(Ante Ciliga) Die Revolte von Kronstadt

Gefunden auf libcom, die Übersetzung ist von uns.


Die Revolte von Kronstadt

Ante Ciliga

Der Briefwechsel zwischen Trotzki und Wendelin Thomas (einem der Anführer der Revolte in der deutschen Marine 1918 und Mitglied des amerikanischen Untersuchungskomitees zu den Moskauer Prozessen) über die historische Bedeutung der Ereignisse in Kronstadt 1921 hat eine breite internationale Diskussion ausgelöst. Das allein zeigt schon, wie wichtig das Thema ist. Andererseits ist es kein Zufall, dass die Revolte in Kronstadt heute so viel Interesse weckt; dass es eine Analogie, ja sogar eine direkte Verbindung zwischen den Ereignissen in Kronstadt vor 17 Jahren und den jüngsten Prozessen in Moskau gibt, ist nur allzu offensichtlich.

Heute erleben wir die Ermordung der Anführer der russischen Revolution; 1921 wurden die Massen, die die Basis der Revolution bildeten, massakriert. Wäre es heute möglich, die Anführer des Oktober zu entehren und zu unterdrücken, ohne dass es auch nur den geringsten Protest aus dem Volk gäbe, wenn diese Anführer nicht bereits mit Waffengewalt die Kronstädter Matrosen und die Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Russland zum Schweigen gebracht hätten?

Trotzkis Antwort an Wendelin Thomas zeigt, dass Trotzki – der zusammen mit Stalin der einzige noch lebende Anführer der Oktoberrevolution ist, der an der Niederschlagung Kronstadts beteiligt war – sich leider immer noch weigert, die Vergangenheit objektiv zu betrachten. Außerdem vergrößert er in seinem Artikel „Zu viel Lärm um Kronstadt“ die Kluft, die er damals zwischen den arbeitenden Massen und sich selbst geschaffen hat; er zögert nicht, diese Männer, deren Bombardierung er 1921 angeordnet hatte, heute als „völlig demoralisierte Elemente, Männer, die elegante weite Hosen trugen und ihre Haare wie Zuhälter frisierten“ zu beschreiben. Nein! Mit Anschuldigungen dieser Art, die nach bürokratischer Arroganz riechen, kann man keinen nützlichen Beitrag zu den Lehren der großen russischen Revolution leisten.

Um den Einfluss Kronstadts auf den Ausgang der Revolution zu beurteilen, muss man alle persönlichen Fragen beiseite lassen und sich auf drei grundlegende Fragen konzentrieren:

(1) Unter welchen allgemeinen Umständen kam es zur Revolte in Kronstadt?

(2) Was waren die Ziele der Bewegung?

(3) Mit welchen Mitteln versuchten die Aufständischen, diese Ziele zu erreichen?

Die Massen und die Bürokratie 1920–1921

Alle sind sich heute einig, dass die russische Revolution im Winter 1920/21 eine extrem kritische Phase durchlief. Der Feldzug gegen Polen war in Warschau mit einer Niederlage geendet, die soziale Revolution im Westen war nicht ausgebrochen, die russische Revolution war isoliert, Hunger und Desorganisation hatten das ganze Land erfasst. Die Gefahr einer bourgeoisen Restauration stand vor der Tür der Revolution. In diesem Moment der Krise stellten die verschiedenen Klassen und Parteien innerhalb des revolutionären Lagers ihre jeweiligen Lösungen zur Bewältigung der Krise vor.

Die Sowjetregierung und die höheren Kreise der Kommunistischen Partei setzten ihre eigene Lösung um, nämlich die Macht der Bürokratie zu stärken. Die Übertragung der Macht an die „Exekutivkomitees“, die bisher bei den Sowjets lag, die Ersetzung der Diktatur der Klasse durch die Diktatur der Partei, die Verlagerung der Autorität sogar innerhalb der Partei von den Mitgliedern auf die Kader, die Ersetzung der Doppelherrschaft der Bürokratie und der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken durch die Alleinherrschaft der Ersteren – all das sollte „die Revolution retten“! In diesem Moment brachte Bucharin sein Plädoyer für einen „proletarischen Bonapartismus“ vor. Indem es sich selbst Beschränkungen auferlege, würde das Proletariat seiner Meinung nach den Kampf gegen die bourgeoise Konterrevolution erleichtern. Hier zeigte sich bereits die enorme quasi-messianische Selbstherrlichkeit der kommunistischen Bürokratie.

Der Neunte und Zehnte Kongress der Kommunistischen Partei sowie das dazwischenliegende Jahr verliefen im Zeichen dieser neuen Politik. Lenin setzte sie rigoros durch, Trotzki lobte sie in den höchsten Tönen. Die Bürokratie verhinderte die bourgeoise Restauration, indem sie den proletarischen Charakter der Revolution beseitigte. Die Bildung der Arbeiteropposition innerhalb der Partei, die nicht nur von der proletarischen Fraktion in der Partei selbst, sondern auch von der großen Masse der unorganisierten Arbeiter unterstützt wurde, der Generalstreik der Arbeiterinnen und Arbeite in Petrograd kurz vor der Revolte in Kronstadt und schließlich der Aufstand selbst – all dies drückte die Bestrebungen der Massen aus, die mehr oder weniger deutlich spürten, dass eine „dritte Partei“ im Begriff war, ihre Errungenschaften zu zerstören. Die Bewegung der armen Bauern unter der Führung von Machno in der Ukraine war das Ergebnis eines ähnlichen Widerstands unter ähnlichen Umständen. Wenn man die Kämpfe von 1920–1921 im Licht des heute verfügbaren historischen Materials betrachtet, fällt auf, dass diese verstreuten Massen, ausgehungert und geschwächt durch die ökonomische Desorganisation, dennoch die Kraft hatten, ihre soziale und politische Position so präzise zu formulieren und sich gleichzeitig gegen die Bürokratie und die Bourgeoisie zu verteidigen.

Wir geben uns nicht wie Trotzki mit einfachen Erklärungen zufrieden, sondern legen den Leserinnen und Lesern die Resolution vor, die als Programm der Kronstädter Bewegung diente. Wir geben sie wegen ihrer großen historischen Bedeutung vollständig wieder. Sie wurde am 28. Februar von den Matrosen des Schlachtschiffs „Petropawlowsk“ angenommen und anschließend von allen Matrosen, Soldaten und Arbeiterinnen und Arbeitern Kronstadts angenommen.

Nachdem sie die von der Generalversammlung der Schiffsbesatzungen entsandten Vertreter über die Lage in Petrograd gehört hat, fasst diese Vollversammlung folgende Beschlüsse:

1. Angesichts der Tatsache, dass die gegenwärtigen Sowjets nicht den Willen der Arbeiter und Bauern zum Ausdruck bringen, müssen unverzüglich Neuwahlen in geheimer Abstimmung stattfinden, mit freier Vorwahlpropaganda für alle Arbeiter und Bauern vor den Wahlen;

2. Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter, Bauern, Anarchisten sowie linke sozialistische Parteien;

3. Versammlungsfreiheit für Gewerkschaften/Syndikate und bäuerliche Assoziationen;

4. Einberufung einer parteiunabhängigen Konferenz der Arbeiter, Soldaten und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Provinz Petrograd bis spätestens 10. März 1921;

5. die Freilassung aller politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien sowie aller Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen der Roten Armee, die im Zusammenhang mit der Arbeiter- und Bauernbewegung inhaftiert sind;

6. die Wahl einer Kommission zur Überprüfung der Fälle derjenigen, die in Gefängnissen und Konzentrationslagern festgehalten werden;

7. Alle „Politodeli“ abzuschaffen, weil keine Partei besondere Privilegien bei der Verbreitung ihrer Ideen haben oder dafür finanzielle Unterstützung von der Regierung bekommen sollte. Stattdessen sollten Bildungs- und Kulturkommissionen eingerichtet werden, die lokal gewählt und von der Regierung finanziert werden;

8. Alle „Zagryaditelniye otryadi“ sofort abzuschaffen;

9. die Angleichung der Rationen aller Arbeiter, mit Ausnahme derjenigen, die in gesundheitsschädlichen Berufen arbeiten;

10. die Abschaffung der kommunistischen Kampfgruppen in allen militärischen Einheiten sowie der verschiedenen kommunistischen Wachmannschaften, die in Fabriken und Betrieben Dienst tun; sollten solche Wachmannschaften oder Kampfgruppen erforderlich sein, können sie aus den Kompanien der militärischen Einheiten und nach dem Ermessen der Arbeiter in Fabriken und Betrieben ausgewählt werden;

11. dass die Bauern das Recht und die Freiheit erhalten, mit dem gesamten Land nach eigenem Gutdünken zu verfahren, sowie das Recht, Vieh zu halten, das sie selbst, d. h. ohne Lohnarbeiter, zu versorgen und zu verwalten haben;

12. Wir bitten alle Militäreinheiten sowie die Gefährten, die Kursanten (Militärakademiker), unseren Beschluss zu unterstützen.

13. Wir fordern, dass alle Beschlüsse in der Presse weit verbreitet werden.

14. Wir fordern die Ernennung eines Wanderbüros zur Kontrolle.

15. Wir fordern, dass die freie handwerkliche Produktion in Eigenarbeit erlaubt wird.

Das sind primitive Formulierungen, zweifellos unzureichend, aber alle vom Geist des Oktobers durchdrungen; und keine Verleumdung der Welt kann den engen Zusammenhang zwischen diesem Beschluss und den Gefühlen, die die Enteignungen von 1917 leiteten, in Zweifel ziehen.

Wie tief die Prinzipien sind, die diese Resolution beleben, zeigt sich daran, dass sie immer noch ziemlich aktuell ist. Man kann sie nämlich genauso gut gegen das Stalin-Regime von 1938 wie gegen das von Lenin im Jahr 1921 verwenden. Mehr noch: Trotzkis Vorwürfe gegen Stalins Regime sind nur eine Wiederholung, wenn auch eine ziemlich zaghafte, der Kronstädter Forderungen. Welches andere sozialistische Programm könnte man übrigens gegen die bürokratische Oligarchie aufstellen als das von Kronstadt und der Arbeiteropposition?

Das Auftauchen dieser Resolution zeigt, wie eng die Bewegungen in Petrograd und Kronstadt miteinander verbunden waren. Trotzkis Versuch, die Arbeiterinnen und Arbeiter von Petrograd gegen die von Kronstadt auszuspielen, um die Legende vom konterrevolutionären Charakter der Kronstädter Bewegung zu bestätigen, fällt auf ihn selbst zurück: 1921 berief sich Trotzki auf die Notwendigkeit, in der sich Lenin befunden habe, um die Unterdrückung der Demokratie in den Sowjets und in der Partei zu rechtfertigen, und beschuldigte die Massen innerhalb und außerhalb der Partei, mit Kronstadt zu sympathisieren. Er gab damit zu, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter von Petrograd und die Opposition, obwohl sie keinen bewaffneten Widerstand geleistet hatten, Kronstadt dennoch ihre Sympathie bekundeten.

Trotzkis spätere Behauptung, der Aufstand sei „durch den Wunsch nach privilegierten Rationen inspiriert“ gewesen, ist noch haarsträubender. Es ist also einer dieser Privilegierten des Kremls, deren Rationen viel besser waren als die der anderen, der es wagt, einen solchen Vorwurf zu erheben, und das ausgerechnet gegenüber den Männern, die in Absatz 9 ihrer Resolution ausdrücklich die Gleichstellung der Rationen gefordert hatten! Dieses Detail zeigt, wie verzweifelt Trotzkis bürokratische Blindheit ist.

Trotzkis Artikel weichen nicht im Geringsten von der Legende ab, die vor langer Zeit vom Zentralkomitee der Partei erfunden wurde. Trotzki verdient sicherlich Anerkennung von der internationalen Arbeiterklasse dafür, dass er sich seit 1923 geweigert hat, sich weiter an der bürokratischen Degeneration und den neuen „Säuberungen“ zu beteiligen, die dazu bestimmt waren, die Revolution aller ihrer linken Elemente zu berauben. Noch mehr verdient er es, gegen Stalins Verleumdungen und Mörder verteidigt zu werden. Aber all das gibt Trotzki nicht das Recht, die arbeitenden Massen von 1921 zu beleidigen. Ganz im Gegenteil! Mehr als jeder andere sollte Trotzki die Initiative von Kronstadt neu bewerten. Eine Initiative von großem historischem Wert, eine Initiative, die von militanten einfachen Mitgliedern in dem Kampf gegen die erste blutige „Säuberung“ der Bürokratie ergriffen wurde.

Die Haltung der russischen Arbeiterinnen und Arbeiter während des tragischen Winters 1920–1921 zeigt einen tiefen sozialen Instinkt, und ein edler Heroismus inspirierte die Arbeiterklasse Russlands nicht nur auf dem Höhepunkt der Revolution, sondern auch in der Krise, die sie in Lebensgefahr brachte.

Weder die Kronstädter Kämpfer noch die Arbeiterinnen und Arbeiter von Petrograd noch die Reihen der Kommunisten konnten in diesem Winter zwar dieselbe revolutionäre Energie aufbringen wie 1917 bis 1919, aber was es 1921 in Russland an Sozialismus und revolutionärem Gefühl gab, war in den Reihen der einfachen Leute zu finden. Lenin und Trotzki haben sich dagegen gestellt und zusammen mit Stalin, Sinowjew, Kaganowitsch und anderen den Wünschen der bürokratischen Kader entsprochen und deren Interessen gedient. Die Arbeiterinnen und Arbeiter kämpften für den Sozialismus, den die Bürokratie bereits auflöste. Das ist der Kern des ganzen Problems.

Kronstadt und die NEP

Oft wird angenommen, Kronstadt habe die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) erzwungen – ein großer Irrtum. Die Kronstädter Resolution sprach sich für die Verteidigung der Arbeiterinnen und Arbeiter aus, nicht nur gegen den bürokratischen Kapitalismus des Staates, sondern auch gegen die Wiederherstellung des privaten Kapitalismus. Diese Wiederherstellung wurde – in Opposition zu Kronstadt – von den Sozialdemokraten gefordert, die sie mit einem Regime der politischen Demokratie verbanden. Und es waren Lenin und Trotzki, die sie in Form der NEP weitgehend verwirklichten (allerdings ohne politische Demokratie). Die Kronstädter Resolution erklärte sich für das Gegenteil Denn sie sprach sich gegen den Einsatz von Lohnarbeit in der Landwirtschaft und in der Kleinindustrie aus. Diese Resolution und die ihr zugrunde liegende Bewegung strebten ein revolutionäres Bündnis der proletarischen Arbeiterinnen und Arbeiter mit den ärmsten Schichten des Landes, den Landarbeitern, an, damit sich die Revolution zum Sozialismus entwickeln konnte. Die NEP hingegen war ein Bündnis der Bürokraten mit den oberen Schichten des Dorfes gegen das Proletariat; sie war das Bündnis des Staatskapitalismus und des privaten Kapitalismus gegen den Sozialismus. Die NEP steht den Forderungen von Kronstadt ebenso entgegen wie beispielsweise das revolutionäre sozialistische Programm der Avantgarde der europäischen Arbeiterinnen und Arbeiter für die Abschaffung des Versailler Systems der Aufhebung des Versailler Vertrags durch Hitler entgegensteht.

Betrachten wir schließlich noch einen letzten Vorwurf, der häufig erhoben wird: dass Aktionen wie die in Kronstadt indirekt die Kräfte der Konterrevolution hätten entfesseln können. Es ist zwar möglich, dass die Revolution selbst unter den Bedingungen der Arbeiterdemokratie gestürzt worden wäre, aber sicher ist, dass sie untergegangen ist, und zwar aufgrund der Politik ihrer Anführer. Die Repression in Kronstadt, die Unterdrückung der Demokratie der Arbeiterinnen und Arbeiter und der Sowjets durch die russische Kommunistische Partei, die Entfernung des Proletariats aus der Leitung der Industrie und die Einführung der NEP bedeuteten bereits den Tod der Revolution.

Es war gerade das Ende des Bürgerkriegs, das die Spaltung der nachrevolutionären Gesellschaft in zwei grundlegende Gruppierungen herbeiführte: die arbeitenden Massen und die Bürokratie. Was ihre sozialistischen und internationalistischen Bestrebungen anging, wurde die russische Revolution erstickt: In ihren nationalistischen, bürokratischen und staatskapitalistischen Tendenzen entwickelte und festigte sie sich.

Von diesem Zeitpunkt an und auf dieser Grundlage nahm die so oft erwähnte Verleugnung der Moral durch die Bolschewiki jedes Jahr immer deutlicher eine Entwicklung an, die zu den Moskauer Prozessen führen musste. Die unerbittliche Logik der Dinge hat sich gezeigt. Während die Revolutionäre, die nur noch dem Namen nach Revolutionäre waren, in Wirklichkeit die Aufgabe der Reaktion und Konterrevolution erfüllten, waren sie zwangsläufig gezwungen, zu Lügen, Verleumdungen und Fälschungen zu greifen. Dieses System der allgemeinen Lüge ist das Ergebnis, nicht die Ursache der Trennung der bolschewistischen Partei vom Sozialismus und vom Proletariat. Um diese Aussage zu untermauern, zitiere ich die Aussagen über Kronstadt von Männern, die ich in Sowjetrussland getroffen habe.

„Die Männer von Kronstadt! Sie hatten absolut Recht; sie haben eingegriffen, um die Arbeiter von Petrograd zu verteidigen: Es war ein tragisches Missverständnis von Lenin und Trotzki, dass sie ihnen nicht zugestimmt, sondern ihnen den Kampf angesagt haben“, sagte mir Dtsch. 1932. Er war 1921 ein parteiloser Arbeiter in Petrograd, den ich in der politischen Isolationshaftanstalt in Werchneuralsk als Trotzkisten kennengelernt hatte.

„Es ist ein Mythos, dass Kronstadt 1921 aus sozialer Sicht eine völlig andere Bevölkerung hatte als 1917“, sagte mir ein anderer Mann aus Petrograd, Dv., im Gefängnis. 1921 war er Mitglied der Kommunistischen Jugend und wurde 1932 als ‚Decist‘ (Mitglied der Sapronov-Gruppe der ‚Demokratischen Zentralisten‘) inhaftiert.

Ich hatte auch die Gelegenheit, einen der effektivsten Teilnehmer des Kronstädter Aufstands kennenzulernen. Er war ein alter Schiffsingenieur, seit 1917 Kommunist, hatte während des Bürgerkriegs aktiv mitgemischt, zeitweise eine Tscheka in einer Provinz irgendwo an der Wolga geleitet und sich 1921 als politischer Kommissar auf dem Kriegsschiff „Marat“ (ehemals „Petropawlowsk“) in Kronstadt wiedergefunden. Als ich ihn 1930 im Gefängnis von Leningrad traf, hatte er gerade acht Jahre auf den Solowetski-Inseln verbracht.

Die Kampfmethoden

Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Kronstadt verfolgten revolutionäre Ziele im Kampf gegen die reaktionären Tendenzen der Bürokratie und setzten dabei saubere und ehrliche Methoden ein. Im Gegensatz dazu verleumdete die Bürokratie ihre Bewegung auf abscheuliche Weise und behauptete, sie werde von General Koslowski angeführt. Tatsächlich wollten die Männer von Kronstadt als Gefährten und Gefährtinnen ehrlich die offenen Fragen mit den Vertretern der Regierung diskutieren. Ihre Aktion hatte zunächst einen defensiven Charakter – deshalb haben sie Oranienbaum, das an der Küste gegenüber von Kronstadt liegt, nicht rechtzeitig besetzt.

Von Anfang an haben die Petrograder Bürokraten das System der Geiselnahme genutzt, indem sie die Familien der Matrosen, Soldaten der Roten Armee und Arbeiterinnen und Arbeiter aus Kronstadt, die in Petrograd lebten, verhafteten, weil mehrere Kommissare in Kronstadt – von denen keiner erschossen wurde – festgenommen worden waren. Die Nachricht von der Geiselnahme wurde Kronstadt durch Flugblätter aus Flugzeugen zugestellt. In ihrer Antwort per Funk erklärte Kronstadt am 7. März, „dass sie Petrograd nicht nachahmen wolle, da sie eine solche Tat, selbst wenn sie aus Verzweiflung und Hass begangen worden sei, aus jeder Sicht als höchst schändlich und feige betrachte. Die Geschichte kenne noch kein ähnliches Vorgehen“. Die neue herrschende Clique verstand viel besser als die „Rebellen“ von Kronstadt die Bedeutung des beginnenden sozialen Kampfes, die Tiefe des Klassenantagonismus, der sie von den Arbeiterinnen und Arbeitern trennte. Darin liegt die Tragödie der Revolutionen in ihrer Niedergangsphase.

Aber obwohl Kronstadt in einen militärischen Konflikt gezwungen wurde, fand es noch die Kraft, das Programm für die „dritte Revolution“ zu formulieren, das seitdem das Programm des russischen Sozialismus der Zukunft geblieben ist.

Bilanz

Es gibt Gründe zu der Annahme, dass angesichts des Verhältnisses zwischen den Kräften des Proletariats und der Bourgeoisie, des Sozialismus und des Kapitalismus, wie es Anfang 1921 in Russland und Europa bestand, der Kampf für die sozialistische Entwicklung der russischen Revolution zum Scheitern verurteilt war. Unter diesen Bedingungen konnte das sozialistische Programm der Massen nicht siegen: Es musste vom Triumph der Konterrevolution abhängen, sei sie offen erklärt oder unter dem Deckmantel der Entartung getarnt (wie es tatsächlich geschehen ist).

Aber so eine Vorstellung vom Verlauf der russischen Revolution schmälert nicht im Geringsten die historische Bedeutung des Programms und der Bemühungen der arbeitenden Massen. Im Gegenteil, dieses Programm ist der Ausgangspunkt, von dem aus ein neuer Zyklus der revolutionären sozialistischen Entwicklung beginnen wird. Tatsächlich beginnt jede neue Revolution nicht auf der Grundlage, auf der die vorherige begonnen hat, sondern an dem Punkt, an dem die vorherige Revolution einen moralischen Rückschlag erlitten hat.

Die Erfahrung der Entartung der russischen Revolution stellt das Bewusstsein des internationalen Sozialismus erneut vor ein äußerst wichtiges soziologisches Problem. Warum triumphierte in der russischen Revolution, wie in zwei anderen großen Revolutionen, der englischen und der französischen, die Konterrevolution aus dem Inneren heraus, in dem Moment, als die revolutionären Kräfte erschöpft waren, und zwar mit Hilfe der revolutionären Partei selbst (die allerdings ihrer linken Elemente „gesäubert“ war)? Der Marxismus glaubt, dass die sozialistische Revolution, einmal begonnen, entweder eine allmähliche und kontinuierliche Entwicklung zum integralen Sozialismus nehmen würde oder durch die bourgeoise Restauration besiegt würde.

Insgesamt wirft die Russische Revolution das Problem des Mechanismus der sozialistischen Revolution auf eine völlig neue Weise auf. Diese Frage muss in der internationalen Diskussion an erster Stelle stehen. In dieser Diskussion kann und muss das Problem Kronstadt einen ihm angemessenen Platz einnehmen.

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