werden, wodurch die Bewusstseinsillusion der Freiheit entsteht. Das Individuum bestimmt formal gesehen seine Aktion innerhalb der gegebenen sozialen Bedingungen und ist in diesem Sinne frei; aber diese Aktion ist durch diese globalen sozialen Bedingungen so bestimmt, dass sie sich immer gegen seine ursprünglichen Absichten wendet und sie an äußere Zwänge anpasst, wodurch in diesem Sinne eine solche Form der Aktion die Entfremdung des Inhalts seiner Freiheit bedeutet. Sobald die Entwicklung der sozialen Bedingungen zur Klassenteilung geführt hat, können die sozialen Aktionsformen normalerweise nur noch in der Reproduktion der diesen Klassen eigenen Aktionsformen – und damit ihrer jeweiligen Klassenbedingungen – bestehen: Es handelt sich um eine Selbstreproduktion der Klassen – und in ihrem Austausch untereinander (Klassenverschiebungen). Nur in Ausnahmefällen ist eine teilweise Änderung dieser entfremdeten Aktionsformen möglich, oder sogar, in noch selteneren revolutionären Situationen, die totale Negation solcher Formen und Klassenbedingungen durch jene Klasse, die in der Lage ist, eine neue Form der antagonistischen sozialen Praxis zu bilden.

„Das Bewusstsein (oder besser gesagt die Illusion) einer freien persönlichen Bestimmung, der Freiheit, sowie das damit verbundene Gefühl der Verantwortung machen ihn [den freien Arbeiter] zu einem viel besseren Arbeiter als den [einfachen Sklaven]. Der freie Arbeiter ist nämlich wie jeder andere Warenverkäufer für die Ware verantwortlich, die er liefert, und er muss sie in einer bestimmten Qualität liefern, wenn er nicht anderen Verkäufern derselben Ware das Feld überlassen will. Die Beziehung zwischen Sklave und Sklavenhalter ist so, dass der Sklave durch direkten Zwang in dieser Beziehung gehalten wird. Der freie Arbeiter hingegen ist gezwungen, die Beziehung selbst aufrechtzuerhalten, da seine Existenz und die seiner Familie davon abhängt, dass er seine Arbeitskraft immer wieder an den Kapitalisten verkauft. Das Kapital, unveröffentlichtes Kapitel VI, S. 68.

VI. Das „Problem der Führung” und die Widersprüche des „antiautoritären” politischen Fetischismus.

Letztendlich ist das, was die soziale Praxis unter dem Kapitalismus ausmacht, dass die Individuen ihre eigene Sklaverei frei schaffen, weil sich unter den historischen Bedingungen nur solche Formen der sozialen Selbsttätigkeit entwickeln konnten, die eine organische Gesamtheit bilden, eine Gesamtheit, die sich blind entwickelt und die Reproduktion der Bedingungen und Formen der sozialen Praxis erzwingt, die diese Selbstentfremdung der Individuen ständig wiederherstellen. Aus dieser Analyse lässt sich jedoch durchaus verstehen, warum darauf bestanden werden muss, dass die gefährlichsten und wichtigsten Formen der sozialen Herrschaft und ihrer Reproduktion innerhalb der Arbeiterklasse nicht die Formen des persönlichen und offenen Autoritarismus sind, in denen die Unterordnung der Individuen unter von ihnen nicht bestimmte Ziele positiv gerechtfertigt oder sogar als Grundbedingung beansprucht wird.

Sobald sie eine spezifisch kapitalistische Form annehmen, werden Formen des Autoritarismus nicht mehr durch absolut einseitige Verfahren formuliert oder umgesetzt, sondern ihre Formeln und Verfahren werden relativiert und bilden Kombinationen wie „demokratischer Zentralismus” oder „repräsentative Demokratie” (wobei letztere im eigentlichen Sinne zu verstehen ist, also jede demokratische Form, deren alltägliche Aktivität sich um Delegation dreht und nicht um Formen der direkten Beteiligung der Basis, auch wenn die wichtigsten Entscheidungen direkt von unten getroffen werden). Die Formen des Autoritarismus zeigen sich so als Mechanismen der Unterordnung unter konkrete Ziele, die die Individuen – zumindest zum größten Teil – vorher festgelegt haben, aber nur abstrakt, nur formal. Selbst die parlamentarische Demokratie der Staaten oder die Verhandlungsstrukturen der Gewerkschaften/Syndikate zeigen sich so, da angeblich Wahlprogramme und nicht nur Kandidatenlisten gewählt werden. Die Positionen, die eine solche echte Demokratie fordern, fordern in sozialer Hinsicht nur die Anpassung der kapitalistischen Realität an ihr immanentes Ideal: Sie fordern eine sanftere und damit perfektere Herrschaft, sie verstehen nicht, was echte politische Freiheit ist. Aufgrund meiner Erfahrung als Militant bestehe ich darauf, dass, da die Übertragung von Macht in gewissem Maße notwendig ist, es nicht ausreicht, sich auf verbindliche Mandate zu verlassen (die immer teilweise abstrakt bleiben werden, weil sie nicht alle Umstände oder Neuerungen vorhersehen können) oder darauf zu vertrauen, dass wichtige Entscheidungen, wann immer möglich, an die Vollversammlung der Basis weitergeleitet werden (was die direkte Demokratie vom guten Willen der Delegierten abhängig macht). Ich denke, dass jede Entscheidungsaktivität so weit wie möglich durch konkrete Vereinbarungen an der Basis bestimmt sein sollte, die alle üblichen oder vorhersehbaren Punkte der (internen und externen) Aktivität betreffen. Dies erfordert wiederum ein Maß an bewusster Beteiligung der Basis, das über das für Organisationsformen hinausgeht, die auf Delegation und der Führungsrolle von Minderheiten beruhen, auch wenn diese sich auf direkte Demokratie berufen. Es erfordert eine permanente Beteiligung an allen Aktivitäten der Analyse, Debatte, Theoriebildung und Beratung, die mit der praktischen Tätigkeit integriert werden muss, sowie die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten und der Bildung der Individuen, die dafür notwendig sind. Es geht darum, die individuelle Selbstbefreiung in der organisierten Aktivität tatsächlich zur Bedingung für die kollektive Selbstbefreiung zu machen.

Die beständigsten Formen der kapitalistischen Herrschaft sind diejenigen, die einen unpersönlichen und verschleierten Charakter annehmen, wie die blinden Kräfte des Marktes, die Notwendigkeit der Gewinnmaximierung zur Fortsetzung der Akkumulation usw. Das heißt, Formen, die im Wesentlichen auch unter den Kapitalisten selbst vorkommen, so dass ihre reale Existenz die eines Netzwerks einfacher Funktionäre des Kapitals ist7, die je nach Größe und Position ihres Kapitals auf dem Markt mehr oder weniger hierarchisch gegliedert sind. Sie präsentieren sich als freiwillige Unterwerfung unter autonomisierte äußere Kräfte, wobei diese Unterwerfung ein notwendiges Mittel ist – und als solches positiv angenommen wird –, um individuelle Ziele zu erreichen. Ihr Credo ist die Aufopferung des Individuums für die Gesellschaft im Austausch gegen ein gewisses Maß an Freiheit, was in der Theorie des Gesellschaftsvertrags sehr gut zum Ausdruck kommt. Autorität ist hier nur zufällig und nicht immanent persönlich. Der Kapitalist, der dich ausbeutet, könnte genauso gut ein anderer sein, und in jedem Fall leitet sich seine Autorität über deine Arbeitstätigkeit nicht aus seinem privaten Kapital ab, sondern aus der Gesamtheit der Bedingungen, die durch das globale Kapital bestimmt sind, das dir zuvor die Mittel zur selbständigen Ausübung deiner Tätigkeit entzogen hat und dich derzeit daran hindert, anders zu leben, als deine Arbeitskraft den Kapitalisten zur Verfügung zu stellen.

Das Gleiche gilt für alle Formen unpersönlichen und verschleierten Autoritarismus: Autorität wird objektiv durch funktionale Unvermeidbarkeit gerechtfertigt und durch die formale Freiheit der Individuen verschleiert, die solche Imperative freiwillig übernehmen. Ihr besonderes Credo lautet nicht „Autorität ist gut”, sondern „Autorität ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar”. Natürlich kommt es nicht darauf an, ob man dieses Credo positiv annimmt oder offen bekennt. Wichtig ist, dass unter dem Vorwand der objektiven oder funktionalen Unvermeidbarkeit die kritische Frage ausgeblendet wird, inwieweit solche funktionalen Bedingungen wirklich unvermeidbar sind, oder genauer gesagt, welche Bedingungen ihre Unvermeidbarkeit bestimmen. Das heißt, etwas kann unvermeidbar sein, aber immer nur unter bestimmten Bedingungen, die es notwendig machen; wenn diese Bedingungen geändert werden können, ist es aus kritischer Sicht nicht mehr unvermeidbar und wird nur noch notwendig; wenn man dafür sorgt, dass sich die Bedingungen tatsächlich ändern, wird diese Notwendigkeit überwunden und was zuvor unvermeidbar schien, ist nun praktisch nicht mehr vorhanden.

Die Mystifizierung der objektiven oder funktionalen Unvermeidbarkeit ist den ahistorischen Vorstellungen von Formen organisatorischer Aktivität, also dem politischen Fetischismus, inhärent. Dies ist der Fall bei denen, die heute aus unterschiedlichen Denkrichtungen heraus versuchen, den leninistischen demokratischen Zentralismus zu rehabilitieren, die alten Formen der von unten nach oben geschaffenen delegativen Demokratie (einschließlich der Arbeiterräte, soweit sie noch eine stark delegative Funktionsweise aufweisen) oder die direkte Demokratie als abstraktes Organisationsverfahren, das nur oder hauptsächlich die unmittelbaren Momente der Entscheidungsfindung umfasst, unkritisch zu reproduzieren (Anarchosyndikalismus und Derivate). In der Praxis, übertragen auf die Beziehungen zwischen dem „fortgeschrittenen” oder „bewussteren” Teil und der breiten Masse der Klasse, führen solche Vorstellungen zum Konzept und zur Praxis der „revolutionären Führung”. Aus der Sicht ihrer Befürworter sind diese Formen der Autorität immer als „notwendig” für die erklärten Ziele gerechtfertigt (es spielt keine Rolle, ob man leugnet, dass es sich um Formen der „Autorität” handelt, und ihnen ein anderes Adjektiv geben will); wo sie „notwendig” sagen, meinen sie jedoch praktisch „unvermeidbar”, da sie in keinem Fall ihre schrittweise oder radikale Veränderung in Frage stellen, sondern diese Formen der Aktivität in Schemata, Statuten und Organisationsformeln verfestigen (steriler und im Wesentlichen autoritärer Formalismus, gegen den sich die aufständischen Anarchistinnen und Anarchisten zu Recht aufgelehnt haben, ohne jedoch den theoretisch-praktischen Kern des Problems vollständig zu erfassen).

Für den Leninisten ist ein übergeordnetes Führungszentrum, dem sich alle dauerhaft unterordnen, das von der Basis gewählt und – zumindest theoretisch – von dieser kontrolliert wird, unverzichtbar. Für den Anarchosyndikalisten muss dieses Zentrum der Basis untergeordnet sein und ihren Willen zum Ausdruck bringen; aber im normalen Leben kann die Basis nur mehr oder weniger sporadisch zusammenkommen und diese Organisation kontrollieren, wobei zwischen ihr und dieser übergeordneten Instanz eine ganze Reihe von delegativen Zwischeninstanzen und Kongressen als höchste Organe der Organisation vermitteln, die letztlich den höchsten Ausdruck der delegativen Demokratie und nicht der direkten Demokratie darstellen.

Es wird immer wieder eingewandt werden, dass unsere Kritik nicht funktional sei, weil solche Funktionsformen unverzichtbar seien, weil das Gegenteil zu Desorganisation, Partikularismus usw. führen würde. Aber erstens sind diese Formen der organisatorischen Aktivität, wenn man dem oben dargelegten Analyseweg folgt, fragwürdig und müssen zumindest auf theoretischer Ebene in Frage gestellt werden. Wenn wir eine demokratischere Form organisierter Aktivität denken können, was normalerweise auf einer realen Erfahrung basiert, dann müssen wir ihre konkreten Funktionsbedingungen bestimmen und ihre Realisierbarkeit prüfen. Dann müssen wir untersuchen, ob solche Möglichkeiten unter den bestehenden historischen und sozialen Bedingungen entwickelt werden können oder nicht. Auf diese Weise halte ich es für möglich, eine Organisation zu konzipieren und zu verwirklichen, die als echtes horizontales Netzwerk funktioniert, in dem zentralisierende Prozesse zur Vereinheitlichung der Entscheidungsfindung und Initiativen kontinuierlich von einer permanent aktiven Basis ausgehen und nicht von delegativen Strukturen, wobei letztere im Wesentlichen als Übertragungsmechanismen fungieren. Auf diese Weise würden die Programme und Leitlinien des Kongresses nicht unter dem Gewicht von Formalismus und Delegationismus gegenüber dem Verlauf des Klassenkampfes versteinern oder zurückbleiben, sondern könnten Gegenstand einer echten, permanenten, kreativen Debatte und Initiative von der Basis aus sein. Fortschrittliche Minderheiten müssten dann nicht versuchen, die delegativen Strukturen – zumindest bis zu einem gewissen Grad – zu kontrollieren oder zu monopolisieren, um ihre Rolle in solchen Organisationen wahrzunehmen und die Debatte und Verbreitung ihrer Analysen und Vorschläge – und gegebenenfalls deren Umsetzung, wenn eine Entscheidung in den delegierten Gremien ansteht – kontinuierlich voranzutreiben. Die Basis würde effektiv die Aufgabe übernehmen, sich selbst zu führen, und dabei ihre Fähigkeiten entwickeln, dies auf die am besten geeignete Weise zu tun.

Ist eine solche Funktionsweise als horizontales Netzwerk8 unter den bestehenden Bedingungen unmöglich? Technisch ist das überhaupt nicht unmöglich, schon gar nicht heute mit den neuen Technologien. In Zukunft wird es noch viel weniger unmöglich sein, vor allem in den am meisten entwickelten Ländern. Politisch ist sie auch nicht unmöglich, da sie es ermöglicht, bei Bedarf flexibel zwischen verschiedenen Graden der Dezentralisierung und Zentralisierung der Entscheidungsfindung zu wechseln. Ökonomisch ist sie sogar kostengünstiger als andere Organisationsformen, erfordert keine so starke Zentralisierung der materiellen und finanziellen Ressourcen und fördert darüber hinaus direkt die Selbstaktivität der Individuen, wodurch diese im positiven Sinne des Wortes politisch „am produktivsten” werden: bewusster, selbstbewusster und fähiger als jeder typische Militant an der Basis, der an einfache Versammlungs- und Propagandaroutinen gewöhnt ist und eine fast religiöse Haltung dazu hat – eine dumme Haltung, die psychologisch notwendig wird, um sich selbst zu täuschen und so die Verschwendung des eigenen und des Potenzials anderer zu ertragen.

Was heute wirklich fehlt, um diese Art von organisierter Aktivität zu entwickeln, ist die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit und die daraus resultierende Bereitschaft, sie zumindest von einem bedeutenden Teil der Klasse praktisch umzusetzen. Das Beste, was uns der historische Materialismus bringt, ist aber das Verständnis, dass nicht die Schaffung von Formen im luftleeren Raum, wie es die Utopisten tun, sondern die Anregung und Förderung der Entwicklung und Umwandlung der realen Selbstaktivität der Individuen in Verbindung mit dem fortschreitenden sozialen Notwendigkeit dieser Organisationsform zur Bekämpfung des Kapitalismus – angesichts des rückschrittlichen Charakters der noch vorherrschenden Formen – die für die Masse notwendig sind, solange sie noch tief entfremdet ist –, in einer sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkung zum Aufbau und zur Entwicklung dieser neuen Formen der Aktivität in naher Zukunft beitragen kann, bis sie mehr oder weniger stabil und in großem Maßstab verwirklicht sind.

Diejenigen, die diesen Standpunkt ablehnen, nämlich dass wir uns um die maximale Entwicklung der Formen der Arbeiterdemokratie in ihrer qualitativen Dimension (Selbstverwaltung und umfassende Beteiligung) bemühen müssen, übernehmen „zufällig” offen oder heimlich das Konzept der „revolutionären Führung” und rechtfertigen die Beibehaltung bestimmter überwindbarer Grade und Formen der Delegation, indem sie sogar behaupten, dass es sich um „nicht autoritäre” Formen handelt. Und tatsächlich kann es sich aus einer bestimmten Perspektive um „nicht autoritäre” Formen handeln, aber nur im Vergleich zu anderen. Und worum es uns hier geht, unter Berücksichtigung der Komplexität der sozialen Entfremdung und der historischen Entwicklung der Formen ihres Überwindens, ist nicht die willkürliche Unterscheidung zwischen „autoritären” und „nicht autoritären” Formen, sondern die Frage, wie Formen entwickelt werden können, die zunehmend entfremdungsfrei und immer besser geeignet sind für die Selbstbefreiung des Individuums. Dies ist der einzige sinnvolle und fortschrittliche Sinn des antiautoritären Prinzips: die Autorität auf das unverzichtbare Minimum zu reduzieren. In diesem Punkt gibt es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen dem ursprünglichen Marxismus und dem Anarchismus, sondern nur Unterschiede in der praktischen Beurteilung. Die Unvereinbarkeit dieser unterschiedlichen Einschätzungen rührt sowohl daher, dass auf marxistischer Seite eine zu abstrakte oder in der Praxis vernachlässigte Lösung der Entfremdung vertreten wird, als auch davon, dass auf anarchistischer Seite der Antiautoritarismus als abstraktes und bestimmendes Prinzip statt als notwendige soziale Bedingung, die der historischen Entwicklung der Quantität und Qualität der Selbstaktivität der Individuen unterworfen ist, vertreten wird. Hier lohnt es sich, an einen Satz von Engels aus „Über die Autorität“ (1873) zu erinnern, als er diejenigen kritisierte, die glaubten, die „gewählte Autorität“ überwinden zu können, indem sie sie „Auftrag“ nannten, also einfach umbenannten. Das passiert, wenn man die Formen der Aktivität nicht aus der Perspektive ihrer historischen Bedingungen analysiert und sie als im Wesentlichen unveränderlich behauptet, also eine fetischistische Perspektive einnimmt. Wenn man sie dagegen aus einer historischen Perspektive analysiert, beginnt man zu verstehen, dass Autorität immer relativ ist, aber auch veränderlich (insbesondere ihr politischer Charakter, der nur in Klassengesellschaften oder Gesellschaften im Übergang vorkommt).

Wenn man diese fetischistische Kritik an Autorität mit dem Mangel an historischer Perspektive kombiniert, versteht man, dass zwei antagonistische Ansprüche theoretisch gerechtfertigt und in der Praxis kombiniert werden können: der sakralisierte Vollversammlungsismus und der revolutionäre Dirigismus. Der Grund dafür ist vor allem empirisch und der dahinterstehende Gedanke total banal: Weil die Masse zu dumm ist, müssen wir sie führen, auch wenn es zur gleichen Zeit eigentlich am angemesseten und am kohärentesten mit unseren Streben wäre, sie entscheiden zu lassen – aber natürlich erst, nachdem wir sie als Träger und Hüter der revolutionären Wahrheit ein bisschen beeinflusst haben. Das ist grober, konservativer, naturalistischer Materialismus, der von der Arbeiterklasse verlangt, ihre kapitalistischen Bedingungen als beherrschte Klasse zu akzeptieren, weil die Umstände dies unvermeidlich erfordern. Aus ihrer Sicht sind die Bedingungen der Klassenherrschaft und nicht die Schaffung neuer Bedingungen durch den Klassenkampf – also die „gegebenen” Bedingungen als relativ statische Grundlage und nicht die Befreiung neuer, im Wesentlichen dynamischer Schaffungskräfte – der Ausgangspunkt für unser bewusste Aktion. Diese Position ist mit dem Standpunkt des historischen Materialismus absolut unvereinbar. Genau das kritisierte Marx am früheren Materialismus und an den utopischen Lehren in den Thesen über Feuerbach (1845), als er sagte, dass die Menschen zwar von den Umständen bestimmt werden, aber gleichzeitig die Umstände verändern und dass auch die Erzieher erzogen werden müssen.

Aus der Perspektive der Totalität, in diesem Fall der Totalität der Arbeiterklasse, ist die Aufgabenteilung zwischen Masse und Avantgarde also immer relativ und wird durch diesen kontinuierlichen Prozess der Aktivität bestimmt, der die sozialen Umstände und das Bewusstsein der Individuen selbst verändert und dabei Transformation und Selbsttransformation miteinander verbindet. Die Polarität Masse-Avantgarde muss sich auch in ihrer Form dieser Dynamik der Totalität unterordnen, und genau das passiert auch. Wenn die Arbeiterklasse stark und bewusst genug geworden ist, um ihre Kämpfe selbst kollektiv zu führen – und die Notwendigkeit dafür wird immer größer –, verändert sie auch das Verhältnis zwischen ihren fortgeschrittenen Teilen und der Masse, indem sie die üblichen Führungsansprüche nicht mehr toleriert, seien sie „auf gutem Wege“ (durch Reden und „Überzeugen“) oder „mit Gewalt“ (durch die Usurpation der Führung mittels Manövern). (In Wirklichkeit gibt es keinen wesentlichen Unterschied, denn in beiden Fällen handelt es sich um Formen der Manipulation, nur dass die erste hauptsächlich psychologisch und die zweite hauptsächlich physisch ist).

Diejenigen, die sich an Formen der Avantgarde-Massen-Beziehung – und den daraus resultierenden organisatorischen Formalisierungen – aus der Vergangenheit orientieren, unterschätzen damit alle Veränderungen, die sich in den Umständen und im Bewusstsein der Klasse vollzogen haben und die, selbst in entfremdeten Formen, bereits die Notwendigkeit höherer Ebenen der Selbstaktivität in quantitativer (Ausdehnung und Intensität) und qualitativer (Entwicklung von Bedürfnissen und Fähigkeiten) Hinsicht mit sich bringen, die die alten Formen nicht entwickeln können. Denn diese früheren Formen wurden auf der Grundlage von Entwicklungsniveaus der Proletarisierung der Gesellschaft, der weltweiten Arbeitskooperation und der Unterordnung der Gesellschaft unter das Kapital geschaffen, die viel niedriger waren als die heutigen; auf der Grundlage einer gegenüber dem Kapitalismus strukturell schwächeren Arbeiterklasse mit einem geringeren historischen Reifegrad in ihrer Wahrnehmung des Kapitalismus (da dieser objektiv weniger entwickelt war) und auch in ihrem theoretischen Verständnis der Transformationsprozesse (das neben dem bisher erreichten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung auch durch den Stand von Wissenschaft und Technik begrenzt ist, der die zukünftigen Möglichkeiten bestimmt). Und andererseits auch auf der Grundlage strukturell schwächerer Formen der Herrschaft. Was also damals in der historischen Praxis nicht zur vollständigen Überwindung des Kapitalismus ausreichte – und für diese Unzulänglichkeit gibt es in der Kritik an den vergangenen Formen der Organisation, des Denkens und der Aktion mehr als genug Argumente –, reicht heute nicht einmal mehr aus, um den Weg für den revolutionären Kampf zu ebnen, sondern höchstens, um Kämpfe zu radikalisieren, die noch im reformistischen Bewusstsein verhaftet sind, ohne diese Begrenzung jedoch nennenswert zu überwinden.

Angesichts einer mächtigeren und widerstandsfähigeren Herrschaft, angesichts einer weitaus komplexeren Klassenzusammensetzung als noch vor 30 Jahren, angesichts einer ganzen Reihe praktischer und theoretischer Ungereimtheiten sind die Formen der Aktivität und des Denkens der Vergangenheit in sich selbst völlig machtlos, und der beste Beweis dafür ist, dass sie sich selbst unter günstigen Bedingungen nicht entwickeln können oder dass sie dies nur tun, indem sie ihre ursprünglichen revolutionären Absichten nach und nach aufgeben. Sicherlich ist dieses intellektuelle und erfahrungsbezogene Erbe ein Ausgangspunkt für revolutionäres Denken, aber es kann weder seine Angriffsfläche gegen die kapitalistische Macht noch seine größte Errungenschaft sein. Dies zu tun hieße praktisch zu beweisen, dass es sich nicht um ein wirklich revolutionäres Denken handelt, sondern um ein konservatives. Außerdem wäre es ein idealistisches Denken, zu glauben, dass bestimmte Formen der Vergangenheit ihre revolutionäre Essenz abstrakt bewahren könnten, als ob sie den Ideen, die diese Formen repräsentieren und durch die sie bis heute überlebt haben, immanent wäre. Mit dieser fetischistischen Verlagerung verliert man sofort die Perspektive der konkreten Analyse aus den Augen und verfällt in einen praktischen Idealismus, der im Gegensatz zum theoretischen Idealismus eine materialistische Perspektive als mystifizierende Rechtfertigung beansprucht. Und als ob das noch nicht genug wäre, zeigt eine Gruppe, Fraktion oder Organisation damit, dass sie nicht als Ausdruck einer Avantgarde entstanden ist, also als ein Sektor, der der übrigen Klassenbewegung voraus ist und sie weiter vorantreiben kann, sondern dass es sich um einen rückschrittlichen Sektor handelt, der nicht aus der reifsten und tiefsten Kreativität der gesamten Klasse hervorgegangen ist, sondern aus Verzweiflung und Verblendung, und der keine neuen Energien für den Fortschritt mitbringt.

Es kann aber auch sein, dass es sich um einen echten Ausdruck der Avantgarde handelt, der noch unreif ist und in einem Kontext des allgemeinen Rückschritts steht, wodurch seine theoretischen, organisatorischen und praktischen Formen der Aktivität noch Merkmale der Vergangenheit aufweisen; dies wird zu Widersprüchen führen, die überwunden werden müssen, um als revolutionäre Avantgarde und nicht nur als reformistische Avantgarde agieren zu können. Die blinde Hartnäckigkeit, alte Formen zu reproduzieren, ist aber ein Zeichen dafür, dass diese letzte Möglichkeit die bessere Zukunft ist und daher in einem revolutionären Kontext unbewusst eine konterrevolutionäre Funktion erfüllt – und zwar auf subtile Weise, da es sich um eine scheinbar sehr radikale und proletarische Kraft innerhalb der konterrevolutionären Front handelt: eine Avantgarde-Funktion der Bourgeoisie innerhalb der proletarischen Bewegung. Eine unglückliche Zukunft, die niemand, der wirklich revolutionär ist, will, aber von der uns nur die historische Entwicklung retten kann, indem sie, wenn nötig, Leute hervorbringt, die besser für die kommenden Aufgaben geeignet sind als wir.

In diesen Zeiten gilt nach wie vor, was Marx vor mehr als 150 Jahren sagte:

Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.

Die Totenerweckung in jenen Revolutionen [die zur Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft führten] diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen.

Aber

Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts [die eine proletarische Revolution sein wird] kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, 1851.

VII. Fazit: Auf dem Weg zu einer einheitlichen Theorie der proletarischen Selbstbefreiung.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die marxistische Theorie der sozialen Entfremdung und die anarchistische Kritik der Autorität fruchtbar kombiniert und ergänzt werden können, solange ein historisch-materialistischer und sozial progressiver Ansatz beibehalten wird. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um zwei unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Problem: Die eine war in ihrer ursprünglichen Form immer zu abstrakt und überließ die Bestimmung der konkreten Formen ihrer Überwindung der Aktivität der Individuen, die andere war als Versuch, die vom Kapital geschaffenen Formen der Herrschaft zu überwinden, immer zu vereinfachend. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die erste Perspektive manipuliert werden konnte – wenn auch nur durch ihre gleichzeitige Verschleierung, indem man aus der ursprünglichen Theorie nur das herausgriff, was einem gerade passte –, um neue Formen der Ausbeutung zu rechtfertigen, und dass die zweite Perspektive fast immer zu „realistischen” Kompromissen mit den bestehenden Verhältnissen führte oder auf pseudoradikale Splittergruppen reduziert wurde, die oft von ethischem Idealismus oder blinder kindischer Rebellion geprägt waren (beides Formen bloßer kritischer Distanzierung von den herrschenden sozialen Verhältnissen, keineswegs Formen einer Praxis, die diese überwindet, wie ihre Ergebnisse zeigen). Wo immer diese Theorien versucht wurden, in ihrer klassischen Formel, unter Bedingungen, die weiter entwickelt waren als die, die bei ihrer ursprünglichen Formulierung herrschten, in die Praxis umgesetzt werden sollten, sind sie der kapitalistischen Macht erlegen oder ihre Anhänger waren in der Praxis gezwungen, ihre theoretisch-praktische Kreativität zu entwickeln und ihre beiden Ansätze einander anzunähern, bis sie eine einzige allgemeine Theorie der Praxis der proletarischen Selbstbefreiung entwarfen. Das ist der Stand der Dinge…

„… Im voll entwickelten Proletariat wird von jeder Menschlichkeit abstrahiert, sogar vom Anschein der Menschlichkeit; in den Existenzbedingungen des Proletariats verdichten sich alle Existenzbedingungen der heutigen Gesellschaft. (…) Es kann seine eigenen Existenzbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Existenzbedingungen der heutigen Gesellschaft aufzuheben, die sich in seiner Lage verdichten.“ Marx/Engels, Die heilige Familie, 1844.

Die Selbstbefreiung der Proletarier ist der Untergang des Kapitalismus!

Roi Ferreiro, 28.09.06


Anhang:

Kritik des „plattformistischen“ Anarchismus oder Anarchobolschewismus.

Die Mängel des klassischen Anarchismus in der Kritik des demokratischen Fetischismus haben nicht nur ganz offensichtlich die Entstehung der reformistischen Tendenz zur Selbstverwaltung begünstigt. Parallel dazu haben sie auch das Aufkommen einer formal gegensätzlichen Tendenz begünstigt, als „Reaktion“ auf die „Abweichungen“ vom Ideal. Letztere überwindet die genannten Mängel nicht nur nicht, sondern verstärkt sogar noch den Organisationsfetischismus im Allgemeinen, indem sie versucht, mit Änderungen der formalen Beziehungen (zwischen der theoretisch bewussten Minderheit und der Arbeitermasse sowie innerhalb der Minderheit selbst) etwas zu lösen, was nur durch die historische Reifung des Klassenkampfs gelöst werden kann. Diese Strömung wird als „Plattformismus” bezeichnet und könnte aus doktrinären und historischen Gründen besser als „Anarchobolschewismus” bezeichnet werden.

Der Plattformismus entstand aus den Erfahrungen und der Bilanz der Praxis der Anarchist*innen in der russischen Revolution von 1917. Der Name selbst kommt von der Unterstützung für das Dokument „Die organisatorische Plattform der libertären Kommunisten”, das 1926 von der Gruppe Dielo Trouda (Sache der Arbeiter) verfasst wurde, zu der der Ukrainer Nestor Machno gehörte und einer der Anführer war. Dieses Dokument war eine Reaktion auf die Passivität und Kollaboration eines großen Teils des russischen und internationalen Anarchismus gegenüber dem Bolschewismus, aber es war auch ein Aufruf zur revolutionären Kohärenz im Allgemeinen und bekräftigte die Notwendigkeit einer bestimmten Art von anarchistischer Organisation, um die soziale Bewegung anzuführen und reformistischen und bourgeoisen Abweichungen entgegenzutreten. Aus der Sicht der anarchistischen Strömung im Allgemeinen war diese Entwicklung ein relativer Fortschritt in Sachen Organisation. Im Dokument der Plattform und in einigen unmittelbar vorangegangenen Dokumenten lässt sich erkennen, dass der „Plattformismus”, wenn er eine Reaktion auf die nicht revolutionäre Situation und Haltung war, in die die Mehrheit der anarchistischen Bewegung geraten war, dennoch völlig ohne eine historische und soziale Analyse der Ursachen dieser Entwicklung auskam und diese somit statisch und mechanisch als „gegebenen” Ausgangspunkt darstellte. Außerdem waren alle Themen des „Plattformismus” bereits mehr oder weniger bei Bakunin entwickelt und in seinen Versuchen, die Organisation und Rolle der revolutionären Minderheiten in der Arbeiterbewegung und in der Revolution selbst zu formulieren und umzusetzen, konkretisiert worden.

Aus einer globaleren Perspektive betrachtet, reiht sich der „Plattformismus“ in die Versuche ein, den reformistischen Trend umzukehren, in den die Arbeiterbewegung – und mit ihr der Anarchismus als Massenphänomen – zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs geraten war. Es muss aber gesagt werden, dass der „Plattformismus” im Gegensatz zum zeitgenössischen Rätekommunismus keine Tendenz war, mit der reformistischen Bewegung zu brechen und sich nach und nach von der alten Arbeiterbewegung als Ganzes zu lösen, bis hin zur Aufgabe ihrer traditionellen Formen der sozialen Praxis und insbesondere der Partei-Form. Es handelte sich nicht um eine Strömung, die im Schoß der revolutionären Bewegungen der reifen kapitalistischen Länder entstanden und gewachsen war, und konnte daher nicht auf die reichhaltigeren Erfahrungen der westlichen Arbeiterklasse reagieren. Der „Plattformismus“ kam aus dem revolutionären Kampf in einem überwiegend bäuerlichen Russland und der Ukraine mit halbfeudalen Bedingungen des Klassenkampfs, und seine Positionen waren auf die Wiedereingliederung des revolutionären Anarchismus in die alte Arbeiterbewegung ausgerichtet, ohne deren Formen ernsthaft in Frage zu stellen oder die Ursachen ihrer bisherigen historischen Entwicklung zu analysieren. Ähnlich wie der Bolschewismus, wenn auch in viel kleinerem Maßstab – aufgrund der materiellen Ressourcen und des politischen Einflusses –, wollte der plattformistische Anarchismus mit seinen Rezepten für organisatorische Einheit und ideologische Kohärenz der Revolutionäre aller Länder „die Welt erobern“. Jegliche Opposition gegen ihre Thesen wurde, ähnlich wie bei den Bolschewiki, als Zeichen einer nicht revolutionären Haltung gesehen. Ihre Vorstellung von der Rolle der Minderheiten war noch krasser als die von Bakunin und eindeutig als „libertärer Bolschewismus” zu bezeichnen.

1. Die Machnowschtschina als Vorläuferin der plattformistischen Ideen.

Aufgrund ihrer Lebensweise, der fehlenden Entwicklung assoziierter Arbeit und des niedrigen kulturellen Entwicklungsstands waren die bäuerlichen Massen nie in der Lage, sich als revolutionäre Subjekte zu artikulieren, außer indem sie ihre Einheit in einem autonomisierten Überbau oder einer autonomisierten Autorität projizierten. Das war in allen wirklich bäuerlichen revolutionären Bewegungen der Geschichte9 so, und wo die moderne, antikapitalistische soziale Revolution aufkam, war sie immer vom Proletariat inspiriert und angeführt (direkt oder indirekt). Die sogenannte machnowistische Bewegung konnte sich unter ihren historischen Bedingungen nur so bilden, dass sie einen Anführer einsetzte und die revolutionären Ideen der Arbeiterklasse als etwas Fremdes übernahm. Dass Machno ein Verfechter der sowjetischen Demokratie war – abgesehen von unbestreitbaren zeitweiligen Ungereimtheiten –, hinderte die Bewegung nicht daran, diesen populären Charakter der individuellen Verehrung seiner Person anzunehmen; ihre Selbstbezeichnung als „Machnowschtschina” ist Ausdruck dieses Charakters. Machno selbst war eine Brücke zwischen dem in Europa entstandenen revolutionären Anarchismus und den ukrainischen Bauernmassen, und als vorindustrieller Agrarrevolutionär musste er den Anarchismus noch mehr als eine Doktrin denn als eine theoretische Form des historischen Klassenbewusstseins des Proletariats selbst sehen, in einer Zeit, in der seine theoretische Ausarbeitung noch weitgehend von Intellektuellen übernommen wurde, die der proletarischen Sache nahestanden.

In einer Broschüre von 1920, herausgegeben von der „Propagandaabteilung des Generalstabs der Aufständischen Revolutionären Machnowistischen Armee” wird über die Entstehung der Machnowtschina berichtet:

Das ukrainische Volk, das die seit Urzeiten bewahrte Tradition der Freiheit geerbt hatte, wusste diese Freiheit über Jahrhunderte der Knechtschaft hinweg zu bewahren und brachte nun auf unerwartete Weise die in ihm schlummernden Kräfte zum Ausdruck: Kühnheit, Mut, Tollkühnheit und Aufstandsgeist.

Diese Kräfte zeigten sich in unserer Zeit in Form von Aufständen gegen die Deutschen und Skoropadsky sowie andere reaktionäre Bewegungen: Petliura, Grigorieff, Denikin usw. Sie haben sofort ihr wahres Gesicht gezeigt, indem sie sich in eine ukrainische soziale Revolution verwandelten.

Von diesem Moment an nahmen diese Kräfte durch die Aufnahme libertärer Ideen Gestalt und eine feste Struktur an; die Bewegung wurde zu einem sozialen Phänomen, das sich auf brillante Weise ausdrückte und mit dem nun alle rechnen müssen.

* * *

Die Machnowschtschina, die ihr Streben stets aus den breiten Massen schöpft, wacht eifersüchtig über deren Interessen. Nicht ohne Grund schätzen die Bauernmassen die Machno-Bewegung als Leitinstanz für alle Lebensbereiche.

Als typische Bewegung der ärmsten Schichten der Bauernschaft folgt die Machno-Bewegung ihrem klar vorgezeichneten Weg, und deshalb wird ihr Sieg den totalen Triumph der Bauernschaft und gleichzeitig den der sozialen Revolution bedeuten. Die aufständische Machno-Bewegung strebt danach, aus den revolutionären Bauern eine echte und organisierte Kraft zu machen, die die Konterrevolution bekämpfen und die Unabhängigkeit einer freien Region verteidigen kann.“

Hier wird ganz klar und praktisch die Idee einer Avantgarde-Bewegung skizziert, die zum „führenden Organ“ der Massen wird – und wir sollten uns nicht täuschen lassen, es geht hier um die „machnowistische Bewegung“, nicht um die ukrainischen Sowjets. Der Sieg dieser Bewegung und nicht die Entwicklung und Festigung der Machtorgane der Massen wird mit dem Triumph der sozialen Revolution gleichgesetzt. Der Anarchismus wird in dieser Broschüre als „die einzige Theorie, auf die sich die Massen in ihrem Kampf vertrauensvoll stützen können“ bezeichnet.

Das sind, grob umrissen, die Unterscheidungsmerkmale des „Plattformismus” als Konzeption der „spezifischen” revolutionären Organisation und ihrer Rolle, die wir gegenüber der ursprünglichen bakunistischen Konzeption als reduktionistische und einseitige Interpretation ihrer an sich schon in einigen Punkten widersprüchlichen Thesen bezeichnen können. Anstatt nach geeigneten Wegen zu suchen, um das Vertrauen in die anarchische Kreativität der Massen mit der Notwendigkeit zu verbinden, dass die bewusstesten Minderheiten als orientierende Kraft wirken – auf befreiende und nicht autoritäre Weise, was dem Geist von Bakunins Theorie entspricht –, besteht der „Plattformismus“ von Machno und Dielo Trouda gerade darauf, als Ausgangspunkt die Trennung zwischen revolutionärer Theorie und revolutionärer Massenbewegung zu betonen und die Notwendigkeit, die Aktivität der bewusstesten Minderheit so effektiv wie möglich zu organisieren. Damit macht er die theoretischen Ungereimtheiten Bakunins zu praktischen Ausgangspunkten, die Bakunin selbst sicherlich nie offen gutgeheißen hätte.

2. Die Unterschiede zwischen den plattformistischen und den bakuninistischen Konzepten und ihre Parallelen zum Bolschewismus.

Für Bakunin sind „die Elemente der sozialistischen Revolution bereits weit verbreitet“, es fehle lediglich, „daraus eine wirksame Kraft zu bilden, es geht nur darum, sie zu vereinigen und zu konzentrieren“ (Organisation der Internationalen Revolutionären Bruderschaft, 1865). Dies wäre die Aufgabe der Revolutionäre, wofür sie sich selbst international organisieren müssten10. Die Grenzen dieser Rolle der bewussten Minderheit werden noch deutlicher, wenn er sagt:

Alles, was die Individuen tun können, ist, die Ideen, die dem Volksinstinkt entsprechen, zu klären, zu verbreiten und zu entwickeln und – was noch wichtiger ist – mit ihren unermüdlichen Anstrengungen zur revolutionären Organisation der natürlichen Macht der Massen beizutragen. Aber nichts weiter als das; den Rest kann nur das Volk selbst tun. Jede andere Methode würde zur politischen Diktatur, zum Wiederaufleben des Staates, der Privilegien, der Ungleichheiten und aller staatlichen Unterdrückungen führen, d. h. auf indirekte, wenn auch logische Weise zur Wiederherstellung der politischen, ökonomischen und sozialen Versklavung der Volksmassen.“ Michail Bakunin, Schriften zur politischen Philosophie, zwei Bände.

Man darf auch nicht vergessen, dass für Bakunin

die Freiheit des Menschen einfach darin besteht, den Naturgesetzen zu gehorchen, weil er sie selbst als solche anerkennt und nicht, weil sie ihm von einem äußeren, göttlichen oder menschlichen, kollektiven oder individuellen Willen auferlegt wurden.“ Michail Bakunin, ebenda.

Kurz gesagt geht es darum, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Masse diese bewusste Freiheit ausüben kann.

Innerhalb der spezifischen Organisation ist Disziplin notwendig, aber für Bakunin muss sie „das reine Ergebnis der gegenseitigen Verpflichtung sein, die alle Mitglieder untereinander eingegangen sind“ (Organisation der Internationalen Revolutionären Bruderschaft, 1865). Sie muss „eine nicht automatische, sondern freiwillige und bewusste Disziplin sein, die vollkommen im Einklang mit der Freiheit der Individuen steht und immer dort notwendig ist und bleiben wird, wo eine große Anzahl von ihnen, frei verbunden, irgendeine Art von kollektiver Arbeit oder Aktion unternimmt. Unter solchen Umständen ist Disziplin einfach die freiwillige und bewusste Koordinierung aller individuellen Anstrengungen auf ein gemeinsames Ziel hin.“ (Schriften zur politischen Philosophie).

Abgesehen von den in vielerlei Hinsicht fortschrittlichen Inhalten der Plattform und anderen eindeutig negativen Punkten wie ihrer völlig unkritischen Haltung gegenüber dem Syndikalismus – im Gegensatz übrigens zu „gemäßigten“ Anarchisten, die allerdings auf theoretischer Ebene kohärenter sind, wie Malatesta –, stellen die Plattformisten mit Machno an der Spitze zwei nebeneinanderstehende und widersprüchliche Vorstellungen von der Einheit von Theorie und Praxis in der Bewegung proletarischen auf. Erstens ist zu beobachten, dass ihr Hauptanliegen nicht darin besteht, wie sich die proletarische Bewegung als Ganzes im revolutionären Sinne entwickeln und zu einem bewussten Subjekt werden kann, sondern wie erreicht werden kann, dass sie als revolutionäre Kraft wirksam agiert. Für sie steht die politische Wirksamkeit an erster Stelle und ist losgelöst von der Entwicklung revolutionärer Individuen und der allgemeinen Entwicklung der bewussten Selbstaktivität der Proletarier*innen. Im Grunde wird das Proletariat als eine zerstreute Kraft betrachtet, die militärisch organisiert werden muss, mit einer strengen Struktur aus Regeln und Ämtern, auch wenn die Plattformisten manchmal auf nicht-autoritäre Nuancen bestehen. (Darauf werde ich später zurückkommen.) Die Lösung für ihre Formulierung des Problems der revolutionären Entwicklung in Bezug auf Effizienz finden sie in der „klassischen” Antwort, die auch der Bolschewismus seinerzeit gefunden hatte und die noch in Teilaspekten der Bakuninistischen Theorie vorhanden war: die Organisation und Führung der Masse durch eine bewusste Minderheit, die ihrerseits streng organisiert ist, um als eine Einheit zu agieren. Das ist der Geist des Jakobinismus, also das Prinzip der radikalen bourgeoise Revolution.

Zweitens heißt es in der Plattform einerseits, dass „der Anarchismus keine schöne Utopie und keine abstrakte philosophische Idee ist, sondern eine soziale Bewegung der arbeitenden Massen”.

Der Anarchismus entspringt also nicht den abstrakten Überlegungen eines Intellektuellen oder Philosophen, sondern dem direkten Kampf der Arbeiter gegen den Kapitalismus, den Bedürfnissen und Nöten der Arbeiter, ihrem Streben nach Gleichheit und Freiheit – Bestrebungen, die in den heroischsten Perioden im Leben und Kampf der Arbeitermasse besonders lebendig werden.

Die wichtigsten anarchistischen Denker, Bakunin, Kropotkin und andere, haben die Idee des Anarchismus nicht erfunden, sondern sie in den Massen entdeckt und dann mit der Kraft ihres Denkens und ihrer Erkenntnis dazu beigetragen, sie zu präzisieren und zu verbreiten.

Die Entstehung, Blüte und Verwirklichung anarchistischer Ideen hat ihre Wurzeln im Leben und Kampf der arbeitenden Massen und ist untrennbar mit ihrem Schicksal verbunden.

Aber in Über die revolutionäre Disziplin (1925) sagt Machno, dass nur durch „eine libertäre Organisation, die auf dem Prinzip der brüderlichen Disziplin beruht“, „die libertären Ideen zum Volk gelangen und nicht von ihm abwandern werden. Nur vollendete Angeber und Verantwortungslose werden vor einer solchen Organisationsstruktur davonlaufen.“ Und die Plattform selbst sagt

Anarchismus, mehr als jedes andere Konzept, das Leitkonzept der Revolution sein muss, weil nur auf der theoretischen Grundlage des Anarchismus die soziale Revolution zur vollständigen Befreiung der Arbeit triumphieren kann.

Außerdem wird behauptet dass

Obwohl sich die Massen in sozialen Bewegungen stark in libertären Tendenzen und Prinzipien ausdrücken, bleiben diese Tendenzen und Prinzipien verstreut, unkoordiniert und führen daher nicht zur Organisation der treibenden Kraft der libertären Ideen, die notwendig ist, um die anarchistische Ausrichtung und die Ziele der sozialen Revolution zu bewahren. Diese theoretische treibende Kraft kann nur von einer Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden, die von den Massen speziell für diesen Zweck geschaffen wurde. Die organisierten anarchistischen Elemente bilden genau diese Gemeinschaft.

Das heißt, einerseits wird der Anarchismus als theoretischer Ausdruck des Proletariats definiert, andererseits wird analysiert, dass seine Verbreitung in der Arbeiterklasse nur durch eine spezielle Organisation erfolgen kann. Dieser Widerspruch kann nur als unbewusster Ausdruck des allgemeinen Widerspruchs in der Gesellschaft zwischen der sozialen Bestimmung des Proletariats als revolutionäre Klasse und seiner tatsächlichen Bewegung in diesem historischen Kontext – der vom Reformismus geprägt ist – verstanden werden. In Unsere Organisation (1925) geht Machno jedoch so weit zu behaupten: „Wo immer menschliches Leben existiert, nimmt der Anarchismus konkrete Gestalt an. Andererseits wird er den Individuen nur dort zugänglich, wo er über Propagandisten und Militante verfügt“, was uns zu der Interpretation veranlasst, dass es über diese praktischen historischen Ursachen hinaus tiefere historische Einflüsse gibt, die mit der praktischen Ausbildung der Autoren der Plattform in einem halbfeudalen Land zusammenhängen.

Im letzten oben zitierten Auszug wiederholt sich derselbe Widerspruch, und an anderer Stelle der Plattform heißt es:

Während der Bolschewismus und die mit ihm verbundenen Strömungen der Ansicht sind, dass die Massen nur destruktive revolutionäre Instinkte besitzen und zu kreativer und konstruktiver Aktivität unfähig sind – was der Hauptgrund dafür ist, dass diese Aktivitäten in den Händen der Männer konzentriert sein müssen, die den Staat und das Zentralkomitee der Partei bilden –, glauben die Anarchisten hingegen, dass die arbeitenden Massen enorme kreative und konstruktive Möglichkeiten haben, und die Anarchisten wollen die Hindernisse beseitigen, die der Entfaltung dieser Möglichkeiten im Wege stehen.

Das grundlegende Ziel der kämpfenden Welt der Arbeit ist die Gründung einer freien und egalitären kommunistischen Gesellschaft durch die Revolution, die auf dem Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ basiert.“

Diese Gesellschaft wird aber nicht von selbst kommen, nur durch die Kraft des sozialen Aufstands. Ihre Verwirklichung wird das Ergebnis eines mehr oder weniger ausgedehnten revolutionären sozialen Prozesses sein, der von den organisierten Kräften der auf einem bestimmten Weg siegreichen Arbeit geleitet wird.

Es ist unsere Aufgabe, diesen Weg von jetzt an aufzuzeigen und die positiven, konkreten Probleme zu formulieren, mit denen die Arbeiter vom ersten Tag der sozialen Revolution an konfrontiert sein werden und deren richtige Lösung über den Ausgang der Revolution entscheiden wird.

Das heißt, die spezifische Organisation wird als entscheidende Voraussetzung für die Artikulation und Anpassung der revolutionären Kreativität der Massen an ihre Ziele gesetzt, anstatt diese einfach zu leugnen, wie es angeblich der Bolschewismus tut. Aber diese Überlegung stellt keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Auffassung der Plattformisten und der des Bolschewismus dar. Trotzki hat immer die Bedeutung der Spontaneität und Kreativität der Massen anerkannt, sie aber als begrenzt angesehen und daher die Notwendigkeit verteidigt, sie der Führung der Partei unterzuordnen. Und das nicht, weil Trotzki ein Fan von Parteizentralismus war, oder nicht nur deshalb, sondern weil er die leninistische Auffassung von der Partei teilte, die diese als die einzige Organisationsform ansieht, die Trägerin eines konkreten revolutionären Bewusstseins sein kann. Diese Auffassung ermöglicht in der Praxis eine erhebliche Flexibilität bei den „Führungsmethoden” und der Funktionsweise der leninistischen Partei, sodass der „demokratische Zentralismus” mit sehr unterschiedlichen Graden der Delegation und Vertikalität auftreten kann, ohne seine Prinzipien zu verändern; er kann sogar Formen annehmen, die ihn in der Praxis kaum von einer delegativen Struktur unterscheiden, die auf direkter Verfahrensdemokratie basiert. Der einzige wesentliche Unterschied zwischen Bolschewismus und Plattformismus besteht darin, dass letzterer behauptet, die Führung der Partei müsse – theoretisch – von den Massen bereitwillig akzeptiert werden. Das heißt, es wäre ein wesentlicher Unterschied, der sich nur auf die Form der politischen Praxis bezieht, nicht auf ihren sozialen Inhalt, da in beiden Fällen nicht die Entwicklung des Selbstbewusstseins der Masse, des Bewusstseins ihrer eigenen Praxis und ihrer Fähigkeiten wichtig ist, sondern die Überzeugung, dass die von der „Partei” vertretene Theorie die richtige ist und dass die „Partei” die ideologische Vertreterin der Masse ist.

Aus den plattformistischen Thesen lässt sich nicht ableiten, dass die kreative Fähigkeit der Massen entscheidend ist, sondern dass sie nebensächlich ist. Es ist die spezifische Organisation, die ihrer Theorie zufolge über das Wissen und die praktischen Fähigkeiten verfügt, um die Richtungen angemessen zu definieren, um diesem kreativen Potenzial eine bewusste und angemessene Form zu geben, wobei sie außerdem darauf besteht, dass eine solche Organisation dafür kämpfen muss, die Bewegung gegenüber den anderen politischen Parteien zu orientieren. Nach Ansicht der Plattformisten verlangen „die Massen“ in allen wichtigen Fragen der sozialen Revolution „eine klare und präzise Antwort von den Anarchisten”, lehnen aber gleichzeitig die bolschewistische Haltung ab, jede Initiative ihrem Zentralismus zu unterwerfen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es einen klaren Widerspruch zwischen der anarchistischen Theorie der Selbstentfaltung der transformativen Fähigkeiten der arbeitenden Massen und der plattformistischen Position gibt, die die führende Rolle einer Minderheit in diesem Prozess verteidigt. Dieser Widerspruch lässt sich aus historisch-materialistischer Sicht erklären, denn im Gegensatz zu Bakunin, der von der Erfahrung der aufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren revolutionären Kämpfen in bereits entwickelten kapitalistischen Ländern ausging, Machno und die Plattformisten von der Erfahrung einer erst im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegung, von der sozialen Vorherrschaft der Bauernschaft und von Ländern (Ukraine und Russland), die auf globaler Ebene noch kaum oder gar nicht kapitalistisch waren. Folglich geht ihre theoretische Sicht der revolutionären Praxis nicht über die bakuninistische hinaus, sondern bleibt in wesentlichen Punkten sogar hinter ihr zurück, obwohl sie mehr als ein halbes Jahrhundert zu ihren Gunsten trennt. Und wenn Bakunin selbst in bestimmten Punkten unklare oder teilweise widersprüchliche Formulierungen hatte, trägt der Plattformismus überhaupt nicht zu ihrer Klärung und Überwindung bei. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Vorstellung von der „revolutionären Führung”, die dem Prinzip und den Zielen des Anarchismus entspricht, nicht die Führung der Masse durch eine Minderheit ist, sei es durch direkte politische Mittel oder durch die Vermittlung ihrer ideologischen Autorität, also durch eine explizite oder verdeckte politische Autorität. Dem Geist des Anarchismus entspricht vielmehr die Vorstellung von der Führung der Proletarier durch sich selbst, also von Selbststeuerung.

Am deutlichsten wird die praktische Inkohärenz des Plattformismus mit seinen Zielen, wenn er seine Aktivität in der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bewegung darlegt:

Wir sind der Meinung, dass die Aufgabe der Anarchisten in den Reihen dieser Bewegung darin besteht, libertäre Theorien zu entwickeln und sie in eine libertäre Richtung zu lenken, um sie in eine aktive Waffe der sozialen Revolution zu verwandeln. Man muss daran denken, dass der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus, wenn er nicht rechtzeitig in der anarchistischen Theorie Halt findet, ob es uns gefällt oder nicht, zur Ideologie einer politischen-etatistischen Partei wird.“

Mit anderen Worten, wir müssen als organisierte Kraft in die revolutionäre gewerkschaftliche/syndikalistische Bewegung eintreten, die dafür verantwortlich ist, ihre Arbeit in der Gewerkschaft/Syndikat vor der allgemeinen Organisation der Anarchisten zu erfüllen und sich von dieser leiten zu lassen.“

Anarchistische Gruppen in Betrieben, Fabriken und Werkstätten, die sich um die Gründung anarchistischer Gewerkschaften/Syndikate bemühen, die in den revolutionären Gewerkschaften/Syndikate den Kampf um die Vorherrschaft libertärer Ideen über den Gewerkschaftswesen/Syndikalismus führen, Gruppen, die in ihrer Aktion durch eine allgemeine Organisation von Anarchisten organisiert sind: Das sind die Mittel und Wege der anarchistischen Haltung gegenüber dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus.

Es ist verständlich, dass viele Anarchist*innen diese Formulierung der Aktivität in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse als ungerecht empfanden, da sie immer den „guten Willen“ ihrer Befürworter*innen voraussetzte usw.; aber wer den Leninismus gut kennt, kann das überhaupt nicht so sehen. Es ist das bekannte hierarchische Schema: Unterordnung des Proletariats unter die Partei, der Partei unter das Zentralkomitee, des Zentralkomitees unter den Generalsekretär. Der einzige Unterschied besteht darin, dass dies vermutlich mit demokratischeren Methoden erreicht werden soll und dass der Gewerkschaft/Syndikat eine wichtige Rolle als hierarchisierende Vermittlerin zwischen der proletarischen Masse und der Partei zukommt, was ebenfalls nicht originell ist, sondern von vielen Ablegern des Leninismus geteilt wird (die typische Theorie der Gewerkschaft/Syndikat als „Transmissionsriemen“ oder als Raum für „entristische“ Interventionen der Partei). Leider lässt sich dieselbe Grundkonzeption noch immer im aktuellen aufständischen Anarchismus erkennen, indem spezifische Gruppen als bestimmend für die Basiskerne und die Basiskerne als bestimmend für die Kampfbewegung angesehen werden. Es handelt sich um tendenzielle oder konsolidierte Reproduktionen der dem Kapitalismus innewohnenden sozialen Hierarchisierung und seiner sozialen Mentalität. (Und hier haben wir auch den demokratischen Fetischismus in seinem wahren praktischen Inhalt: ein Mechanismus politischer Effizienz, um Entscheidungen zu treffen, wann und wie auch immer, also unabhängig davon, wer daran beteiligt ist.)

Tatsächlich durchzieht der Organisationsfetischismus die gesamte Analyse, auf der die Plattform basiert. In ihr und in anderen Artikeln wird immer wieder betont, dass es die Desorganisation der Anarchistinnen und Anarchisten ist, die sie daran hindert, eine führende Rolle in den Ereignissen zu spielen. Dies hat laut der Plattform im Wesentlichen theoretische Ursachen. Auch hier kommt das Kriterium der Effizienz zum Tragen; andernfalls müsste man von einer historischen Analyse ausgehen und die Problematik der Führung auf diese Weise verorten. Stattdessen beharren Machno und Co. lediglich auf ihrer Überzeugung von der Notwendigkeit einer bestimmten Organisationsform und auf dem revolutionären „gesunden Menschenverstand“ bestimmter praktischer Vorgehensweisen. Es geht hier zweifellos um eine formalistische und moralistische Herangehensweise, die die Wurzeln der Probleme, auf die sie zu reagieren vorgibt, wie Uneinigkeit und individuelle Verantwortungslosigkeit, nicht berührt, und in solchen Fragen stützen sich ihre Positionen ausschließlich auf die persönlichen Überzeugungen ihrer Verfasser, um uns praktische Lösungen zu liefern. Und wenn wir eine explizite objektive Grundlage für diese Überzeugungen wollen, finden wir sie in der Erfahrung der russischen Revolution von 1917:

Der Anarchismus strebt weder nach politischer Macht noch nach Diktatur. Sein Hauptziel ist es, den Massen zu helfen, den wahren Weg zur sozialen Revolution und zum Aufbau des Sozialismus zu finden. Aber es reicht nicht aus, dass die Massen den Weg der sozialen Revolution einschlagen. Es ist auch notwendig, diese Ausrichtung der Revolution und ihrer Ziele aufrechtzuerhalten: die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaft im Namen der freien Arbeiter. Wie uns die Erfahrung der Russischen Revolution von 1917 gezeigt hat, ist diese letzte Aufgabe alles andere als einfach, vor allem wegen der vielen Parteien, die versuchen, die Bewegung in eine Richtung zu lenken, die der sozialen Revolution entgegensteht.

Das heißt, das eigentliche Problem, das zu den Formulierungen der Plattformisten führt, ist die Erfahrung des Kampfes der Parteien im Kontext der russischen Revolution, aus der sie offenbar ableiten, dass sie wie diese kämpfen müssen, um den „echten Weg“ gegen die „falschen“ zu verteidigen und damit die allgemeine Bewegung in der gewünschten Richtung zu halten. Wenn es sich nicht um einen Übersetzungsfehler handelt, lassen die Autoren sogar durchblicken, dass die Abschaffung des Kapitalismus „im Namen“ der freien Arbeiter erfolgen soll, als würden sie sich selbst die entscheidende Rolle bei seiner Abschaffung zuschreiben, was jedenfalls mit den Implikationen ihrer gesamten theoretischen Darstellung praktisch im Einklang stünde.

3. Die Auffassung von der revolutionären Avantgarde, ihrer Rolle und ihrer Organisation.

In Über die revolutionäre Disziplin (1925) definiert Machno die revolutionäre Disziplin als „Selbstdisziplin des Individuums”, aber als eine „Selbstdisziplin”, die von der Kollektivität festgelegt wird und die Existenz der revolutionären Avantgarde von der disziplinierten Einheit abhängig macht. Das hängt stark damit zusammen, dass er ihre Funktion darin sieht, „die Aufgaben der Stunde zu formulieren” und „die initiierende Rolle zu spielen, die die Massen von ihr erwarten”. Seiner Auffassung nach ist es die Avantgarde, die die Aufgaben definiert und die Initiative gegenüber der Masse ergreift, d. h. sie handelt als autonomes Gebilde, das die allgemeine Bewegung politisch lenken will und diese praktische Hegemonie mit der angeblichen Überlegenheit der von ihr vertretenen anarchistischen Ideologie rechtfertigt11. Machno versteht die Rolle der Avantgarde nicht als relativ zur Massenbewegung, die dann eben die Avantgarde einer klassenlosen Gesellschaft wäre, nicht als eine Avantgarde, die die für die Klassengesellschaft typische Trennung zwischen Anführern und Ausführenden reproduziert und die das allgemeine Prinzip der Herrschaft über die ausgebeuteten Klassen ist.

Aus dieser Vorstellung von der Avantgarde und ihrer Rolle ergeben sich die anderen plattformistischen Ideen. Da der Anarchismus eine große sichtbare Pluralität aufweist, müssen die Plattformisten die Anhänger der „Synthese” zwischen den vorherrschenden Tendenzen im Anarchismus heftig angreifen (Das Problem der Organisation und der Begriff der Synthese, 1926). Anstatt die Grenzen und den reaktionären Aspekt des „Synthese”-Ansatzes zu überwinden, orientieren sie sich an einer reduktionistischen Position, die zwar positive Gemeinsamkeiten mit dem Marxismus – die zentrale Rolle des Klassenkampfs und die Notwendigkeit organisierter Aktivität der Revolutionär*innen – verstärkt, dies aber im Sinne einer leninistischen Verzerrung tut. Unabhängig davon, ob man die historische Angemessenheit ihres Ansatzes bewertet, besteht die Art der Analyse, mit der sie sich der „Synthese“ widersetzen, darin, die anderen Strömungen als minderwertig (Anarchosyndikalismus) oder bourgeois (individualistischer Anarchismus) abzuwerten und die Selbstgenügsamkeit und den inklusiven Charakter ihrer Interpretation der kommunistischen Strömung gegenüber den anderen zu verteidigen. Aber trotz ihrer Aussagen, dass der libertäre Kommunismus eine angemessene Integration von individueller Freiheit und Syndikalismus sei, scheint es angesichts ihrer organisatorischen und praktischen Positionen eher so, als ob ihre Motivation darin besteht, alle abweichenden Elemente der plattformistischen „Einheit” unterzuordnen und diejenigen, die sich dieser verweigern, als „individualistische und chaotische Elemente” abzulehnen (Plattform, 1926). Auch hier gibt es wieder eine Ähnlichkeit zum Bolschewismus: sein Ideal der Einheit der Revolutionäre als Uniformierung und strenge Organisation um einen einzigen Leitgedanken herum.

Die Plattformisten verstehen überhaupt nicht, dass die Merkmale, die in der kapitalistischen Gesellschaft gewöhnlich mit Autoritarismus und Unterdrückung einhergehen, auch zu ihrer Entwicklung beitragen und ihr ständiges Wiederauftauchen begünstigen. Und sie verstehen es nicht, weil diese Vorstellung von parteiischer Einheitichkeit nur aus der Perspektive einer sozialen Basis Sinn macht, in der Heterogenität aufgrund einer strukturellen Zersplitterung der Bevölkerung und der Koexistenz verschiedener Wirtschafts- und Produktionsformen tatsächlich vorherrscht. In einer reifen kapitalistischen Gesellschaft ist die Heterogenität der Bevölkerung nur formal oder scheinbar, da die kapitalistische Ökonomie und ihre Bewusstseinsformen das gesamte Leben der Individuen durchdringen und vereinheitlichen. Hier geht es nicht mehr darum, eine Homogenisierung zu erreichen, sondern die bestehende zu brechen, und das kann nur durch eine Entfaltung der Individualitäten geschehen, die natürlich die Heterogenität der Klassenbewegung verstärken wird, ohne jedoch ihrer Einheit entgegenzustehen. Versuche, die entfremdete Heterogenität, die sich auf dieser kapitalistischen Homogenisierung des sozialen Lebens stützt, durch ein anderes Modell der Uniformität zu beseitigen, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie wie jede andere Substitutionstheorie in der Praxis weder die Macht noch die materiellen Mittel haben, um mit der Herrschaft des Kapitals „auf seinem eigenen Terrain” zu konkurrieren; ihre Ansprüche sind rein illusorisch. Die Homogenität oder Uniformität des Bewusstseins und der Aktion, als Gegensatz zur Heterogenität und nicht relativ, ist nur aus der Perspektive einer Art von Aktion wichtig, die darauf abzielt, die Massen für die eigenen Standpunkte zu gewinnen, und die antagonistisch zu der Art von Aktion ist, die auf die Förderung ihrer Selbstentwicklung abzielt – und die sich daher nicht als Träger einer absoluten Wahrheit oder als universeller Vertreter der Klasse verstehen kann.

Aus einer anderen, rein organisatorischen Perspektive werden einige der Positionen der Autoren der Plattform ziemlich „selbsterklärend” erscheinen. Jeder kann verstehen, wie wichtig es ist, „eine allgemeine taktische und politische Linie zu entwickeln, die als Leitfaden für die gesamte Bewegung dient”, oder dass die Zersplitterung es erforderlich macht, uns „auf der Grundlage präziser theoretischer, taktischer und organisatorischer Positionen zu vereinen, also die mehr oder weniger perfekte Grundlage eines einheitlichen Programms”. Die Frage ist nicht diese, sondern WIE man diese Einheit erreichen will und ob man sie als RELATIV versteht, indem man die Bedeutung der Heterogenität für die Entwicklung anerkennt – und damit auch als notwendige Grundlage dieser Einheit, als Quelle ihrer Lebendigkeit. Der Organisationsfetischismus zeigt sich auch in der Beharrlichkeit, dass die revolutionäre oder anarchistische Organisation „auf einer gegebenen Plattform“ gegründet werden muss (Das Problem der Organisation…). Damit wird die programmatische Einheit als conditio sine qua non für die Existenz der Organisation selbst und ihre Aufrechterhaltung und Verteidigung als wichtiger als die dynamische Entwicklung der Gemeinschaft gestellt. Das ist logisch, wenn man will, dass diese Organisation nach dem Kriterium der Effizienz strukturiert ist und funktioniert, damit sie „eine Orientierung in gesellschaftspolitischen Fragen sowie in gewerkschaftlichen und berufsständischen Fragen bietet.

Aber in der Plattform, im Abschnitt „Die Verteidigung der Revolution”, kann man leicht die enge Verbindung zwischen der russischen Erfahrung von 1917, insbesondere der Machno-Bewegung und Machno selbst als militärischer Anführer, erkennen. In diesem Abschnitt wird ein militärisches Organisationsmodell verteidigt, das angeblich die staatsorientierten Methoden ablehnt, in der Praxis aber deren Wesentliches beibehält.

Der Charakter dieser Offensive selbst, ebenso wie die Technik und der Verlauf des Bürgerkriegs, werden die Arbeiter dazu zwingen, bestimmte revolutionäre militärische Kontingente zu bilden. Das Wesen und die Grundprinzipien dieser Formationen müssen im Voraus festgelegt werden. Indem wir die staatsorientierten und autoritären Regierungsmethoden ablehnen, lehnen wir auch die staatsorientierte Methode der Organisation der militärischen Kräfte der Arbeiter ab, mit anderen Worten, das Prinzip einer staatsorientierten Armee, die auf der Wehrpflicht basiert.

Allerdings dürfen „Freiwilligendienst“ und Partisanenaktionen nicht im engen Sinne des Wortes verstanden werden, d. h. als Kampf von Arbeiter- und Bauernkommandos gegen den lokalen Feind, ohne Koordinierung mit einem Gesamtplan und jeder auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko handelnd. Die Aktionen und Taktiken der Partisanen müssen in ihrer vollen Entwicklung von einer gemeinsamen revolutionären Strategie geleitet werden.

Wie in allen Kriegen kann der Bürgerkrieg von den Arbeitern nur erfolgreich geführt werden, wenn sie die beiden Grundprinzipien jeder militärischen Aktion anwenden: Einheit im Operationsplan und Einheit der gemeinsamen Führung. Der kritischste Moment der Revolution wird kommen, wenn die Bourgeoisie als organisierte Kraft gegen die Revolution vorrückt. Dieser kritische Moment zwingt die Arbeiter, diese Prinzipien der Militärstrategie zu übernehmen.“

Obwohl darauf hingewiesen wird, dass die Armee den Organisationen der Produzent*innen unterstellt sein soll, ist ihre Konzeption eindeutig zentralistisch, vom bourgeoisen Modell inspiriert und betont zudem typisch zentralistische Merkmale wie die inhärente Ineffizienz des dezentralisierten Kampfes. Die Bedeutung, die dem militärischen Problem beigemessen wird, zeigt außerdem, dass die Einschätzungen stark von den russischen Erfahrungen beeinflusst sind, ohne die enormen Unterschiede zu berücksichtigen, die zwischen dem Kampf gegen die Konterrevolution in einem entwickelten kapitalistischen Land bestehen, wo die Polarisierung der Bevölkerung in Klassen und die Konzentration des Kapitals den revolutionären Sieg im Wesentlichen zu einer ökonomischen und nicht zu einer politischen Aufgabe machen und wo der globale Sieg wiederum im Wesentlichen in einem geistigen Sieg besteht. Sobald die revolutionäre ökonomische Aneignung erreicht ist, eigene Machtorgane bewusst aufgebaut und die Grundlagen für die Umgestaltung der Gesellschaft gefestigt sind, wird die innere Bedrohung aufgrund fehlender ökonomischer Ressourcen praktisch zerschlagen sein. Auf jeden Fall wird es unausweichlich notwendig sein, die internationale Konterrevolution zu bekämpfen, aber das kann nur dann erfolgreich gelöst werden, wenn die Revolution ein weltweiter Prozess ist, und es wird nicht unbedingt und vor allem um ein militärisches Problem gehen, sondern um ein Problem der ökonomischen Isolierung. Der militaristische Ansatz für die Entwicklung der Revolution ist an sich typisch für kapitalistisch wenig entwickelte oder nicht vorhandene Verhältnisse.

Was die von der Plattform formulierten Organisationsprinzipien betrifft:

1.) Die Theorie wird als treibende Kraft der individuellen und kollektiven Aktivität sowohl im Allgemeinen als auch in der jeweiligen Organisation und als bestimmender Faktor für die Aktion angesehen, damit diese ihre Ziele erreicht. Mit anderen Worten: ist die Theorie und nicht die Praxis entscheidend. Deshalb wird die praktische Einheit erst danach und als „taktische Einheit” behandelt, da man nicht davon ausgeht, dass die praktische Aktivität ihre eigenen immanenten Prinzipien besitzt und entwickelt (und diese dann ins Bewusstsein erhebt). Das heißt, nur die revolutionäre Theorie ermöglicht es der praktischen Aktivität, revolutionär zu sein. Nicht die praktischen Bedürfnisse und sozialen Bedingungen sind die Quelle der revolutionären Einheit, sondern die theoretische Einheitlichkeit. Wieder einmal haben wir es hier mit dem Bolschewismus zu tun, der in rot-schwarze Farben gehüllt ist, d. h. mit der Theorie einer Revolution, die praktisch darauf ausgerichtet ist, eine planmäßige oder „kollektive” Form des Kapitalismus zu etablieren.

2.) Die „taktische Einheit” wird als Folge der theoretischen Einheit verstanden und als Mittel, um die Kräfte der Bewegung unter einer gemeinsamen Führung zu „bündeln”. Durch demokratischen Formalismus sollen „die verheerenden Auswirkungen vieler gegensätzlicher Taktiken” vermieden werden.

Als dritten und vierten Punkt haben wir die „kollektive Verantwortung” und den „Föderalismus”, auf die wir näher eingehen müssen.

4. Die Kontroverse zwischen Malatesta und Machno um die Plattform.

Die Plattform verteidigt praktisch einen Gegensatz (Opposition) zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen. Sie schreibt die „individuelle Verantwortung“ einer asozialen Perspektive zu und das, was sie „kollektive Verantwortung“ nennt, einer „authentisch“ sozialen Perspektive. Auf der Grundlage der Kritik am „unverantwortlichen Individualismus“ schreibt der Plattformismus einem Exekutivorgan die Aufgabe zu, dieses Prinzip an der Basis „einzuführen“.

Die gesamte Union ist für die politische und revolutionäre Aktivität jedes einzelnen ihrer Mitglieder verantwortlich; ebenso ist jedes Mitglied für die politische und revolutionäre Aktivität der Union als Ganzes verantwortlich.

Dieser Punkt war zwischen 1927 und 1929 Gegenstand einer Kontroverse zwischen Nestor Machno und Errico Malatesta. Malatesta kritisierte die Plattform dafür, dass sie mehr auf die Wirksamkeit der Organisationsmethoden als auf deren Eignung für die sozialen Ziele ausgerichtet sei, bezeichnete sie als „typisch autoritär” und betonte, dass auch ausgehend von derselben Analyse der Desorganisation der anarchistischen Bewegung

Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit spezifisch anarchistischer Organisationen, die innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften/Syndikate für die vollständige Verwirklichung des Anarchismus kämpfen und alle Keime der Korruption und Reaktion ausmerzen wollen. Aber es ist offensichtlich, dass anarchistische Organisationen, um ihre Ziele zu erreichen, in ihrer Verfassung und Arbeitsweise im Einklang mit den Prinzipien der Anarchie stehen müssen. Sie dürfen nicht im Geringsten vom autoritären Geist durchdrungen sein, sie müssen die freie Aktion der Individuen mit der Notwendigkeit und der Freude an der Zusammenarbeit in Einklang bringen, sie müssen das Bewusstsein und die Initiative ihrer Mitglieder entwickeln, sie müssen ein aktives Instrument der Erziehung in ihrem Umfeld und der moralischen und materiellen Vorbereitung auf die Zukunft sein, die wir uns wünschen.“

Diese Gefährten sind vom Erfolg der Bolschewiki in ihrem Land geblendet; wie die Bolschewiki möchten sie die Anarchisten in einer Art disziplinierter Armee vereinen, die unter der ideologischen und praktischen Führung einiger Anführer geschlossen zum Angriff auf die bestehenden Regime marschieren und nach dem materiellen Sieg den Aufbau der neuen Gesellschaft leiten würde.Ein Projekt für eine anarchistische Organisation, 1927.

Malatesta warnt sie, dass diese Vorstellung „nicht nur den Sieg des anarchistischen Kommunismus nicht erleichtern, sondern den anarchistischen Geist verfälschen und das Gegenteil von dem bewirken wird, was seine Organisatoren erwarten“. Er sieht voraus, dass die vorgeschlagene Organisation aufgrund der übermäßigen organisatorischen Unterteilung und des Bestrebens, die Führungsfunktionen in einem Exekutivorgan zu konzentrieren, bürokratisiert werden wird.

Ist das Anarchismus? Meiner Meinung nach ist das eine Regierung und eine Kirche. Es stimmt, dass es keine Polizei und keine Bajonette gibt, keine treue Herde, die bereit ist, die aufgezwungene Ideologie zu akzeptieren. Aber das bedeutet nur, dass eine solche Regierung machtlos und unmöglich wäre und dass eine solche Kirche eine Quelle von Häresien und Spaltungen wäre. Solange der autoritäre Geist und die autoritäre Tendenz bestehen bleiben, wird die erzieherische Wirkung antianarchistisch sein.

Malatesta hinterfragt auch den demokratisch-fetischistischen Ansatz der Plattformisten:

Wenn sie wollen, dass alles durch freie Vereinbarung aller geschieht, wie können sie dann die Herrschaft der Mehrheit in ihren im Wesentlichen freien und freiwilligen Vereinigungen akzeptieren und erklären, dass sie sich den Entscheidungen der Mehrheit unterwerfen werden, noch bevor sie wissen, wie diese ausfallen werden?

Sicherlich ist die funktionale Notwendigkeit von Mehrheitsentscheidungen eine Sache, aber eine andere ist es, eine bedingungslose Unterwerfung unter dieses Prinzip als Norm im Sinne der „Parteidisziplin“ zu proklamieren.

Die zentrale Frage der Kontroverse ist jedoch der Begriff der „kollektiven Verantwortung“. Die Diskussion lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Für Malatesta steht der Begriff der „kollektiven Verantwortung” im Widerspruch zum später formulierten Föderalismus, denn „wenn die Union für das Handeln jedes einzelnen Mitglieds verantwortlich ist, wie kann sie dann jedem einzelnen Mitglied und den verschiedenen Gruppen die Freiheit lassen, das gemeinsame Programm so umzusetzen, wie sie es für richtig halten? Wie kann jemand für eine Aktion verantwortlich sein, die er nicht verhindern kann? Deshalb muss die Union und in ihrem Namen das Exekutivkomitee alle einzelnen Mitglieder überwachen und ihnen vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Und da eine nachträgliche Missbilligung die zuvor übernommene Verantwortung nicht mindert, kann niemand etwas tun, bevor er die Erlaubnis des Komitees eingeholt hat. Wer würde andererseits die Verantwortung für die Aktionen einer Gemeinschaft übernehmen, ohne zu wissen, was sie tun wird, und ohne sie daran hindern zu können, das zu tun, was er ablehnt?“ (Ein Organisationsprojekt…, 1927).

In seiner Antwort (1929) auf Machnos Reaktion auf seine Kritik präzisiert Malatesta: „Sicherlich akzeptiere und unterstütze ich die Ansicht, dass jeder, der sich mit anderen für eine gemeinsame Sache zusammenschließt und zusammenarbeitet, seine Aktionen mit denen seiner Gefährten koordinieren und nichts tun darf, was die Aktion der anderen und damit die gemeinsame Sache beeinträchtigt; dass er getroffene Vereinbarungen einhalten muss – außer wenn der Austritt aus der Assoziation aufgrund von Meinungsverschiedenheiten, veränderten Umständen oder Konflikten über die gewählten Methoden die Zusammenarbeit unmöglich oder unangebracht macht. Ich bin daher der Meinung, dass diejenigen, die diese Pflichten nicht anerkennen oder nicht erfüllen, aus der Assoziation ausgeschlossen werden müssen.“

Die Plattform verteidigt eine Synthese zwischen individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung, sieht aber im Missbrauch des föderativen Prinzips der freien Vereinbarung – das „wiederholt als das Recht verstanden wurde, vor allem das individuelle „Ego” zum Ausdruck zu bringen, ohne den Pflichten, die die Organisation erfordert” – ein theoretisches und organisatorisches Problem und nicht in erster Linie ein soziales Problem. Deshalb besteht ihre Lösung darin, die individuelle Freiheit im Sinne der sogenannten „kollektiven Verantwortung“ einzuschränken. Mit anderen Worten: Organisatorisch wird die bedingungslose Verpflichtung der Mitglieder postuliert, die getroffenen Vereinbarungen praktisch umzusetzen, und durch diesen Zwangsmechanismus soll die Trennung zwischen dem Recht zu entscheiden und der Pflicht, Entscheidungen umzusetzen, aufgehoben werden. Damit wird die Trennung zwischen Führenden und Ausführenden in der Organisationsstruktur nicht aufgehoben, sondern sogar noch verstärkt. Anstelle eines freiwillig eingegangenen umfassenden Verpflichtungskompromisses, der die Führungs- und Ausführungsfunktionen integriert, festlegt und als Befugnisse der einzelnen Mitglieder festschreibt, wird ein System der „kollektiven Verantwortung“ eingeführt, das die Führungs- und Anstelle einer freiwillig eingegangenen umfassenden Verpflichtung zur Beteiligung, die die Führungs- und Ausführungsfunktionen integriert und als Befugnisse jedes einzelnen Individuums festlegt und verwirklicht, wird versucht, die Einheit von Entscheidung und Ausführung durch autoritäre Formalitäten und durch eine stärkere Autonomisierung der Spitze gegenüber der Basis durchzusetzen. Malatesta sieht in dieser Vorstellung zu Recht eine Verfälschung des anarchistischen Föderalismus, von dem nur noch die Fassade übrig bleibt, während für die Plattformisten dieser kollektivistische Mechanismus die einzige Bedingung wäre, unter der der Föderalismus „Leben finden” und die Organisation „richtig” funktionieren und „das definierte Ziel ansteuern” könnte.

2. In seiner Antwort auf Malatestas ursprüngliche Kritik (1928) macht Machno klar, dass seine organisatorischen Positionen direkt auf seinen Erfahrungen im revolutionären Kampf basieren. Seiner Meinung nach „ist es egal, wie die revolutionären Ereignisse ablaufen, jemand muss die ideologische Führung übernehmen und die taktischen Befehle geben. Das heißt, dass nur ein gesunder, dem Anarchismus gewidmeter kollektiver Geist den Anforderungen des Augenblicks gerecht werden und einen kollektiv verantwortlichen Willen zum Ausdruck bringen kann.“ Außerdem macht Machno klar, dass der Begriff der „kollektiven Verantwortung“ eng mit seiner Überzeugung verbunden ist, dass „die historisch falsche Vorstellung, der Anarchismus könne in einer revolutionären Periode weder ideologisch noch praktisch eine Leitlinie für die arbeitende Masse sein, beseitigt werden muss“. Malatesta antwortet ihm, dass der Begriff „kollektive Verantwortung” an sich schon reaktionär ist und einen bürokratisch-militärischen Sinn hat, weil er nicht zwischen den tatsächlich Verantwortlichen und den anderen unterscheidet und verlangt, dass jedes Individuum für die Aktionen der anderen verantwortlich ist. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass hinter den Abstraktionen der „kollektiven Verantwortung” und des „Anarchismus als Leitbild” in der Praxis nichts anderes steckt als Zwangsdisziplin und Selbstüberhöhung der Avantgarde über die Masse.

Für Malatesta ist „die moralische Verantwortung (denn in unserem Fall kann es sich nur um moralische Verantwortung handeln) ihrem Wesen nach individuell. Nur der Herrschaftsgeist in seinen verschiedenen politischen, militärischen, kirchlichen usw. Ausprägungen kann Menschen für etwas verantwortlich gemacht haben, was sie nicht freiwillig getan haben.” (Zur „kollektiven Verantwortung”, Studi sociali, 1930.)

Und selbst wenn man zugesteht, dass Verantwortung eine politische Dimension hat, in dem Sinne, dass sie bestimmte Sanktionen (wie den Ausschluss) nach sich ziehen kann, bleibt sie dennoch individuell. Der Begriff der „kollektiven Verantwortung“ ist nichts weiter als eine Abstraktion, „ein Ausdruck, der dem Ziel der Klärung zuwiderläuft“ (Malatesta, ebenda), um heimlich den Begriff des Gehorsams und der Einheitichkeit im politischen Verhalten einzuführen, in der Illusion, dass man mit einem „scheinbar nicht autoritären“ Vokabular die Gefahr der Einführung einer „offiziellen“ Herrschaft bannen könne. Wie beim alten Thema des „Auftrags“ (Engels) ist dies nichts weiter als Selbsttäuschung, ein Gedankenspiel, bei dem man glaubt, die Realität zu verändern, indem man ihren Namen ändert oder die formalen („offiziellen“) Mittel ersetzt, um denselben Zweck/denselben Inhalt („inoffiziell“) zu erreichen. Die Gefahren dieser Sprachspiele liegen auf der Hand.

Außerdem geht die Regel der „kollektiven Verantwortung” nicht nur oder hauptsächlich auf die interne Ebene der organisierten Aktivität, sondern auch auf die externe Ebene, um so theoretische und taktische Spaltungen gegenüber der Masse zu überwinden, damit die „anarchistische Partei” als effektive „ideologische” und „taktische” Führung auftreten kann. Anstatt also, wie Malatesta sagt, in dieser Spaltung der bewussten Revolutionäre ein Problem der „mangelnden Vorbereitung, der mangelnden Kohäsion und der mangelnden Einigkeit” zu sehen, wird eine „kollektive Verantwortung” eingeführt, „die, wenn sie nicht blinde Unterwerfung aller unter den Willen einiger weniger ist, theoretisch moralisch absurd und in der Praxis allgemeine Verantwortungslosigkeit ist” (ebenda). Malatesta kommt also zu dem Schluss, dass ein solch abstraktes Prinzip zu noch größerer Uneinigkeit führen wird, und – so meine Interpretation – dass ein solches Konzept, wenn es nicht eine Form des verdeckten Zentralismus ist, ein ethisch-politisches Konzept ist, das mit der Überzeugung verbunden ist, einseitig im Besitz der Wahrheit zu sein, was ebenfalls nur zu noch größerer Uneinigkeit führen kann. Tatsächlich liegt in diesem Konzept einer der entscheidenden Gründe für die Ablehnung, mit der der größte Teil der anarchistischen Bewegung der damaligen Zeit den Vorschlag der Plattform aufgenommen hat. Und es versteht sich von selbst, dass die heutige Existenz bestimmter plattformistischer Kerne in einigen lateinamerikanischen Ländern mit dem reduktionistischen und rückständigen Charakter des plattformistischen Vorschlags für das Verhältnis zwischen Avantgarde und Massen und für die Organisation der Avantgarde zusammenhängt, der gut zu einer historisch weniger reifen Arbeiterbewegung und einer Situation verschärfter Klassenantagonismen auf einer unterentwickelten kapitalistischen Basis passt.

3. Die Plattform setzt sich als Hauptziel der ideologischen Organisation der Avantgarde, „die revolutionärsten und kritischsten Elemente unter den Arbeitern und Bauern anzuziehen und aufzunehmen” und für die Arbeiter „zu ihrem Pionier und theoretischen Leiter” zu werden. Demnach würde sie, d. h. aufgrund ihrer Konstitution als politische Führungskraft, zur „organisierten Avantgarde ihres Emanzipationsprozesses“ werden. In seiner Antwort an Malatesta von 1928 macht Machno, wie wir oben schon gesehen haben, klar, dass „die Führungsfunktion, die die Anarchisten übernehmen müssen”, auf ihrer Überzeugung beruht, dass „die anarchistische Idee … mit ihrem Opfergeist in die Massen eindringen muss. Dank ihm [diesem Opfergeist „der Idee”] kann ein Mensch den revolutionären Weg wählen und alle anderen ignorieren. (…) Aus der Inspiration der kollektiven Verantwortung heraus haben Revolutionäre aller Epochen und Strömungen ihre Kräfte vereint; auf ihr gründen sie ihre Hoffnung, dass die Teilaufstände, die den Unterdrückten den Weg ebnen werden, nicht umsonst waren, dass die Ausgebeuteten ihre Bestrebungen verstehen, daraus die richtigen Lehren für die Zeit ziehen und sie nutzen werden, um neue Wege für ihre Emanzipation zu eröffnen.“ Das heißt, der Begriff „kollektive Verantwortung“ bedeutet, dass die Motivation der Revolutionäre das Opfer für die Masse ist, was im Grunde genommen ein psychologischer Ausdruck des egozentrischen Individualismus derjenigen ist, die ihn bekennen, oder eines Sozialisationskomplexes (was im Wesentlichen dasselbe ist). Hinter dieser Aufopferung steckt der Geist des bourgeoisen Individuums auf der Suche nach seiner wahren sozialen Anerkennung, auf der Suche nach der wahren Gemeinschaft, die es nur in entfremdeter Form begreifen kann, als materielle Unterwerfung der Gemeinschaft unter seine eigene Individualität und als rein mentale Selbstunterwerfung unter die Gemeinschaft.

Malatesta antwortet Makhno, dass für ihn die „Verantwortung der Anführer“ „nichts bedeutet“ und dass trotz der vorgeschlagenen Organisation, die sich aus Anarchistinnen und Anarchisten zusammensetzt, „sie zu nichts anderem als einer Regierung werden würden. In dem guten Glauben, dass sie für den Sieg der Revolution notwendig sind, würden sie in erster Linie deutlich machen, dass sie gut genug positioniert und stark genug sind, um ihren Willen durchzusetzen. Sie würden also bewaffnete Korporationen zur materiellen Verteidigung und eine Bürokratie zur Umsetzung ihrer Entscheidungen schaffen und dabei die Volksbewegung lähmen und die Revolution töten.“ Und genau das passierte 1936 im spanischen Staat, ohne dass man sagen könnte, dass der Plattformismus dabei einen entscheidenden Einfluss hatte (obwohl Makhno sicherlich Kontakt zu Buenaventura Durruti hatte und dies Themen wie die militärische Disziplin der Milizen beeinflusste). Die plattformistischen Positionen hätten, so wie es aussieht, diese Gefahr nur noch weiter verschärft.

Angesichts der Vorrangstellung der politischen und materiellen Wirksamkeit der spezifischen Organisation betont Malatesta, dass „das Wichtigste nicht der Sieg unserer Pläne, unserer Projekte, unserer Utopien ist, die ohnehin einer Bestätigung bedürfen und durch die Erfahrung verändert, weiterentwickelt und an die realen, moralischen und materiellen Bedingungen der Zeit und des Ortes angepasst werden können. Das Wichtigste ist, dass die Menschen, Männer und Frauen, ihre Herdeninstinkte und -gewohnheiten, die ihnen in tausenden von Jahren der Sklaverei eingeimpft wurden, ablegen und lernen, frei zu denken und zu handeln. Das ist die große Aufgabe der moralischen Befreiung, der sich die Anarchisten besonders widmen müssen.

Ich glaube, dass wir Anarchisten, die von der Gültigkeit unseres Programms überzeugt sind, uns bemühen müssen, einen enormen Einfluss zu erlangen und die Bewegung zur Verwirklichung unserer Ideale zu bewegen. Aber ein solcher Einfluss muss dadurch gewonnen werden, dass wir mehr und besser sind als die anderen, und er wird nur dann nützlich sein, wenn wir ihn auf diese Weise erlangen.

Du fragst, ob Anarchisten (in der revolutionären Bewegung und in der kommunistischen Organisation der Gesellschaft) eine führende und damit verantwortliche Rolle übernehmen sollten oder sich darauf beschränken, unverantwortliche Helfer zu sein. Deine Frage verwirrt mich, weil sie ungenau ist. Es ist möglich, durch Rat und Vorbild zu führen und den Menschen – mit den Möglichkeiten und Mitteln, ihre eigenen Bedürfnisse selbst zu befriedigen – unsere Methoden und Lösungen übernehmen zu lassen, wenn diese besser sind oder besser erscheinen als die von anderen vorgeschlagenen und durchgesetzten. Aber es ist auch möglich, zu führen, indem man die Macht übernimmt, also eine Regierung bildet und die eigenen Ideen und Interessen mit polizeilichen Methoden durchsetzt. (…) Wir sind Anarchisten, weil wir denken, dass Regierung (jede Regierung) schlecht ist und dass es ohne Freiheit keine Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit geben kann. Wir können also nicht regieren wollen und müssen alles tun, um zu verhindern, dass andere – Klassen, Parteien oder Individuen – die Macht übernehmen und zu Regierungen werden.

4. Schließlich gibt es noch den Aspekt der Konsistenz der revolutionären Avantgarde-Organisation. Es ist klar, dass der plattformistische Ansatz diese Konsistenz als auf formale Methoden und Normen gegründet betrachtet, die darauf abzielen, eine mechanische Kohärenz zwischen Theorie und Praxis, Entscheidung und Ausführung zu gewährleisten, wobei der Fortschritt der Organisation mit dem Fortschritt der Revolution gleichgesetzt wird. Malatesta hat bereits in seiner ersten Kritik diese organisatorischen Probleme in Bezug auf den sozialen Inhalt aufgeworfen. Der Fortbestand und die Merkmale der spezifischen Organisation hängen von den Motivationen ihrer Mitglieder ab, die wiederum stark mit den Ergebnissen des Kampfes für die revolutionäre Transformation zusammenhängen. Die Organisation sollte nicht auf eine unbegrenzte Dauer ausgerichtet sein, denn „die Dauer einer libertären Organisation muss sich aus der geistigen Affinität ihrer Mitglieder und der Anpassungsfähigkeit ihrer Verfassung an die sich ständig ändernden Umstände ergeben. Wenn sie nicht mehr in der Lage ist, eine nützliche Aufgabe zu erfüllen, ist es besser, dass sie stirbt”. Das Problem der „Desorganisation“ ist vor allem ein Problem des Inhalts der sozialen Praxis und der Bedingungen dieser Praxis, nicht ein Problem der Organisationsmodelle. Weder das Proletariat noch seine Avantgarde brauchen „Formen“, um ihre Aktion und ihr Potenzial zu entfalten; ein solcher Anspruch ist sowohl für Marxisten als auch für Bakuninisten dem revolutionären Fortschritt fremd. Für beide Strömungen verschafft sich die Ausbreitung der proletarischen Aktivität selbst ihre Organisationsformen entsprechend ihrem Wesen, und die einzige Möglichkeit, dass dieses Wesen oder diese Handlungsweise revolutionär ist, besteht darin, die Entfaltung ihres noch schlummernden revolutionären Potenzials, der Gesamtheit des Bewusstseins, der Fähigkeiten und Bedürfnisse, die unter den vorherrschenden sozialen Verhältnissen subsumiert sind und deren Befreiung als kreative Kräfte die Selbsttransformation der Individuen parallel zur Transformation ihrer sozialen Handlungs- und Beziehungsformen impliziert, voranzutreiben und zu fördern.

* * *

Abschließend wird nun verständlich, dass die Bezeichnung „Anarchobolschewismus” (sowohl das Adjektiv „anarcho” als auch das Substantiv „Bolschewismus”) zur Definition der plattformistischen Strömung völlig angemessen ist. Außerdem muss betont werden, dass dieser Begriff keineswegs unsere Erfindung ist und auch nicht aus der marxistischen Strömung stammt. Er wurde zum ersten Mal von genau den zeitgenössischen Anarchistinnen und Anarchisten geprägt und begründet, die die Plattform abgelehnt haben, darunter wichtige Persönlichkeiten wie Malatesta, Berkman, Fabbri oder Max Nettau, denen die Gruppe um Dielo Trouda allgemein mit dem vagen Begriff „Verwirrer des Anarchismus” oder, wie wir gesehen haben, als „chaotische Anarchisten” und „Verantwortungslose” bezeichnet (Bezeichnungen, die voll und ganz im Einklang mit den formalistischen und subjektivistischen Kriterien stehen, auf denen die Thesen der Autoren der Plattform politisch beruhen, und die unweigerlich an die manipulativen Methoden erinnern, die historisch gesehen die Bolschewiki, Faschisten und bourgeoisen Kräfte im Allgemeinen geprägt haben, um Revolutionäre und jede progressive Strömung zu diskreditieren, die ihren Herrschafts- oder Hegemonieansprüchen über die Arbeiterbewegung gefährlich oder hinderlich waren).

Roi Ferreiro, 28.09.2006


1Diese intellektuelle und politische Spaltung ist nicht nur rückschrittlich in Bezug auf die praktische Aufteilung der Kräfte und Anstrengungen. Sie ist es auch in Bezug auf die Notwendigkeit, für die Entwicklung des revolutionären Denkens zu kooperieren, entsprechend der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft, des Klassenkampfs, der sich in ihr entwickelt, und des Prozesses der Entfaltung ihrer revolutionären Potenziale. Ein Denken, das nicht in der Lage ist, neue Antworten auf die historischen Herausforderungen zu geben, die sich ihm stellen, das stur in die Vergangenheit schaut und sich in sich selbst verschließt, wird auf der theoretischen Ebene dem historischen Fortschritt fremd und fördert in der Praxis Formen der Aktion, dass ihm entgegenstehen.

2Wir sprechen hier vom letzten Viertel des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber all diese theoretischen Ungereimtheiten zeigten sich auch in der organisierten anarchistischen Aktivität im spanischen Bürgerkrieg, indem sie die Entwicklung eines revolutionären Prozesses anregten und gleichzeitig zwischen Integration und Koexistenz mit dem Staat schwankten. Um die Wurzeln dieses Verhaltens zu verstehen, kann man zum einen die Schriften der Bakunisten studieren, die einseitig auf Föderalismus statt Zentralisierung setzen und die unmittlere Zerstörung der gesamten Staatsstruktur betonen, mit dem Ziel, eine Verwaltungsstruktur aus ihren eigenen Organisationen oder aus dem Nichts aufzubauen. Andererseits kann man die Kritik von Marx und Engels am antiautoritären Flügel der IAA lesen, insbesondere den Text von Engels „Die Bakunisten in Aktion. Bericht über den Aufstand in Spanien im Sommer 1873.

3Zu diesem Thema schau dir mal den Artikel „O curso actual da luita de classes internacional. Entre a revoluçom burguesa e a revoluçom proletária” an, der im Boletim Igneo Nr. 4, 2005, von den Rätekommunisten Galiciens erschienen ist.

http://www.geocities.com/comunistasdeconselhos. Wir hoffen, ihn bald ins Spanische übersetzen zu können.

4„Da aber die Mehrheit nicht so viele Dinge selbst erledigen kann, da sie sich nicht täglich mit so vielen Fragen beschäftigen kann, entsteht zwangsläufig die Ergänzung des Gesetzes, die parlamentarische Vertretung. Zu diesem Zweck werden durch die Mehrheit auch Delegierte oder Vertreter gewählt, die als Körperschaft alle Befugnisse ihrer Vertretenen oder vielmehr die des ganzen Landes übernehmen, und so entsteht die Allmacht, das göttliche Recht der Parlamente.“

„Im Allgemeinen entscheiden in [privaten] Gesellschaften, die geregelt und dem Gesetz der Zahl unterworfen sind, nicht die Mehrheiten über diese kleinen Fragen, sondern der Wille der Aktivsten, seien sie wenige oder viele. In diesen privaten Gruppierungen, in denen das Gesetz nicht die Bedeutung eines allgemeinen Prinzips, eines eigentlichen Gesetzes hat, geschieht jedoch dasselbe wie in der politischen Gesellschaft. Ein kleiner Kern von Individuen regelt alles, verfügt über alles und tut alles.“

„Der Aberglaube wird stark genug sein, dass man weiterhin den bloßen Zweifel an der Tugend, der Weisheit der Mehrheit und der Güte ihrer Entscheidungen für Wahnsinn hält; aber Erfahrung und Verstand beweisen die Falschheit des Gesetzes der Mehrheit, das unweigerlich in die ungezügelte Willkür der Minderheit übergeht.“ (Ricardo Mella, La ley del número, 1899.)

5Hier passiert dasselbe wie bei der Demokratie, daher ist die Vorstellung von der Art der Unterdrückung, die den Kapitalismus kennzeichnet, entscheidend dafür, welche Positionen in Bezug auf die Kriterien der politischen Praxis eingenommen werden.

6Das war früher nicht so, wenn man die historische Entstehung der sozialen Entfremdung betrachtet. Zuerst hat die historische Entwicklung die Bildung entfremdeter Formen der Selbsttätigkeit in einem „natürlichen” Prozess vorangetrieben; erst dann konnten die Individuen, die durch diese Entwicklung an die Macht gekommen waren, diese durch ihren Willen reproduzieren, indem sie sich als ihre Vertreter präsentierten und handelten. Aber dieser ganze Prozess ist komplex und wird in seiner „reinen” Form im historischen Verlauf kaum zu finden sein; relativ klare Beispiele dafür könnten wir nur im – noch sehr dunklen – Anfangsstadium des Übergangs zur Klassengesellschaft finden.

7Wenn sie keine Funktion mehr in der Organisation der Produktion haben, wie es bei den heutigen Großunternehmen der Fall ist, sind sie nicht einmal mehr „Funktionäre des Kapitals”, sondern lediglich „Parasiten des Kapitals”; dies ändert jedoch nichts an ihrer grundlegenden Stellung als vom Kapital persönlich geleitet und nicht als Leiter des Kapitals. Das heißt, ihr persönlicher Wille beeinflusst nur den Erfolg oder Misserfolg der Wertvermehrung und Akkumulation, bestimmt aber nicht deren Bedingungen und Dynamik. Wenn das Proletariat nur wirklich frei ist, sich ausbeuten zu lassen oder zu verhungern, ist die Bourgeoisie nur wirklich frei, zu akkumulieren oder sich zu ruinieren.

8Für weitere Details verweise ich auf das Dokument der Gruppe der Rätekommunisten Galiciens: „La Red de Grupos Obreros“, in dem dieses Modell allgemein und insbesondere seine konkrete Anwendung auf die Vollversammlungsorganisation der unmittelbaren Kämpfe auf einer ökonomisch-politischen Basis entwickelt wird.

9Wenn wir von Bauern sprechen, meinen wir hier kleine Landbesitzer, Leibeigene, Lohnarbeiter, die noch in einer Art Leibeigenschaft leben oder für ihr Land Pacht an Großgrundbesitzer zahlen. Mit der Entwicklung des Kapitalismus und der Industrialisierung der Landwirtschaft setzt sich die Lohnarbeit durch, obwohl die industrielle Entwicklung dazu führt, dass sich das Proletariat in den Städten konzentriert und die landwirtschaftliche Bevölkerung schrumpft.

10Hier sehen wir bereits im Keim ein spezifisches Konzept der revolutionären Organisation, auf das der Plattformismus seine eigene Variante entwickeln wird. Der Anspruch der Plattformisten, sich als die wichtigsten oder einzigen ernsthaften Verteidiger der „spezifischen Organisation” zu präsentieren, widerspricht der wahren historischen und theoretischen Tradition des proletarischen Anarchismus.

11Oder wie aktuelle Anhänger dieser Strömung, zum Beispiel im Raum Anarkismo.net, sagen: Der Fortschritt in der „globalen Organisation” des Anarchismus wird unter anderem dadurch erreicht, dass „die Menschen, die soziale Veränderung wollen, davon überzeugt werden, dass der in der „Anarchistischen Plattform” skizzierte Ansatz der beste ist”. Und so definieren sie ihre „Avantgarde”-Perspektive: „Eine erfolgreiche Revolution erfordert, dass anarchistische Ideen zu Ideen werden, die die Arbeiterklasse leiten. Das wird nicht von selbst passieren. Unsere Aufgabe ist es, anarchistische Ideen zu Leitideen zu machen oder, wie es mal gesagt wurde, eine „Führungsrolle der Ideen“ zu übernehmen.

Ich weiß nicht, was lächerlicher ist: die ideologische Offenheit, mit der sie ihre Überzeugung von ihrer Überlegenheit gegenüber anderen Konzepten oder Theorien allein auf der Grundlage eines zudem recht vagen Gründungsdokuments (der Plattform) bekräftigen, oder die Verwendung des Euphemismus „Führungsrolle der Ideen”, um von „politischer Führung” zu sprechen, ohne diese anzuerkennen, oder die offene Andeutung – entgegen der gesamten Geschichte des Anarchismus und für alle Unvorsichtigen – , dass sie die einzige anarchokommunistische Strömung seien, die eine „spezifische Organisation” verteidige. Sie scheinen den gesamten früheren revolutionären Anarchismus in ihre eigenen Schemata und Interpretationslinien einordnen zu wollen, so wie es der Bolschewismus mit dem ursprünglichen Marxismus getan hat, um sich selbst zu den einzigen kohärenten Anarchist*innen zu erklären und alle anderen zu verbannen. (Und natürlich ächten sie auch diejenigen, die aus marxistischen Perspektiven die „orthodoxe anarchistische Kritik des Marxismus“ hinterfragen oder die Ähnlichkeiten des Plattformismus mit dem Bolschewismus hervorheben, die, wie in diesem Anhang zu sehen ist, über formale Übereinstimmungen hinausgehen und eine Grundlage in der historischen Erfahrung des Plattformismus haben.)

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