Wir haben diesen Text ausgegraben und übersetzt, weil es sich mit elementaren Frage in der Auseinandersetzung/Kritik um den Plattformismus auseinandersetzt. Was einige der Schlussfolgerungen angeht, sind wir zwar mit dem Aufbau der Gedanken einverstanden, weil es sich immer um die Überprüfung der Theorie durch die Praxis handelt, aber nicht mit diesen Schussfolgerungen einverstanden. Der Autor begeht eigentlich denselben Fehler den er am Ende anderen Kritikern des Plattformismus vorwirft, einer der bei allen plattformistischen Gruppen selbst zu finden ist, sie (plattformistische Sekten – jene die diese Idee noch für aktuell und relevant halten – und Roi Ferrero) verwechseln ein Organisationsvorschlag der fast hundert Jahre alt ist, mit der gegenwärtigen Auslegung. Genauso wie die CNT, egal wie viele anarchistische Lieder sie besingen in denen es nur um heroischen Tod, Aufständen und sozialem Klassenkrieg geht, egal wie oft sie Durruti, Ascaso, Matteo Morral, Francisco Sabater usw. als Märtyrer glorifizieren, hat dies weder mit ihren Theorie und Praxis zu tun. Aber ob diese Organisationsvorschläge überhaupt damals wie heute richtig gewesen sei, kommt nicht vor.
Auch ist seine Haltung zum Aufständischen Anarchismus in diesem Text etwas verwirrend, während einerseits er diesen verteidigt, sogar für die Zeit als dieser veröffentlicht wurde, als die am weitesten entwickelte Strömung des Anarchismus verteidigte, verrennt er sich gnadenlos in seiner sowohl historischen wie gegenwärtigen Einordnung der Affinitätsgruppen.
Wie alle anderen Texte die wir zu dieser Auseinandersetzung veröffentlicht haben, die eigentlich nicht im deutschsprachigen Raum geführt wird, geht es uns um eine breite Palette kritischer Texte bereit zu stellen um eben eine Auseinandersetzung führen zu können. Der Plattformismus ist nichts anderes als falsch und präsentiert keine reale Antwort auf die Probleme die er versucht anzugehen, wenn auch die angesprochenen Probleme real sind, dennoch – wie die Situationistische Internationale schon sagte – kann man Entfremdung nict mit entfremdeten Mitteln bekämpfen, ergo kann der Reformismus und die Konterrevolution nicht mit reformistischen und konterrevolutionären Mitteln bekämpft werden.
Anarchistische Gruppe 17. Juli (auch bekannt als Soligruppe für Gefangene)
Roi Ferreiro, Die Frage des Neoplatformismus
Kritiken, Mystifizierungen und Lösungen
Geschrieben vom 7. bis 10. September 2008. Am Ende füge ich eine Zusammenfassung des Textes von Ricardo Fuego vom 19. September hinzu, dem ich wie immer für seine Vorschläge danke.
Nachdem ich gerade den letzten Teil des Artikels „Entre la plataforma y el partido” (Zwischen der Plattform und der Partei)1 von Patrick Rossineri gelesen habe, der gerade von den Gefährt*innen der Gruppe Libertad2 aus Buenos Aires veröffentlicht wurde, sehe ich die Notwendigkeit, einige Meinungen zu äußern, die, wie die Schlussfolgerungen und die am Ende des ersten Artikels3genannten Artikel, vor allem mit der Betrachtung des aktuellen Plattformismus oder, besser gesagt, des Neoplattformismus zu tun haben.
Ich denke, dass die erwähnten Texte auf politischer Ebene eine ernsthafte Lektüre verdienen, da sie natürlich – jetzt und vielleicht auch langfristig – die Beziehungen zwischen Gruppen beeinflussen. Diese Art der Lektüre ist sicherlich für diejenigen offensichtlich, die sich spezifisch innerhalb der anarchistischen Bewegung verorten, vor allem für diejenigen, die sich mit den beiden dort dargestellten gegensätzlichen Extremen identifizieren, aber sie sollte auch von allen gemacht werden, die die Notwendigkeit einer revolutionären Neuformierung verstehen. Denn weder die Probleme und Lösungen, die der Plattformismus aufwirft, noch die Diskussionen innerhalb des organisierten Anarchismus sind Prozesse oder Ereignisse, die sich mit ideologischen oder parteiischen-politischen Gründen erklären lassen, sondern sie müssen als Elemente der historischen Bewegung des Klassenkampfs und der Bemühungen des Proletariats, sich als autonomes Subjekt zu konstituieren, verstanden werden.
Die aktuellen Mitglieder des CICA (Ricardo Fuego und ich) haben oder hatten eine gewisse Verbindung zu zwei Gruppen, die sich zum Plattformismus bekennen, deren Positionen und Einstellungen aber ziemlich unterschiedlich sind: die Alianza Comunista Libertaria de México, mit der wir eine heftige Debatte über die Frage der Partei geführt haben4, und die Grupo Socialista Libertario de México5, mit der wir seit einiger Zeit gute Beziehungen pflegen (auch wenn wir unsere politischen und theoretischen Differenzen nicht vergessen). Die Fragen, die im Widerspruch zur proletarischen Selbstbefreiung stehen und die seit der Veröffentlichung der Plattform weitgehend Teil der Kontroverse innerhalb der anarchistischen Bewegung sind, habe ich vor einiger Zeit in einem Anhang zu meinem Artikel „Gegen den politischen Fetischismus” vom Oktober 2006 behandelt. In diesem Artikel habe ich das Problem jedoch eher aus einer theoretischen und historischen Perspektive als aus einer politischen und aktuellen Perspektive betrachtet, und wenn ich irgendwann auf Letzteres hingewiesen habe, habe ich mich auf das bezogen, was man als dogmatischen und konservativen, regressiven Neoplattformismus im Stil der mexikanischen ACL und ähnlicher Gruppierungen bezeichnen könnte. Ich werde daher versuchen, diese Lücke jetzt zu schließen. Sie hängt mit einem Fehler zusammen, den meiner Meinung nach auch Patricks Artikel macht, nämlich den ursprünglichen Plattformismus mit dem Neoplattformismus gleichzusetzen.
Doktrinäre Ähnlichkeiten haben noch nie die Politik einer Bewegung oder Strömung bestimmt. Das war sogar im Leninismus so, wo doktrinäre Einheit als wesentlicher Wert angesehen wurde und ihre Aufrechterhaltung oft mit Disziplinarmaßnahmen geahndet wurde. Trotz allem entwickelt jedes Individuum oder jede Gruppe der proletarischen Klasse ihr Bewusstsein aus ihrer praktischen Erfahrung und nicht aus programmatischen Dokumenten oder intellektuellen Werken, die nur die Reflexion und mentale Repräsentation ihrer Erfahrung, die immer alle möglichen Besonderheiten enthält, formen und orientieren können. Deshalb müssen wir immer die Distanz berücksichtigen, die zwischen theoretischen Verallgemeinerungen und der konkreten historischen Praxis besteht.
I
Aus dieser letzten Perspektive muss meiner Meinung nach der aktuelle Plattformismus erklärt werden. Obwohl ich die gängigsten Kritikpunkte am Plattformismus teile, finde ich, dass die erwähnten Artikel (Patrick, Daniel und Gustavo) einen überwiegend abstrakten Ansatz verfolgen.
Das hindert sie daran, die positiven historischen Gründe für das Wiederauftauchen des Plattformismus zu erkennen und sich auf die Suche nach Lösungen für die praktischen Probleme zu konzentrieren, die auf dem Tisch liegen. Ich habe das in „Gegen den politischen Fetischismus“ auch nicht speziell angesprochen, aber vor allem, weil es im Grunde die gleichen Probleme waren, mit denen ich mich schon viel früher im Zusammenhang mit der Überwindung der traditionellen Formen der Arbeiterbewegung (einschließlich des Bolschewismus und des noch vorherrschenden Anarchismus) auseinandersetzen und beschäftigen musste. Das hatte ich bereits in spezifischen Dokumenten6 getan, sodass ich keinen Grund sah, mich hier weiter darüber auszulassen. Auf historisch-politischer Ebene wies ich jedoch darauf hin, dass
„die derzeitige Existenz bestimmter plattformistischen Kerne in einigen lateinamerikanischen Ländern mit dem reduktionistischen und rückständigen Charakter des plattformistischen Ansatzes in Bezug auf das Verhältnis zwischen Avantgarde-Massen und die Organisation der Avantgarde zusammenhängt, der gut zu einer historisch weniger reifen Arbeiterbewegung und einer Verschärfung der Klassenantagonismen auf einer unterentwickelten kapitalistischen Basis passt.“
Man kann dieser Analyse zustimmen oder nicht, aber sie hat nichts mit Eurozentrismus zu tun. Es genügt zu sagen, dass der nationale Kontext meines Landes, Galicien, nicht über diesem Niveau liegt, sodass ich aufgrund meiner Erfahrung eine ziemlich praktische und lebendige Vorstellung davon habe, wovon ich spreche. Um etwas zu verdeutlichen, was in dieser Einschätzung impliziert ist: Ich halte es für falsch, die Situation in Lateinamerika mit der in Europa zu vergleichen, wie es implizit geschieht, wenn über die Präsenz neoplatformistischer Gruppen in der Welt berichtet wird. Eine andere soziale Situation muss trotz doktrinärer Ähnlichkeiten zu Gruppen unterschiedlicher Prägung führen. Und auch wenn es in den entwickelten Ländern Europas einen Kontext gibt, in dem die Unterordnung des Lebens unter das Kapital stärker ausgeprägt ist und damit auch die Entfremdung und die Herrschaft des Kapitals über das Proletariat subtiler und tiefer gehen, muss man auch sagen, dass die Ausbeutung und die relativ weniger entwürdigenden materiellen Lebensbedingungen der herrschenden Klasse nach wie vor einen guten Puffer gegen soziale Aufstände bieten. Das von Patrick angeführte Beispiel Frankreichs und der Alternative Libertaire scheint mir passend7. Entweder ist diese Gruppe nur symbolisch und hat keine politische Präsenz, oder wenn sie eine hat, dann deshalb, weil ihre tatsächliche Praxis dem Reformismus untergeordnet ist. Der Fall Lateinamerikas ist völlig anders. Auch wenn die soziale Erfahrung dort von einem Kapitalismus geprägt ist, der in seinen Formen der Entfremdung und Herrschaft weniger ausgereift ist – auch wenn diese heute in allen Ländern im Wesentlichen spürbar sind, zumindest für die städtische Bevölkerung, dank der Internationalisierung des Kapitals –, ist der Klassenantagonismus im Allgemeinen viel intensiver und lebendiger, was auf die stärkere Abhängigkeit der lateinamerikanischen Volkswirtschaften, die Nachteile der internationalen Arbeitsteilung und deren Verbindung mit der weltweiten Tendenz des Kapitalismus zum Niedergang zurückzuführen ist. Deshalb ist dort der Neoplatformismus als eine Kraft entstanden, die es zu berücksichtigen gilt, und deshalb kann seine Bedeutung auch nicht ideologisch interpretiert werden. Darauf zu bestehen würde bedeuten, dass man die Tendenzen oder Strömungen der proletarischen Praxis im Allgemeinen nicht als historische Ausdrucksformen eines bestimmten sozialen und materiellen Kontexts versteht.
Auch wenn ich gegen die halb-bolschewistischen Vorstellungen des Plattformismus wettern kann, verliere ich dabei nicht aus den Augen, dass der größte Teil der aktuellen anarchistischen Bewegung von reformistischen Strömungen dominiert wird, auch wenn ihr üblicher ideologischer Radikalismus dies manchmal verschleiern mag. Sie ist überwiegend konservativ geprägt, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass die lebendigen radikalen Strömungen eine Minderheit bleiben oder isoliert sind (was wiederum durch die scheinbare Vielfalt der Strömungen, die sich als anarchistisch bezeichnen, verschleiert wird8). Das kann auch gar nicht anders sein: Die meisten Strömungen einer sozialen oder gesellschafts-politischen Bewegung sind in einer Situation, die weder revolutionär noch vorrevolutionär ist – und auch nicht kurz davor steht oder gerade daraus herauskommt –, sind immer reformistisch. In einem solchen Kontext sind radikale Tendenzen nur isoliert von Bedeutung oder insofern, als ein aufkommender Konflikt die allgemeine Radikalisierung begünstigt. Und der Kontext selbst hemmt ihre Entwicklung und Reifung, weshalb sie in rückständigen Formen bestehen bleiben können.
Meine oben zitierte Aussage bedeutet also nicht, dass der Neoplatformismus „an sich“ absolut rückschrittlich ist – selbst wenn wir abstrakt von einer absoluten Identität zwischen ursprünglicher Doktrin und konkreter Praxis ausgehen. Die Progressivität oder Regressivität einer Strömung oder Gruppe muss anhand ihrer Einbettung in die konkrete historisch-soziale Dynamik bewertet werden – was auch die Berücksichtigung nationaler oder lokaler Unterschiede erfordert:
„Angesichts einer mächtigeren und widerstandsfähigeren Herrschaft, angesichts einer weitaus komplexeren Klassenzusammensetzung als noch vor 30 Jahren, angesichts einer ganzen Reihe praktischer und theoretischer Ungereimtheiten sowie Lücken in sich selbst sind die Formen des Handelns und Denkens der Vergangenheit völlig machtlos, und der beste Beweis dafür ist, dass sie sich selbst unter günstigen Bedingungen nicht weiterentwickeln können oder dass sie dies nur tun, indem sie ihre ursprünglichen revolutionären Absichten nach und nach aufgeben. Dieses intellektuelle und erfahrungsbezogene Erbe ist sicherlich ein Ausgangspunkt für revolutionäres Denken, aber es kann weder seine Angriffsfläche gegen die kapitalistische Macht noch seine größte Errungenschaft sein.
Dies zu tun, würde praktisch bedeuten, dass es sich nicht um ein wirklich revolutionäres Denken handelt, sondern um ein konservatives. Außerdem wäre es ein idealistisches Denken, das glaubt, dass bestimmte Formen der Vergangenheit ihre revolutionäre Essenz abstrakt bewahren könnten, als ob sie den Ideen, die diese Formen repräsentieren und durch die sie bis heute überlebt haben, immanent wäre. Mit dieser fetischistischen Verlagerung verliert man sofort die Perspektive der konkreten Analyse aus den Augen und verfällt in einen praktischen Idealismus, der im Gegensatz zum theoretischen Idealismus eine materialistische Perspektive als mystifizierende Rechtfertigung beansprucht. Und als ob das noch nicht genug wäre, zeigt eine Gruppe, Fraktion oder Organisation damit, dass sie nicht als Ausdruck einer Avantgarde entstanden ist, also als ein Sektor, der dem Rest der Klassenbewegung voraus ist und sie weiter vorantreiben kann, sondern dass es sich um einen rückschrittlichen Sektor handelt, der nicht aus der reifsten und tiefsten Kreativität der gesamten Klasse hervorgegangen ist, sondern aus Verzweiflung und Verblendung, und der keine neuen Energien für den Fortschritt mitbringt.
Es kann aber auch sein, dass es sich um einen echten Ausdruck der Avantgarde handelt, der noch unreif ist und in einem Kontext eines großen allgemeinen Rückschritts steht, wodurch seine theoretischen, organisatorischen und praktischen Formen noch Merkmale der Vergangenheit aufweisen; dies wird Widersprüche mit sich bringen, die überwunden werden müssen, um als revolutionäre Avantgarde und nicht nur als reformistische Avantgarde agieren zu können.“
Das war gegen diejenigen gerichtet, die eine fetischistische Bindung an die ideologische Perspektive der Geschichte haben. Wie gesagt, jede neue Strömung, egal ob sie aus einem bestimmten Erbe kommt oder nicht, kann stagnieren und versteinern oder sogar einen Rückschritt erleben. Im Fall des Neoplatformismus wie auch in anderen Fällen ist die Unterscheidung zwischen regressiven und progressiven Strömungen oder Gruppen für uns relevant, um ihre Rolle für den allgemeinen revolutionären Fortschritt zu beurteilen. In dieser Hinsicht halte ich die Kategorisierung neoplatformistischer Gruppen nach ihrer Nähe zum Leninismus für überflüssig. Erstens, weil sie die evolutionäre Tendenz solcher Gruppen außer Acht lässt, die doch am wichtigsten ist. Zweitens, weil sie voraussetzt, dass nicht-plattformistische Gruppen eine progressivere Kraft darstellen, was ich bezweifle und im Folgenden näher darlegen werde.
II
Wie ich im ersten Absatz meines vorherigen Zitats angedeutet habe, können aus meiner Sicht diejenigen, die Positionen aus einer vergangenen Epoche beibehalten, in einem abstrakten Vergleich mit bestehenden Gruppen oder Organisationen mehr oder weniger fortschrittlich erscheinen. Dies sagt jedoch nichts über ihren Platz in der historischen Entwicklung aus, da die tatsächliche historische Kohärenz der betrachteten Gruppen oder Organisationen nicht berücksichtigt wird. So kann eine Gruppe auf einer rückständigeren doktrinären Grundlage und mit einer weniger kohärenten Praxis eine Tätigkeit entwickeln, die den historischen Bedürfnissen viel besser entspricht als eine andere, die vergleichsweise von einer fortgeschritteneren doktrinären Grundlage ausgeht und eine kohärentere Praxis verfolgt. Im spanischen Staat gibt es jede Menge Beispiele dafür. Zum Beispiel zweifelt niemand daran, dass die CNT eine sehr basisdemokratische Gewerkschaft/Syndikat ist (im Rahmen des Möglichen), aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass ihre Aktionen nicht von einem revolutionären Programm und einer revolutionären Strategie geleitet werden – was der Grund dafür ist, dass sie im aktuellen sozio-politischen Kontext weiterhin existiert, und sie wurde auch deshalb vom Staat während des Übergangs von der Franco-Diktatur zur parlamentarischen Monarchie nicht aufgelöst.
Sofern es sich nicht um aufstrebende oder dynamische Gruppen handelt, sondern um eindeutig stagnierende, steht die Progressivität oder Regressivität ihrer Merkmale nicht in direktem Zusammenhang mit ihren doktrinären Bezugspunkten. Wie ich schon sagte, bieten Theorien Mittel, um eigene Erfahrungen auszudrücken, aber es braucht Zeit, Mühe und Studium, um eine historische Angemessenheit zwischen einer übernommenen theoretischen Form und der tatsächlichen praktischen Erfahrung herzustellen. Die Wahl der einen oder anderen Theorie hängt natürlich vom historischen und praktischen Bewusstsein ab, also von den Kriterien und praktischen Zielen, die aus der sozialen Erfahrung abgeleitet wurden. Daher hängt die formale Akzeptanz einer bestimmten Theorie stark vom Grad der historischen und sozialen Entwicklung ab. Diese Frage der Form hat aber nichts direkt mit der Qualität des praktischen Bewusstseins zu tun, also mit dem Wesentlichen, in diesem Fall mit der Wahrheit des revolutionären Anspruchs. Trotz der Verzerrungen, die durch unangemessene Darstellungen und Denkweisen entstehen, bin ich mir sicher, dass die Arbeiter*innen, die durch ihr Beispiel die revolutionäre Praxis historisch definiert haben, indem sie versucht haben, sich ihre Lebensbedingungen anzueignen, ein echtes Bewusstsein dafür hatten, worin ihre Befreiung bestand, auch wenn diese nicht ausreichend konkretisiert war und ihre Praxis daher nicht ausreichend kohärent und wirksam war. Es besteht ein wichtiger Unterschied zwischen dem Wissen, was man will, und dem Wissen, wie man es im gegebenen Kontext verwirklichen kann.
So ist es normal, dass sich die Menschen zunächst an Theorien halten, die ihnen praktische Lösungen bieten, die für ihre Praxis in der gegenwärtigen Situation geeignet sind. Von diesem Ausgangspunkt aus werden sie dann tendenziell von einer Theorie zur nächsten übergehen, je nachdem, wie ihre eigenen Erfahrungen zunehmen und es ihnen ermöglichen, zwischen mehr oder weniger geeigneten Lösungen für praktische Probleme zu unterscheiden, bis sie die höchste Stufe erreichen, auf der sie erkennen, dass das Wichtigste an einer Theorie ihre intellektuelle Wirksamkeit (repräsentativ, analytisch und projektiv) ist, weil dieser evolutionäre Weg, den ich schematisch beschrieben habe, es ihnen ermöglicht hat, alle Beiträge der niedrigeren Theorien vorher zu bewerten und zu sammeln9. Auf diese Weise bedeutet die bevorzugte Anhängerschaft an eine mehr oder weniger spezifische theoretische Strömung für diejenigen, die selbstständig denken, nicht, dass diese Strömung immer oder notwendigerweise die wahrste ist, wie sie bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert hat, sondern nur, dass sie sich für sie als am nützlichsten erwiesen hat, um ihr rationales Verständnis auszudrücken und zu entwickeln. So gehen Polemiken, die darauf abzielen, die Wahl zwischen Marxismus und Anarchismus oder in diesem Fall zwischen Plattformismus und anderen Strömungen zu fördern – also Polemiken, die die Frage auf „Ja oder Nein”, „für oder gegen” reduzieren –, von einem falschen Ausgangspunkt aus und sind selbstreferenziell, anstatt darauf abzuzielen, die historisch-materielle Kohärenz der Praxis mit dem sozialen Kontext, in dem sie sich entwickelt, zu fördern.
Heute ist es nicht nur falsch und verarmend, die Opposition zwischen Marxismus und Anarchismus abstrakt zu verteidigen, sondern auch eine fundamentalistische doktrinäre und politische Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Die Geschichte hat die erste abstrakte Gegensätzlichkeit beseitigt, da es nicht darum geht, welche theoretische Strömung die proletarische Bewegung dominiert, sondern wie wir eine revolutionäre Bewegung aufbauen können, wofür sich die Rezepte und Analysen der beiden großen Strömungen des revolutionären Denkens der Vergangenheit als unzureichend erwiesen haben. Es ist nach wie vor sinnvoll, ihre Unterschiede und Verbindungen, ihre Fehler und Erfolge zu diskutieren, da noch keine allgemein anerkannte einheitliche Theorie entwickelt wurde; aber es ist ein Hindernis zu glauben, dass eine von ihnen allein eine ausreichende Grundlage für das Denken der gegenwärtigen Praxis bieten kann. Letzteres wurde durch die spontane historische Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich. Anarchismus und Marxismus haben sich gegenseitig beeinflusst, was in ihren konsequentesten revolutionären Strömungen am deutlichsten wird. Natürlich hat dies auch zu einer Vermischung mit den jeweils vorherrschenden historischen Interpretationen geführt. So lässt sich der leninistische Einfluss im Plattformismus erklären, aber auch der spontane und pädagogische Einfluss, der im autonomen Marxismus so präsent ist.
Diese Mängel können durch die historische Entwicklung locker überwunden werden. Aber die „ideologischen Wächter” aus allen Lagern oder deren Untergruppen haben immer versucht, den spontanen und bereichernden Charakter dieser Vermischung von Ideen zu leugnen und diejenigen, die sie verteidigen, schlechtzumachen. Bei der plattformistischen Strömung ist das Problem noch größer, weil sie Bakunin nicht als Vertreter eines „reinen“ Anarchismus sieht, sondern als jemanden, der Elemente des Marxismus mit denen von Proudhon verbindet. Das ist keineswegs eine Erfindung, sondern etwas ganz Explizites. Ebenso wenig ist es eine Erfindung, dass Marx auch von antistaatlichen Strömungen beeinflusst war und bereits in seiner Jugend antibürokratische Positionen entwickelt hatte10. Eine andere Sache ist, dass es in beiden theoretischen Fällen ungelöste Widersprüche gibt, die es den „ideologischen Wächtern” ermöglicht haben, die Unstimmigkeiten, Spannungen und gegenseitigen Kritiken in die bekannten antagonistischen Fetische des „idealistischen Bakunin” und des „autoritären Marx” umzuwandeln, die dann als Maßstab für die Diskriminierung ihrer Anhänger*innen verwendet wurden, in einem Verhalten, das alles andere als förderlich für den Aufbau der proletarischen Einheit war und viel mehr sektiererisch als aufklärerisch war.
Die Versuche, die „revolutionäre Reinheit“ der Theorie durch „Nicht-Kontamination“ mit Ideen von außen zu bewahren, führen uns zurück zu einer Situation politischer Schwäche und einer quasi-mythologischen Denkweise. Danach bestimmen Ideen und nicht die lebendige Tätigkeit den revolutionären Charakter der proletarischen Bewegung oder ihrer Organisationen – eine Auffassung, vor der Bakunin eindringlich gewarnt hatte, da er gerade in der politischen Praxis der Marxisten eine solche Inkohärenz sah. Die Reinheit des Denkens, wie auch immer man sie versteht, löst keine praktischen Probleme und ist auch kein Kriterium für die Bewertung der Richtigkeit des Denkens, außer in der religiösen Denkweise. In letzterer ist das Kriterium der Wahrheit nicht die Praxis, sondern eine bestimmte Orthodoxie, gegenüber der Abweichungen als „Heterodoxien”, als Gegenbehauptungen erscheinen, die sie in die Kategorie „Sünde” verweist, während die orthodoxen Postulate mit „Reinheit” oder „Gut” gleichgesetzt werden.
All das mag wie völliger Unsinn klingen, und das ist es auch. Es sind Ausdrücke eines entfremdeten Denkens, das sich autonomen politischen Interessen unterordnet, also Parteiinteressen und nicht Klasseninteressen. Die „Verunreinigung” war schon immer eine Folge davon, dass die verschiedenen revolutionären Strömungen Teil derselben allgemeinen sozialen Bewegung sind. Die „Kontamination“ selbst steht nicht für den Wunsch nach intellektuellem Eklektizismus, sondern für die Bedürfnisse der Masse, die sich den Lehren aus einer praktischen Perspektive nähert und daher natürlich dazu neigt, sie zu verschmelzen. Sicherlich kann diese Verschmelzung progressiv oder regressiv sein, aber diejenigen, die dieses Phänomen ausnahmslos als regressiv bezeichnen, zeichnen sich in der Regel nicht gerade durch eine ernsthafte historisch-praktische Analyse aus und vertreten darüber hinaus oft konservative Standpunkte, die den heutigen Bemühungen um eine Aktualisierung der revolutionären Praxis auf theoretischer und praktischer Ebene entgegenstehen. Kurz gesagt, die revolutionäre Theorie kann ihre revolutionäre Wirksamkeit nur bewahren, wenn sie sich mit den praktischen Bemühungen um die Entwicklung der revolutionären Praxis im gegebenen historischen Kontext verbindet; puristische Bemühungen behindern diesen Prozess und damit die historische Reifung sowohl des Denkens als auch des Handelns.
Ich selbst habe es vorgezogen, mich als Kommunist und nicht als Anarchist zu bezeichnen, weil ich den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit auf der ökonomischen Ebene als die primäre Form des spontanen Antagonismus betrachte, der einen revolutionären Prozess auf massiver Ebene vorantreiben kann. Ebenso habe ich mich auf den Rätekommunismus bezogen, weil ich der Meinung bin, dass er das fortschrittlichste theoretische Verständnis der wichtigsten Probleme darstellt, mit denen wir heute konfrontiert sind. Aber davon abgesehen bin ich nie von einer doktrinären Einheit ausgegangen und habe auch nie gedacht, dass es progressiv wäre, diese zu verteidigen. Ich finde, dass es ein sektiererischer Fehler ist, den Plattformismus dafür zu kritisieren, dass er marxistische Ideen enthält – oder besser gesagt, dass er sie explizit macht –, und dass die Diskussion auf die leninistischen oder sozialdemokratischen Züge dieser Ideen ausgerichtet werden muss. Es scheint auch nicht richtig, Bakunins Argumente gegen Marx‘ Thesen zu benutzen, um sich diesen Einbeziehungen zu widersetzen, ohne gleichzeitig eine kritische Neubetrachtung zu versuchen, vor allem wenn man, wie Patrick, an anderer Stelle auf den fragmentarischen und sogar „verwirrenden“ Charakter von Bakunins Theorien verweist, um die plattformistische Konzeption der „anarchistischen Partei“ zu widerlegen.
In den drei Artikeln, auf die ich mich beziehe (Patrick, Barret, Rodríguez), gibt es auch keinen Versuch, die ursprünglichen Thesen von Marx von den leninistischen Interpretationen zu unterscheiden. Dies wäre ohne Weiteres möglich, indem man sich auf die nicht-leninistischen revolutionären Marxisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stützt, ganz zu schweigen von Vorläufern wie dem Briten William Morris. Das würde es ermöglichen, einen Weg jenseits des Reduktionismus und der Einseitigkeiten der leninistischen „Orthodoxie” zu finden. Ich vermute, dass das Problem hier in einem Mangel an Interesse liegt. Man denkt immer noch, dass „Marxismus” nichts für Anarchist*innen ist, außer wenn er ihr „Revier” bedroht (und das tun die meisten Marxist*innen auch). Da aber der Leninismus eine dominierende Rolle in der extremen Linken hatte und bis zu einem gewissen Grad immer noch hat, ist es nicht mehr nur eine Frage von Intellektuellen oder Sekten, die revolutionären Theorien von Marx von späteren ideologischen Verzerrungen zu befreien und ihre wahre Bedeutung und Absicht zu klären: Es wird zu einer gemeinsamen politischen Aufgabe aller, die für die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse kämpfen. Im Fall des Plattformismus erfordert seine Überwindung eine Vertiefung der Widersprüche, die seine politische Praxis aufweist, nicht nur durch den Vergleich mit anderen Konzepten der anarchistischen Praxis, sondern auch durch den Vergleich der marxistischen Elemente, die er aufweisen kann, mit der antileninistischen revolutionären Interpretation des Marxismus. Dies wird viele Punkte klarer machen und günstigere Bedingungen für eine fruchtbare Diskussion schaffen.
III
Da der Leninismus die Kategorien von Marx nicht nur verfälscht, sondern vielmehr verzerrt, hat der Neoplattformismus von ihm eine progressive Seite geerbt, die anderen Strömungen des Anarchismus fehlt und die möglicherweise die Hauptquelle seiner Anziehungskraft ist. Genauer gesagt, verbindet er aktiv progressive Elemente des Marxismus und des Anarchismus auf eine kohärentere Weise als der vorherrschende Anarchismus, der die ersteren ablehnt oder an den Rand drängt. Die Bekräftigung des Klassenkampfs, des historischen Materialismus, der Organisation und der Einheit der Klasse ist eine progressive Haltung, weil es sich dabei um Werte handelt11, die mit der allgemeinen Niederlage der 70er Jahre in eine Krise geraten sind und in der postmodernen Flut verwässert wurden – auch wenn einige „Klugscheißer”, die die Realität mit Büchern verwechseln, meinen, dass dies nie passiert ist, weshalb sie glauben machen wollen, dass der Neoplatformismus in einer „jugendlichen” Unreife begründet sei oder darin verwurzelt sei (was uns interessanterweise zu Lenins These von der „Kinderkrankheit” zurückführt und sie wieder als analytisches Kriterium einführt). In diesem Sinne weist Gustavo Rodríguez
„wir in Lateinamerika mit einer im Wesentlichen jugendlichen anarchistischen „Bewegung” konfrontiert sind, der ein Organisations- und Aktionsmodell fehlt und die von oben bis unten von einer gewissen ideologischen Verwirrung durchzogen ist; oder besser gesagt, deren ideologische Ausarbeitung unseren aktuellen Bedürfnissen erheblich hinterherhinkt”.
Ähnliches gilt, wenn er von Naivität spricht12. Die Kernpunkte seiner Kritik am Neoplatformismus, wenn er von „Irrwegen“ und „Denkabweichungen“ spricht, weisen auf dieselbe Logik hin, die Lenins berühmtem Pamphlet zugrunde lag. Für diejenigen von uns, die die Notwendigkeit einer dauerhaften revolutionären Neuformierung sehen und die aktuellen revolutionären Gruppen als ultraminoritäre oder splittergruppeartig und verstreut betrachten (wobei wir ideologische Fiktionen oder „fiktive Bewegungen“ nicht mit der realen historischen Praxis verwechseln), fällt es schwer, nicht zu sehen, dass die klassischen Fragen, auf denen der Neoplatformismus gegründet ist, grundlegende Fragen der revolutionären Praxis sind, auf die der Rest des Anarchismus keine zufriedenstellenden Antworten gefunden hat. Außerdem hat er die Abkehr vom Marxismus im Allgemeinen und sogar eine Abneigung gegen ihn gefördert, was dazu beiträgt, den Fortschritt hin zu besseren Lösungen zu hemmen. Natürlich kann nichts davon mit abstrakten Erklärungen über die Notwendigkeit neuer Organisations- und Aktionsformen gelöst werden, die nicht über Debattenabsichten und Apologien für noch unausgereifte Formeln hinausgehen, wie es Gustavo tut.
Was die Naivität angeht, so kann diese durchaus ein höherer Ausdruck revolutionärer Aufrichtigkeit sein. Beides kann gleichzeitig wahr sein. Und wenn ich zwischen fehlgeleiteten Naiven und „vulgären“ Verkäufern mit dem Duft der Tradition wählen muss, dann ziehe ich die Ersteren vor, weil sie zumindest eine lebendige Bewegung repräsentieren.
Es wäre wichtig, dass die zitierten Autoren dies politisch klarer zum Ausdruck bringen. Eine progressive Tradition ist einer regressiven vorzuziehen, und in diesem Sinne habe ich keinen Zweifel daran, dass der Plattformismus theoretisch regressiv gegenüber dem traditionellen Anarchismus und seinem umfassenden („synthetischen“) Ansatz ist, den er als reaktionär und falsch bezeichnet. Aber ich denke auch, dass eine progressive Naivität, umhüllt von einer regressiven Tradition, jedem Traditionalismus vorzuziehen ist, der per Definition konservativ ist, auch wenn er relativ gesehen vorübergehend dazu dienen kann, verlorene oder marginalisierte Lehren und Theorien wiederzubeleben.
Die echten Neoplattformisten, also diejenigen, die aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte heraus und nicht aus reaktionären Gründen – aus Verzweiflung über das Scheitern des traditionellen Anarchismus und ganz allgemein über die historische Niederlage der alten Arbeiterbewegung – zum Plattformismus gekommen sind, haben Recht, wenn sie nach einem präzisen sozialen Ansatz, einer theoretischen Methode und einer Organisationsform suchen und fordern.
Sogar die Aufständischen, die vielleicht bisher die politisch fortschrittlichste Strömung des Anarchismus waren (trotz schwerwiegender Einseitigkeiten), gingen in die gleiche Richtung, wenn auch offensichtlich mit einer Geringschätzung des methodologischen Elements. Sie bestanden auch auf der Klassenperspektive, wenn auch nicht in fetischistischer Form, und entwickelten ihre eigenen organisatorischen Positionen, wobei sie die „Informalität” betonten. Der Rest des Anarchismus ist dagegen in einer Art Stillstand geblieben (oder in postmoderne Zersetzungsprozesse abgeglitten), was sich durch seinen praktischen Charakter als reformistische Bewegung erklärt, die zwar Freiheitsbestrebungen zum Ausdruck bringt, aber keine Notwendigkeit für einen revolutionären Kampf im Hier und Jetzt sieht und diesen als „Utopie” von morgen betrachtet.
Was die Lösungen für die drei genannten grundlegenden Probleme angeht, ist Patricks Artikel als kritisches historisches Material echt gut, aber er bringt keine aktuellen Lösungen. Es fehlt ein Versuch, Kritik mit positiver Kreativität zu verbinden. Andernfalls wird – absichtlich oder unabsichtlich – der Eindruck erweckt, dass traditionelle Schemata oder prekäre Formeln, die sich in der Gegenwart empirisch herausgebildet haben, weiterhin eine ausreichende Grundlage für den aktuellen Fortschritt sind oder bleiben: sei es das iberische Modell CNT-FAI oder das argentinische FORA oder andere, in der historischen Erfahrung weniger konsistente Modelle als Generatoren oder Träger von Massenbewegungen wie Koordinationen, Netzwerke, „Black Blocks“ usw. Gustavo Rodríguez beispielsweise bekundet klar seine Ablehnung des Anarchosyndikalismus und des Especifismo und scheint sich für das zweite Modell auszusprechen.
Er hält sich aber nicht damit auf, die enge Verbindung zwischen der historischen Schwäche, der zeitlichen Unsicherheit und der mangelnden Struktur dieses Modells und dem mehr oder weniger kurzlebigen oder sporadischen Kampfziel, für das es konzipiert wurde, zu analysieren.
Natürlich denken „pragmatische“ Menschen immer daran, was sie konkret erreichen wollen. Aber wir können nicht so denken, weil wir das, was wir erreichen wollen, nur in groben Zügen im Voraus festlegen können. Wir können jetzt nicht sagen, welche Gesellschaft wir aufbauen wollen, sie auf ein Rezept oder eine Liste sozialer Maßnahmen reduzieren. Deshalb hat Organisation für uns keinen rein pragmatischen Wert, sondern einen konstituierenden: Sie ermöglicht es, die Zusammenarbeit und die subjektiven Prozesse aufrechtzuerhalten und auszubauen, die konkret die Verwirklichung unserer Ziele bestimmen werden. Allgemeiner gesagt, darf man die weniger dauerhafte und solide Organisation, die einer Phase der Schwäche eigen ist, wie sie heute oft in „Koordinationen” unabhängiger Gruppen oder „Netzwerken” mit unbeständiger einheitlicher Aktivität zum Ausdruck kommt, nicht mit einer Lösung für die gestellten Probleme verwechseln.
Das Gleiche gilt, wenn wir über Fragen des sozialen Ansatzes und der theoretischen Methodik sprechen – kurz gesagt, über die theoretische Weltanschauung.
Die Notwendigkeit einer theoretischen Weltanschauung, die logisch konsistent und auf der Ebene der intellektuellen Kategorien präzise ist, ist kein Luxus. Es geht nicht darum, einen für die Masse schwer verständlichen Jargon zu schaffen. Der einzige Jargon, den die Masse von vornherein versteht, ist die Sprache der Herrschaft, deren Kategorien die antagonistische Artikulation des Denkens ausschließen. Ein sehr offensichtliches und leider immer noch aktuelles Beispiel ist das oberflächliche Verständnis des Problems der proletarischen Befreiung, wenn die Kategorie der Selbstentfremdung fehlt, was zu allen möglichen falschen Vorstellungen darüber führt, warum die proletarische Bewegung so ist, wie sie ist. Dabei lassen sich zwei extreme Fälle unterscheiden:
1) Die formale Freiheit der Individuen, die die reife kapitalistische Gesellschaft kennzeichnet, wird negiert, und die Probleme, die ihren Ursprung innerhalb der Klassenbewegung haben, werden auf autonome äußere Ursachen zurückgeführt (die Macht des Feindes, die Hindernisse und Machenschaften der traditionellen bürokratischen Organisationen usw.).
2) Die Auffassung, dass diese formale individuelle Freiheit nicht nur auf formaler, sondern auch auf effektiver Ebene real ist, was bedeutet, dass das Fehlen einer revolutionären Dynamik oder Radikalisierung nur auf einen Mangel an Willen zurückzuführen ist, der sich durch bloße Unwissenheit oder durch die von den kulturellen Medien des Systems verursachte Desinformation erklären lässt.
Beide Fälle begünstigen zunächst elitäre Praktiken und führen dann, wenn sie scheitern, zu Verzweiflung.
In beiden Fällen wird das radikale Problem, wie es kommt, dass das Proletariat sowohl in der Gesellschaft als auch in seiner eigenen Klassenbewegung von den Produkten seiner Tätigkeit – die zu einer feindlichen Kraft geworden ist, die es beherrscht – beherrscht wird, und wie es kommt, dass die Propaganda die allgemeine Dynamik nur in seltenen Momenten besonderer Konflikte zu verändern vermag, einfach übersehen wird. Und wenn man das nicht versteht, ist es unmöglich zu begreifen, wie man Organisationsformen entwickeln kann, die die Selbstentfremdung überwinden und die Konstituierung der Proletarier*innen als autonome Subjekte ermöglichen, was der Schlüssel zum gesamten revolutionären Prozess und seiner Vorbereitung ist.
IV
Wenn man das radikale Problem so betrachtet, wie ich es beschrieben habe, kann man sagen, dass die plattformistische Antwort falsch ist, aber das gilt auch für die des traditionellen Anarchismus. Der Plattformismus opfert die Freiheit der Effizienz (wie in Fall 1), während der andere die Effizienz der Freiheit opfert (wie in Fall 2). In beiden Fällen gibt’s eine gravierende Einseitigkeit, und dass sie beibehalten wird, liegt nicht an Dummheit, sondern daran, dass es eine reduktionistische Vorstellung von der Macht, gegen die wir kämpfen, und von den menschlichen Bedürfnissen, die der Anfang, das Mittel und das elementare Ziel des Kampfes sind.13
Sowohl Effizienz als auch Freiheit (Freiheit im üblichen und äußeren, willentlichen Sinne, das zu tun, was man will) beziehen sich auf die unmittelbare Gegenwart. Sie beziehen sich auf die Macht, diese Gegenwart zu verändern, sei es durch geplante Mechanismen im Fall der Effizienz oder durch ungeplante Mechanismen im Fall der unmittelbaren Freiheit. Das Problem der revolutionären Praxis besteht aber nicht nur in der Fähigkeit, auf die Gegenwart einzuwirken, sondern auch in ihrer Kontinuität und Ausweitung in die Zukunft. Wichtig ist also nicht die Effizienz (die Fähigkeit, bestimmte Wirkungen in einer bestimmten Zeit zu erzielen), sondern die historische Effektivität (die Erzeugung realer Wirkungen, die die revolutionäre Entwicklung bis zu ihrer vollständigen Reife zu einem unbestimmten Zeitpunkt ermöglichen). Auch die äußere Freiheit, die bis zu einem gewissen Grad in Form von „Rechten” gemessen werden kann, ist an sich nicht entscheidend, sondern die Autonomie, d. h. die Fähigkeit, die eigenen Energien und Ressourcen (einschließlich der äußeren Freiheit) bewusst im Einklang mit dem eigenen Wesen zu nutzen. Diese Autonomie setzt in der Realität die äußere Freiheit voraus, um sich entfalten zu können, ist aber kein Ergebnis ihrer Existenz. Autonomie hat direkt damit zu tun, wie wir uns selbst verstehen, wie wir unsere Bedürfnisse und Fähigkeiten, unsere Natur verstehen; kurz gesagt, sie ist die wirksame Kraft, die die Selbstkonstitution des revolutionären Subjekts ermöglicht, indem sie das Stadium der bloßen negativen Rebellion überwindet und die Erfahrung des passiven und aktiven Antagonismus zur inspirierenden Quelle eines anderen Lebens macht.
Diese Punkte sind zentrale Fragen, die durch konkrete praktische Vorschläge gelöst werden müssen. Aber soweit ich weiß, wurde dieses Problem in der anarchistischen Bewegung im Allgemeinen noch nicht ernsthaft behandelt. Das zeigt sich besonders gut am Thema der Organisationsformen, denn egal ob wir über die Funktionsweise (oder die interne Ordnung) sprechen oder über die Arten von Organisationen nach ihrer internen Form (pyramidenförmig oder vernetzt, starr oder flexibel, Aktivitätsniveaus an der Basis und in den delegativen Strukturen) oder nach ihrer sozialen Funktion (dauerhaft oder temporär, Aktivitätsbereich, Art der Ziele), sind wir nicht über die aufständischen Vorschläge der späten 1970er Jahre hinausgekommen. Andere Erfahrungen wurden gar nicht berücksichtigt, wie die deutschen Arbeiterunionen in den 1920er Jahren, an denen auch Elemente der FAUD (anarchosyndikalistisch) beteiligt waren, wahrscheinlich aufgrund der Fixierung auf die Idee des „revolutionären Syndikalismus” (sic).
Für uns, die wir Kreativität und die Entfaltung transformativer Kräfte als Grundlage jeder revolutionären Praxis verstehen, müssen die Fragen, Kritiken und Antworten, die man dem Neoplatformismus stellen kann, in Richtung einer Befreiung und Weiterentwicklung der darin enthaltenen progressiven Elemente gehen. Dazu muss aber eine Sichtweise entwickelt werden, die über diejenige hinausgeht, die diese Spaltung im Anarchismus verursacht hat und die ihr offenbar innewohnt (das Thema des Konflikts zwischen Effizienz und Freiheit ist hier eindeutig relevant). Ich halte es nicht für angebracht, den Konflikt als einen Antagonismus zwischen verschiedenen Arten von Subjektivität zu analysieren, denn abgesehen von den expliziten „Philo-Leninisten” scheinen mir die neoplatformistischen Gefährt*innen die kommunistisch-anarchistischen Ziele aufrichtig zu wollen. Man kann die Frage nicht mit dem reduktionistischen und abstrakten Schlüssel „Was autoritär ist, ist konterrevolutionär, was antiautoritär ist, ist revolutionär” angehen. Es sind konkrete Vorschläge erforderlich, die die Probleme der Praxis lösen, die dem Wiederauftauchen des Plattformismus zugrunde liegen, und ich glaube nicht, dass diejenigen, die ihn kritisieren, sich darüber große Gedanken machen. Wenn sie meinen, dass es bereits „Lösungen“ für das Problem gibt (theoretische auf der methodologischen Ebene, praktische auf der organisatorischen Ebene und in den Beziehungen zur Masse), müssen sie das konkret begründen. Mir ist kein ernsthafter Ansatz bekannt, der sich aus dem „reinen“ Anarchismus heraus eingehend mit diesen Themen auseinandergesetzt hat, auch nicht nur auf organisatorischer Ebene. Mehr noch, der klassische Rätekommunismus hat einen ähnlichen Mangel, wenn wir uns auf das Konkrete beschränken, denn er enthält höchstens eine Reihe allgemeiner Leitlinien, die, wenn es darauf ankommt, viele Fragen, die im Organisationsleben zu klären sind, nicht klären.14
Zu diesem letzten Punkt möchte ich eine besondere Anmerkung machen. Die revolutionäre Organisation und generell jede nicht entfremdende Organisation muss auf der möglichst umfassenden Beteiligung ihrer Mitglieder basieren. Wie lässt sich das in der Organisationspraxis umsetzen? Meine Bemühungen in dieser Richtung waren anfangs eher formalistisch, was nicht ausreicht. Ich stimme der Idee zu, von den Mitgliedern ein gewisses Maß an Engagement für das Organisationsleben zu verlangen, das natürlich von ihrer Selbstbestimmung bei ihrem Eintritt in die Organisation ausgehen muss. Das heißt, sie sind da, um an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten, nicht um es utilitaristisch zu nutzen oder Bedürfnisse nach Identität und Zugehörigkeit zu befriedigen. Der Punkt ist, dass das revolutionäre Projekt im Wesentlichen ein Projekt der Selbstbefreiung ist. Das Konzept der Selbstbefreiung als Darstellung eines Prozesses synthetisiert die Einheit von Prinzipien-Mitteln-Zielen auf ganzheitliche Weise zusammen. Und es gibt keine Selbstbefreiung des Individuums durch kollektive Zwänge, aber auch keine ohne kollektive Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele; ebenso wenig gibt es kollektive Selbstbefreiung ohne die Selbstentwicklung der Individuen, die sie für kollektive Aufgaben befähigt, nämlich die Aufgaben der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft mit ihren eigenen Händen und Köpfen, nicht die Aufgaben, an Vollversammlungen teilzunehmen, Beschlüsse zu verabschieden und Flugblätter zu verteilen usw. Negativ betrachtet ist das Fehlen einer engagierten und bewussten Beteiligung die letzte Ursache für das Entstehen von Hierarchien, für die Bürokratisierung und damit für die Schwächung der Organisation in quantitativer und qualitativer Hinsicht, was schließlich zu dem führt, was wir nur allzu gut kennen: reformistische bürokratische Organisationen, die im gesetzlichen Rahmen des Systems integriert sind.
In diesem praktischen Rahmen muss die kontroverse Frage der „kollektiven Verantwortung” geklärt werden. Für mich ist Verantwortung, wie für Malatesta, immer individuell. Das heißt aber nicht, dass nicht jedes Individuum gegenüber den anderen verantwortlich ist, nicht nur für die gemeinsam beschlossenen oder von ihm selbst eingegangenen Aktionen, sondern auch, innerhalb bestimmter Parameter der Kohärenz, für das Projekt, an dessen Entwicklung er beteiligt ist. Diese Parameter können in grundlegenden Leitlinien und in Kriterien für den Spielraum der Mitglieder festgelegt werden, um eigenständig zu handeln, ohne die Ziele der Organisation zu gefährden. Sicherlich kann jede Abgrenzung in diesem Sinne zu Spaltungen führen, deshalb darf sie nicht „totalitär” sein und auch nicht zu einer künstlichen Disziplinierung der Individuen werden. Aber es ergibt auch keinen Sinn, Spaltungen zum Nachteil des Mehrheitswillens zu vermeiden und einen erzwungenen Konsens anzustreben, der Untätigkeit, die inkonsequente Aktion oder die Konzentration auf Fraktionskämpfe begünstigt. Diese Ergebnisse sind noch weniger libertär als die Festlegung kollektiver Normen.
Daher muss es eine Form der kollektiven Verantwortung geben, die jedoch nicht autonomisiert und als Eigentum der Organisation und ihrer Strukturen (Basis- oder Delegationsstrukturen) verdinglicht wird, die dadurch zu unpersönlichen Verwahrern der tatsächlichen Macht der einzelnen Mitglieder werden. Kollektive Verantwortung muss eine Folge der kollektiven Verpflichtung zur Zusammenarbeit sein, als demokratische Summe individueller Verantwortlichkeiten, die zur Verteidigung ihrer Ziele das Recht haben, sich in der kollektiven Identität zu projizieren und die notwendigen und kohärenten Maßnahmen zu ergreifen, um Abweichungen zu vermeiden, und von jedem Individuum ein Mindestmaß an Kohärenz und Verantwortung sowohl innerhalb als auch außerhalb der organisierten Aktivität zu verlangen. Dazu gehört für mich auch, dass jedes Mitglied das Recht hat, von anderen – und nicht nur von denen, die bestimmte Aufgaben haben – Erklärungen zu verlangen, die als Verstoß gegen die kollektive Verpflichtung angesehen werden können. Eine andere Sache ist, dass es nicht sinnvoll ist, künstliche Disziplinierungsmechanismen einzuführen oder Belästigungen in diesem Sinne zuzulassen. Aber natürlich muss jemand, der wiederholt gegen die eingegangenen Verpflichtungen verstößt, einer kollektiven Überprüfung unterzogen werden. Es können Grenzen festgelegt werden, die als unerlässlich angesehen werden, um zu bestimmen, wann kollektiv eingegriffen werden muss, zunächst mit Verwarnungen und dann, falls erforderlich, mit Sanktionen oder sogar dem Ausschluss. Es ist klar, dass der Versuch, Probleme, die in entfremdeter Subjektivität verwurzelt sind, durch strenge Formalitäten und ein rigides Disziplinarsystem zu lösen, bitter scheitern wird, wenn es um die Expansion der Organisation geht, oder dass nur nicht-revolutionäre Individuen bereit sein werden, Mitglied zu werden. Aber wie man am Beispiel der Aufständischen sehen kann, ist übermäßige Informalität genauso schädlich wie übertriebener Formalismus. Im Allgemeinen sind sowohl Autoritarismus als auch liberale Permissivität nur zwei gegensätzliche Pole der Selbstentfremdung.
Natürlich ist jedes Recht eine Konvention, eine gewisse Willkür, aber es ist nicht weniger wahr, dass die Demokratie und ihr Rechtssystem Ausdruck der Auflösung der menschlichen Gemeinschaft in einer in Klassen geteilten und im Kapitalismus stark individuell atomisierten Gesellschaft sind. Da wir von dieser Grundlage ausgehen, müssen wir die Demokratie und bestimmte Regeln als normales Verfahren zur Entscheidungsfindung und Organisation von Aktivitäten akzeptieren, auch wenn wir verstehen, dass Mehrheitsregeln willkürlich sind – allerdings ist es nicht weniger willkürlich, Konsens zur Regel zu machen. Andernfalls hätten wir keinen Fortschritt in Richtung kommunistischer Anarchie, sondern einen Rückschritt in die kapitalistische Anarchie der Privatpersonen.
Die einzige Lösung für das Problem der organisatorischen Freiheit besteht in einem Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Bewegungsfreiheit und Verpflichtung zur Teilnahme, zwischen Zusammenarbeit und individueller Selbstverwirklichung. „Keine Pflichten ohne Rechte, keine Rechte ohne Pflichten“ (AIT). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Organisation notwendig ist, die in ihren Grundsätzen streng und eindeutig ist, die ihren Mitgliedern Pflichten auferlegt, aber gleichzeitig in ihrer täglichen Arbeit flexibel und offen ist, was Freiheit schafft. Diese Art von Organisation verlangt jedoch viel mehr von den Individuum als frühere Formen; sie verlangt ihr ständiges Engagement in der praktischen Arbeit und in ihrer Selbstentwicklung als bewusste Subjekte. Sie stellt eine höhere Stufe proletarischer Selbstaktivität dar als die traditionellen Formen. Die Organisation selbst muss die Selbstentwicklung ihrer Mitglieder als autonome Subjekte als grundlegendes Ziel übernehmen und sich nicht als bloßes „Kampfmittel” verstehen. Sie kann sich daher nicht durch Zwänge jeglicher Art entwickeln, sondern muss, wie in ihren historischen Vorläuferformen, aus dem Bewusstsein der Proletarier*innen für die Notwendigkeit der Beteiligung und Selbstbestimmung hervorgehen, sodass die objektive Form der Organisation ihr Gegenstück in der Subjektivität findet.
Dies führt uns wiederum zu einem Mangel in der Vision der revolutionären Transformation der Gesellschaft, der für die bourgoise revolutionäre Epoche charakteristisch ist. Die revolutionäre Transformation wird immer noch als ein Prozess betrachtet, der sich vorwiegend auf der Ebene der sozialen Struktur als solcher, außerhalb der Subjektivität ihrer Akteure, gründet oder entwickelt. Dies setzt eine Trennung von Transformation und Selbsttransformation voraus und reduziert die Entwicklung des revolutionären Bewusstseins auf einen Prozess der Assimilation oder Ausarbeitung von Ideen, ohne die gesamte Psychologie, d. h. die Konstitution der Subjektivität, oder das „private” und alltägliche Leben, das gewöhnliche Verhalten der Individuen, zu beeinflussen. Der vorherrschende Anarchismus hat dazu wenig zu sagen, außer das zu wiederholen, was schon seit über einem Jahrhundert gesagt wird. Die libertäre Ethik, die ihn immer geprägt hat, kann dazu wenig beitragen.
V
Wie ich bereits gesagt habe, habe ich im vorherrschenden Anarchismus keine zufriedenstellenden Antworten auf die grundlegenden Probleme gefunden, mit denen wir in der heutigen Zeit konfrontiert sind, weshalb ich bezweifle, dass die neoplatformistischen Gefährten dazu in der Lage sind. Ihr Lehrgebäude und ihre organisierten praktischen Dynamiken sind nicht gerade förderlich für die Lösung des Problems. Ihre Anhänger scheinen sich mit dieser Frage gar nicht auseinanderzusetzen, und der bekannte Fetischismus der Vollversammlungen und des Spontaneismus hat trotz tausender Fehlschläge als organisatorische Grundlage des sozialen Kampfes weiterhin freie Bahn. Ganz zu schweigen davon, dass sie keineswegs alle Übel verhindern konnten, gegen die ihre organisatorischen Formulierungen gerichtet waren (Hierarchien, Bürokratie, Manipulationen durch Minderheiten, Sektierertum…).
Auch in Bezug auf gewerkschaftliche/syndikalistische oder parteiische Organisationsformen gibt es im Anarchismus keine wirklichen Lösungen. Der Aufständische Anarchismus (Insurrektionalismus) hat diesbezüglich einiges angeregt, auch mit einem gewissen Einfluss des Rätekommunismus, blieb aber meiner Meinung nach hinter dem klassischen Rätekommunismus zurück. Das Modell der Arbeiterunion war ein Referenzbeispiel, das veranschaulichte, was unter Überwindung des Syndikalismus verstanden wurde. Das insurrektionalistische Konzept des „autonomen Kerns” ist sehr abstrakt und erschien in seinen Formulierungen der 1970er Jahre funktional aus der Sicht der anarchistischen Minderheit als eine Art Transmissionsriemen. Trotz der ganzen Kritik an der „Partei”-Idee der Plattformisten haben der traditionelle Anarchismus und seine postmodernen Ableger die Parteiform nie wirklich überwunden, sondern nur den Namen geändert oder eine nihilistische Haltung eingenommen. Der einzige Unterschied zwischen anarchistischen Affinitätsgruppen und einer explizit konstituierten politischen Partei besteht darin, dass erstere keine Disziplinierungsmechanismen haben und einen höheren Grad an Heterogenität aufweisen können, während die explizite Partei über solche Mechanismen verfügt und sie einsetzt, um Heterogenität zu reduzieren. Aber in beiden Fällen ist die gemeinsame Ideologie die Grundlage der Organisation, die in Affinitätsgruppen nur ein Credo sein kann, während in der Partei ein Mindestmaß an programmatischer Entwicklung und damit eine gewisse explizite Ausarbeitung des kollektiven Bewusstseins erforderlich ist. Affinitätsgruppen sind historisch gesehen eine unterentwickelte Parteiform, auf halbem Weg zwischen den Sekten des 19. Jahrhunderts und den modernen Parteien. Ihre libertäre Ideologie ändert nichts an diesen Merkmalen. Der Plattformismus stellt in diesem Rahmen lediglich eine Reifung dieser widersprüchlichen Realität dar. Um ein relevantes Beispiel zu nennen: Die Iberische Anarchistische Föderation (FAI) entwickelte angesichts der Kriegs- und Revolutionssituation 1936-39, ganz klar ohne Einfluss der „Plattform”, Positionen, die in die gleiche Richtung gingen wie diese, auch wenn das Modell der FAI eher dem einer „Massenpartei” als dem einer „Avantgardepartei” entsprach – oder zumindest etwas dazwischen lag. Es ist auch völlig richtig, dass die Konzeption der Allianz für Sozialistische Demokratie von Bakunin in diesen Entwicklungen einen kohärenten Ausdruck findet (was nicht heißt, dass sie die kohärenteste ist, wenn man die erklärten Ziele berücksichtigt). All dies im Namen der Ungereimtheiten in Bakunins Schriften zu leugnen, wie Patrick es andeutet, scheint mir eine völlig inkonsequente Ausrede zu sein. Ebenso scheint mir die Ersetzung dieser Entwicklung durch eine Rückkehr zur Zersplitterung in kleine Affinitätsgruppen, die sich sporadisch koordinieren und strukturell nicht in der Lage sind, einen präzisen soziopolitischen und intellektuellen Bezugspunkt innerhalb des Klassenkampfs zu bilden, eine völlig falsche Lösung, die mich an das Thema der sektiererischen Rückentwicklung erinnert, das Marx und Engels gegen Bakunin behandelt haben:
„Die erste Phase in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist durch die Sektenbewegung bezeichnet. Diese ist berechtigt zu einer Zeit, in der das Proletariat sich noch nicht hinreichend entwickelt hat, um als Klasse zu handeln. Vereinzelte Denker unterwerfen die sozialen Gegensätze einer Kritik und geben zugleich eine phantastische Lösung derselben, welche die Masse der Arbeiter nur anzunehmen, zu verbreiten und praktisch ins Werk zu setzen braucht. (…) Die Sekten, im Anfange Hebel der Bewegung, werden ein Hindernis, sowie diese sie überholt; sie werden dann reaktionär (…) KKurz, sie stellen die Kindheit der Proletarierbewegung dar, wie die Astrologie und Alchimie die Kindheit der Wissenschaft. Damit die Gründung der Internationalen zur Möglichkeit wurde, mußte das Proletariat diese Entwicklungsstufe überschritten haben.“15
Sekten werden nicht durch ihre Größe definiert, sondern durch ihre Beziehungen zur proletarischen Bewegung. Aus dieser Sicht sind die meisten heutigen Affinitätsgruppen und Mikroparteien (ob sie sich nun als anarchistisch, marxistisch oder anders bezeichnen) nichts anderes als Sekten. Ihre Existenz am Rande der sozialen Kämpfe bedeutet zwar, dass sie das antikapitalistische Bewusstsein keimen lassen können, aber sie sind nicht in der Lage, zur Entwicklung einer konkreten globalen Alternative beizutragen16. Außerdem geht es heute nicht mehr um die Fähigkeit des Proletariats, als Klasse zu handeln, sondern darum, diese Fähigkeit in einem Ausmaß zu entwickeln, das ausreicht, um dem höchsten Entwicklungsstand der kapitalistischen Herrschaft – dem globalen Fabrik-Staat17 – die Stirn zu bieten und die ebenso weit verbreitete Selbstentfremdung zu überwinden, die die Gesellschaft des Spektakels in ihrer letzten Phase kennzeichnet (die traumhafte Existenz, die Verwirrung zwischen dem realen und dem virtuellen Leben). Da die Sekten angesichts dieser historisch-materiellen Anforderungen machtlos sind, weil alles, was getan werden kann, um aus der Dynamik der permanenten Niederlage herauszukommen, sofort von einem historisch-materialistischen Verständnis der sozialen Gesamtheit ausgehen und sich auf die massive proletarische Bewegung beziehen muss, ist die Existenz der Sekten reaktionär und kann nichts Bedeutendes mehr beitragen. Diese Rolle können heute höchstens aufstrebende Bewegungen übernehmen, die noch moderne-traditionelle Formen annehmen, aber gleichzeitig von einer Dynamik der Klassenkonfrontation dazu getrieben werden, diese im Laufe ihrer Entwicklung zu überwinden und die radikale und totale Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen.
Sektiererische Formen sind also eine Sackgasse, genauso wie starre Parteien oder Gewerkschaften/Syndikate und jede Form, die die intellektuelle und manuelle Arbeitsteilung reproduziert. Die Situation erfordert einen entschlossenen und kreativen Blick in die Zukunft, ohne Angst davor, Lösungen vorzuschlagen, die zwar jetzt noch unrealistisch erscheinen mögen, aber die es ermöglichen, Vorschläge zu entwickeln, die durch historische Versuche und in den Händen der proletarischen Klasse entscheidend zur Lösung der vor uns liegenden historischen Probleme beitragen werden.
Der historische Scheideweg, an dem wir stehen, verlangt von uns ein komplexeres Verständnis der Gesellschaft, des Lebens, der Kampfbewegung und der sozio-historischen Transformationsprozesse. Solange das nicht angegangen wird, wird die revolutionäre Bewegung zersplittert und unterentwickelt bleiben oder auf halbem Weg degenerieren, wobei ihr ursprünglicher Geist zugunsten der entfremdenden Dynamiken, die in der heutigen Gesellschaft entstehen und im Alltag der Menschen ständig wiederbelebt werden, erlischt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Neoplatformismus nur durch eine komplexere und tiefgreifendere Entwicklung des revolutionären Denkens überwunden werden kann, und ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass diejenigen, die sich dem Neoplatformismus aus traditionalistischen oder postmodernen Positionen heraus widersetzen, bessere Chancen haben, dieses Ziel zu erreichen, als die aktuellen Neoplatformisten selbst. Nur der Fortschritt hin zu echter Freiheit, hin zu einem konkreten Bewusstsein, wie wir uns vom Kapitalismus befreien können, wird es uns ermöglichen, das revolutionäre Projekt im 21. Jahrhundert zu verwirklichen.
Zusammenfassung des Textes von Ricardo Fuego
Hier bringe ich meine Kritik an dem, was ich als den aktuellen Ansatz des revolutionären Anarchismus in grundlegenden Fragen betrachte, auf den Punkt.
1. Organisationen anhand der doktrinären Herkunft ihrer programmatischen Ansätze zu bewerten und nicht anhand ihrer konkreten Praxis in einem bestimmten sozio-historischen Kontext. Der progressive oder regressive Charakter von Gruppen, die sich als revolutionär bezeichnen, kann nicht nur anhand ihrer Nähe oder Zugehörigkeit zu dieser oder jener historischen Strömung bewertet werden, sondern anhand ihres konkreten Beitrags zur autonomen Entwicklung der Klassenbewegung.
2. Die Daseinsberechtigung bestimmter Organisationen in der Hartnäckigkeit bestimmter „falscher” Ideen zu suchen, die es zu widerlegen gilt. Auch hier wird wieder der Blick von den materiellen und subjektiven Bedingungen abgelenkt, die eine gewisse Hegemonie von Ideen und Praxisformen ermöglichen. Wenn plattformistische Ideen unter den Ausgebeuteten noch Einfluss haben, dann nicht, weil sie die „wahren Ideen” nicht kennen oder weil die Kritik der libertären Bewegung am Plattformismus nicht richtig ist, sondern weil die plattformistischen Ideen der aktuellen historischen Entwicklung einiger Teile der Ausgebeuteten entsprechen.
3. Es ist nicht so, dass neue Ideen => neues Bewusstsein => neue Praxis sind. Unser Bewusstsein wird im Wesentlichen durch unsere Erfahrung und unsere Fähigkeit, sie wahrzunehmen (Sensibilität), bestimmt, und daher ist es ganz natürlich, dass wir Ideen übernehmen, die unser Erfahrungsbewusstsein mental ausdrücken (und dass unser Geist daher für einige Ideen „durchlässiger” ist als für andere). Das heißt nicht, dass die Debatte und die Verbreitung von Ideen nutzlos sind oder keinen Einfluss auf das Bewusstsein haben, sondern nur, dass ihre Wirkung davon abhängt, ob sie eine vernünftige Form bieten, in der die Menschen ihre neuen Erfahrungen ausdrücken können – Erfahrungen, die mit alten Ideen nicht oder nur widersprüchlich ausgedrückt werden können18.
4. Die Opposition Marxismus/Anarchismus und das reaktionäre Konzept der „Kontamination”. Wenn es darum geht, eine revolutionäre Bewegung aufzubauen, kann dies nicht aus der Perspektive einer Gruppe oder Partei (im Sinne einer historischen Strömung) geschehen, sondern aus der Perspektive der Klasse. Die historische Erfahrung der radikalen proletarischen Praxis – also die Erfahrung ihrer Niederlagen – hat gezeigt, dass keine der beiden Strömungen „aus sich selbst heraus“ ausreicht. Im Gegenteil, sie hat die gravierenden Grenzen beider Strömungen aufgezeigt, wenn es darum geht, sich einem Kapitalismus zu stellen, der viel reifer ist als der, in dem sie entstanden sind. Wenn Parteipolitik ein Hindernis für den Aufbau einer autonomen Klassenbewegung ist, weil sie dazu neigt, die allgemeine Entwicklung der Bewegung mit dem Kampf um die Vorherrschaft zwischen verschiedenen Strömungen (Parteikampf) gleichzusetzen, dann ist es auch der „Purismus“ , denn indem er die Zerstörung der „Konkurrenz“ in den Vordergrund stellt, folgt er einer selbstreferenziellen und damit konservativen Dynamik, die nicht nur die Selbstkritik, sondern auch die Aktualisierung des revolutionären Denkens behindert.
5. Ein oberflächliches Verständnis des Problems der proletarischen Selbstbefreiung. Wenn man nicht bedenkt, dass die Strukturen, die das Proletariat unterdrücken und bedingen, ein Produkt seiner eigenen entfremdeten Selbsttätigkeit (Selbstentfremdung) sind, erklärt man die aktuelle Situation letztendlich mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten des „Feindes“ oder mit der Dummheit, Feigheit und Unwissenheit der Massen. Beide Interpretationen oder ihre Kombination begünstigen elitäre Ansätze (auch wenn sie formal nicht autoritär sind), die den Prozess der Selbstbefreiung nicht in seiner ganzen notwendigen Komplexität berücksichtigen. Dies hat zwei mögliche Folgen: die Förderung von „Angriffen auf den Feind”, die von der Massenbewegung losgelöst sind und von Spezialistengruppen durchgeführt werden, oder die opportunistische Anpassung an das rückständige Bewusstsein der Massen und die halb bewusste (mit viel Selbsttäuschung) Unterordnung unter die aktuelle reformistische Dynamik.
6. Der Gegensatz von Willensfreiheit und Effizienz. Sowohl Willensfreiheit (tun, was man will) als auch Effizienz (Aktionen dem Erreichen kurzfristiger Ergebnisse unterordnen) sind Begriffe, die auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt sind und daher für die Schaffung einer kohärenten Praxis aus der Gegenwart heraus und mit Blick auf die Zukunft unbrauchbar sind. Der auf Effizienz ausgerichteten Praxis muss eine Praxis gegenüberstehen, die auf historische Wirksamkeit ausgerichtet ist, d. h. darauf, unsere autonomen Fähigkeiten (einschließlich unseres Willens) entsprechend unseren tatsächlichen Bedürfnissen zu entwickeln.
7. Der Gegensatz autoritäre Organisationen/Affinitätsgruppen. In Fortführung der Dichotomie zwischen Effizienz und Willensfreiheit steht einer Organisationsform, die Individuen einer effizienzorientierten Praxis unterordnet, eine Organisationsform gegenüber, die kollektive Interessen dem individuellen Willen unterordnet. Der Organisation als Selbstzweck und den Individuen als Mittel der Organisation steht die Organisation als Mittel zum individuellen Willen gegenüber. Eine Organisation kann nur dann als Mittel zur dauerhaften Zusammenarbeit zwischen Individuen dienen, wenn ein Gleichgewicht zwischen Pflichten und Rechten, zwischen individuellem Willen und dem durch Zusammenarbeit angestrebten kollektiven Ziel besteht. Die Beteiligung des Individuums am Organisationsleben muss ein aktives und bewusstes Engagement für die eigene Selbstentfaltung und gleichzeitig eine Verantwortung für die frei übernommenen kollektiven Ziele sein, nicht ein Mittel zur Befriedigung egoistischer Bedürfnisse. Dies muss in Leitlinien festgehalten werden, die von den Mitgliedern der Organisation freiwillig und bewusst angenommen werden, denn wenn Formalismus zur Entwicklung einer unpersönlichen Macht der Organisation über die Individuen führt, hat Informalismus eine nicht weniger entfremdende Wirkung, da er die Atomisierung der Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft reproduziert.
1Patrick Rossineri, Entre la Plataforma y el Partido: las tendencias autoritarias y el anarquismo. Veröffentlicht in ¡Libertad!, einer Publikation der anarchistischen Gruppe Libertad, Buenos Aires, Ausgaben 45 (November-Dezember 2007) bis 49 (September-Oktober 2008). (A.d.Ü., auch auf unseren Blog ZWISCHEN DER PLATTFORM UND DER PARTEI: DIE AUTORITÄREN TENDENZEN UND DER ANARCHISMUS VON PATRICK ROSSINERI)
2http://www.geocities.com/grupo_libertad – periodico_libertad@yahoo.com.ar
3Ich beziehe mich auf Algunas reflexiones sobre el extravio teórico ideológico en el pensamiento ácrata contemporáneo von Gustavo Rodríguez (Dez. 2007) und auf Los sediciosos despertares de la anarquía von Daniel Barret.
4Siehe: Roi Ferreiro, Contra todos los partidos, por la autoemancipación de la clase, August 2005. (A.d.Ü., auch auf unseren Blog (Roi Ferreiro, CICA) Kritik des Textes „Revolutionärer Anarchismus und die politischen Parteien“, erstellt von der Alianza Comunista Libertaria (26/11/04).
6Genauere Beiträge dazu findest du bei: Cooperación Obreira, Proyecto de programa, 2001-03; Grupo de Comunistas de Consejos de Galiza, La Red de Grupos Obreros (R-GGOO), 2006; R. Ferreiro / R. Fuego, El reagrupamiento revolucionario hoy, 2006. Oder der Propuesta Práctica des Círculo Internacional de Comunistas Antibolcheviques.
Der ganze Artikel „Gegen den politischen Fetischismus“ geht auf allgemeine Fragen ein, die mit der Überwindung des Führungsfetischismus und organisatorischer Formalitäten zu tun haben. Siehe auch die Reihe „Gegen die Demokratie“, in der in einer Diskussion mit der Internationalistischen Kommunistischen Gruppe (IKG-GCI) theoretisch-praktische taktische Fragen behandelt werden (siehe Archiv des CICA, Abschnitt „nuestros textos“). (A.d.Ü., einige der hier erwähnten Texte sind auf unseren Blog zu finden.)
7Im Allgemeinen ist die Lage der französischen Arbeiterklasse, einschließlich der marginalisierten Einwanderersektoren, vergleichsweise besser als beispielsweise im spanischen Staat.
8Einige davon sind nicht aktiv Teil der proletarischen Bewegung und stehen in keinem Zusammenhang mit dem Klassenkampf. Andere unterscheiden sich nur oberflächlich und ihre Praxis entspricht vollständig dem vorherrschenden Modell.
9Damit meine ich den instrumentellen Wert der Theorie, die Theorie als Methodik, die auch keinen direkten Bezug zu den einzelnen Darstellungen hat, für deren Ausarbeitung sie verwendet wurde, da die Schaffung von Darstellungen durch das praktische Bewusstsein bestimmt wird. Was das dargelegte Schema angeht, das von den niederen zu den höheren theoretischen Formen führt, stütze ich mich auf meine Erfahrung und meine Entwicklung, die mich dazu gebracht haben, mich eingehend mit dem Marxschen Denken und seinen späteren kohärenten Weiterentwicklungen auseinanderzusetzen.
10Deshalb hatten seine Argumente für die Kommune als revolutionäre politische Form im Jahr 1871 bereits ihre Vorläufer in Schriften von 1844, was deutlich macht, dass die Marxsche Theorie vom Untergang des Staates kein rhetorisches Mittel war. Um all das zu vertiefen, kann man ein von mir erstelltes Arbeitsheft mit einer umfangreichen Auswahl von Zitaten von Marx und Engels konsultieren: „Eine Revolution gegen den Staat selbst”.
11Wenn ich sage, dass diese Bekräftigung progressiv ist, schlussfolgere ich daraus nicht, dass auch die Art und Weise, wie sie erfolgt, progressiv ist. In vielerlei Hinsicht sind die neoplatformistischen Formulierungen auch eine Neuauflage der linken Weltanschauung der 60er und 70er Jahre, die es zu überwinden gilt.
12„In der ersten Gruppe – die am weitesten vom Leninismus entfernt ist – befinden sich europäische Organisationen wie die italienische Federazione dei Comunisti Anarchici, die Franzosen von Alternative Libertaire, die fast unbekannten Spanier der Organización Anarco Comunista Andaluza, die US-Amerikaner und Kanadier der Norh Eastern Federation of Anarchist Communists (NEFAC), die Engländer der Anarchist Communist Federation (ACF), die Mexikaner der Grupo Socialista Libertario, GSL, und die bereits erwähnten Iren der Workers Solidarity Movement, WSM… Hier muss ich klarstellen, dass ich keine der Gruppen, die diesen ersten „Kreis“ bilden, als infiltriert oder „teuflisch“ inspiriert sehe, sondern einfach als naiv in ihren Formulierungen und von einem Bündnisstreben geleitet, das in einem Zukunftsprojekt nicht wirklich haltbar ist; ich muss aber auch betonen, dass sie das nicht von Kritik befreit. Ihre stillschweigende Ablehnung der Postulate und Prinzipien des anarchistischen Projekts stellt sie ebenfalls in den Bereich der „Abweichungen”. (Gustavo Rodríguez)
13Denn es sind die unerfüllten Bedürfnisse, das Bewusstsein für diese Bedürfnisse und das Bemühen, ihnen eine mögliche Objektivierung oder teilweise Verwirklichung zu geben, die historisch die revolutionäre Subjektivität ausmachen. Ohne dies ist das Reden von sozialen Bedürfnissen als revolutionäres Ziel reine Abstraktion.
14Ich beziehe mich auf die Kritik am Gewerkschaftswesen und an den Parteien. Obwohl sich die klassischen Rätekommunisten auf konkrete Erfahrungen stützten, wie die deutschen Arbeiterverbände und spätere Organisationen (KAUD, GIKH), ließen sie viele Probleme unberücksichtigt, die zu ihrer Zeit nicht aktuell waren, wie zum Beispiel die Frage des militanten Engagements für die Organisation. Natürlich ist eine Organisation, die aus der revolutionären Dynamik heraus entsteht, eine Organisation, die auf bewusster Zusammenarbeit basiert und nicht auf wirtschaftlichen oder ideologischen Bindungen wie Gewerkschaften und Parteien. Heute ist klar, dass die konkrete Form, wie man mit dem Problem des Engagements umgeht, entscheidend ist, denn „direkte Demokratie” ist wenig wert und kann nicht lange bestehen – oder Realität werden –, wenn es keine Mehrheit von Individuen gibt, die ihre Macht direkt und bewusst in allen Bereichen der Organisation ausüben, ohne nur symbolische oder utilitaristische Mitglieder oder passive Teilnehmer von Versammlungen zu sein. ohne eine Mehrheit von Menschen, die ihre Macht direkt und bewusst in allen Bereichen der Organisation ausüben und nicht nur symbolische oder utilitaristische Mitglieder oder passive Teilnehmer von Versammlungen sind, die sich nicht um die Aufgaben und ihre eigene Bildung kümmern und völlig anfällig dafür sind, sich Minderheiten unterzuordnen, denen sie moralische oder intellektuelle Autorität zugestehen.
15Die angeblichen Spaltungen in der Internationale, vertrauliches Rundschreiben des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, 1872.
16In jedem Fall werden unterschiedliche Gründe hervorgehoben. Die Rigidität und Engstirnigkeit des theoretischen Denkens im Allgemeinen, reduktionistische Vorstellungen von der autonomen proletarischen Zusammenarbeit und insbesondere von ihrer internationalen Verknüpfung (lokalistische oder antinationale Positionen), der Anspruch, die Wahrheit über die Prinzipien, das Programm usw. zu besitzen, sind Beispiele dafür, wie sich das sektenartige Phänomen heute manifestiert. Wir müssen uns von der vulgären Vorstellung von Sekte und Sektierertum, wie sie aus dem späten 19. Jahrhundert übernommen wurde, lösen und uns, wenn überhaupt, viel mehr an früheren utopischen und messianischen Sekten orientieren. Ebenso existieren Utopismus und Messianismus weiterhin, und dass sie sich mit pseudowissenschaftlichen Ideologien rechtfertigen oder auf ein unrealistisches Proletariat projiziert werden, ändert nichts an ihrem Charakter. Um dies zu überwinden, muss das Denkmodell der Wissenschaft konsequent zu Ende gedacht werden, in dem Aberglaube, pseudorationale Theorien oder die Verwechslung von Wunsch und Realität keinen Platz haben, in dem empirische Forschung immer die Grundlage bildet und praktische Lösungen für praktische Probleme gesucht werden.
17Siehe das Entwurf eines Programms der Arbeiterkooperation.
18Wenn jemand reformistische Ideen hat, dann nicht, weil er die revolutionären Ideen nicht kennt oder ihre Logik nicht versteht, sondern weil seine Praxis reformistisch ist. Damit revolutionäre Ideen seine praktische Aufmerksamkeit erregen, müssen Widersprüche nicht in seinen Ideen, sondern zwischen seinen Ideen und seinem praktischen Bewusstsein auftauchen. Und das passiert erst, wenn der Mensch neue Erfahrungen macht und diese wahrnimmt, die seine Theorie nicht erklären kann, nicht vorher. Es geht also nicht darum, Ideen gegeneinander auszuspielen, sondern zu versuchen, die Dinge auf dem Gebiet der Erfahrung, der Empfindsamkeit und des Bewusstseins harmonisch voranzubringen. Eine bestimmte Erfahrung führt zu einer bestimmten Empfindsamkeit, die zu einem bestimmten Bewusstsein führt, aber jede entwickelt sich in ihrem eigenen Tempo und kann mit den anderen in Widerspruch geraten. Propaganda und theoretische Debatten sollten darauf abzielen, diese Widersprüche zwischen Erfahrung, Empfinden und Bewusstsein zu klären, denn sonst beschränkt sich alles auf den logischen Gegensatz von Ideen, als ob menschliches Handeln grundsätzlich rational wäre und Theorie die Voraussetzung für Praxis wäre.