(2024) Fokus auf Rojava – Die verheerenden Auswirkungen des kleineren Übels und Antiimperialismus in anarchistischen Kreisen (II)

Gefunden auf stuut.info, die Übersetzung ist von uns, mit der englischen Übersetzung verglichen, die Übersetzung ist von uns.


(2024) Fokus auf Rojava

Die verheerenden Auswirkungen des kleineren Übels und Antiimperialismus in anarchistischen Kreisen (II)

Mai 2024 / waragainstwar@subvertising.org

Warum einen Focus auf Rojava im Jahr 2024? Sowohl aus zufälligen Diskussionen heraus, als auch weil die am weitesten verbreitete Form der militärisch-revolutionären Mythologie über Rojava als ideologische Unterstützung eines „anarchistischen“ Engagements im Krieg in der Ukraine wieder aufgetaucht ist, bis hin zur Aufwertung der Lebensläufe von Menschen, die von einem Krieg in den anderen gewechselt/gegangen sind. Ein militärisches Engagement in Rojava wird bei dieser Gelegenheit „natürlich“ als maßgeblich dargestellt, um zu rechtfertigen, dass man sich den ukrainischen Truppen „auf jeden Fall“ anschließt, wobei die Sache als links oder „anarchistisch“ verstanden wird.

Über diese Aktualität hinaus berührt das Spektrum der Fragen, die durch die „Unterstützung des revolutionären Rojava“ aufgeworfen werden, alle wesentlichen Aspekte dieser Gesellschaft, mit denen revolutionäre Bestrebungen mehr denn je konfrontiert sind, wie das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis, die Natur des Staates, der allgemeine Kurs in Richtung Krieg.

Der Knoten der Rojava-Frage und all ihrer Entwicklungen ist in ihrem Ursprung zu suchen, weshalb es interessant ist, auch Analysen von vor zehn Jahren wieder zu lesen. Die Annahme vieler Befürworter der „Revolution in Rojava“1 ist die Vermischung der Ansteckung durch die Revolten des „Arabischen Frühlings“ in Syrien im Jahr 2011 mit seiner ordnungsgemäßen Beerdigung, insbesondere im kurdischen Nationalrahmen. Nein, die „ Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens“ – so die offizielle Bezeichnung von „Rojava“ auf der internationalen diplomatischen Bühne seit 2018 – ist nicht die Emanation eines emanzipatorischen, revolutionären Kampfes mit seinen Stärken und Grenzen, sie ist ganz im Gegenteil das, was sich politisch organisiert hat, um die Dinge innerhalb des staatlichen und kapitalistischen Rahmens wieder in die Hand zu nehmen. Wie Gilles Dauvé und Tristan Leoni 2015 betonten:

Die sogenannte Revolution vom Juli 2012 entsprach in Wirklichkeit dem Abzug der Assad-Truppen aus Kurdistan. Nachdem die vorherige Verwaltungs- oder Sicherheitsmacht verschwunden war, trat eine andere an ihre Stelle, und eine sogenannte revolutionäre Selbstverwaltung übernahm die Dinge in die Hand. Aber um welche „Selbstverwaltung“ handelt es sich? Um welche Revolution?2

Bereits 2005 hatte die KCK3 ihr Ziel, einen separaten kurdischen Staat zu errichten, aufgegeben und stattdessen für den berühmten demokratischen Konföderalismus plädiert, der in den Schriften des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der 1999 von der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, propagiert wird. Dieser Plan wurde 2012 in die Tat umgesetzt, als die PYD einen großen Teil Nordsyriens unter ihre Kontrolle brachte und ein Abkommen mit der syrischen Regierung schloss. Der Trick besteht darin, diese Übertragung der politischen und militärischen Macht als Gründungsereignis einer Revolution darzustellen, obwohl es vielmehr darum ging, die Kontinuität des Staates, gegen alle revolutionären Bestrebungen, zu sichern. Ob es der linken Romantik nun gefällt oder nicht, all die progressiven, liberalen, ökologischen und feministischen Zutaten, mit denen sich diese staatliche Machtübergabe schmückte, sind eher das Zeichen eines Begräbnisses erster Klasse als ein Ausdruck des Kampfes, der ihr vorausging.

Wir hören von einer Volksdynamik, die zwar durch den Krieg gelähmt ist, aber später wieder aufleben könnte. Man muss die Hoffnung aufrechterhalten und vor allem daran glauben, dass sich die Menschheit (oder das Proletariat) emanzipieren wird, indem sie erst einen Krieg und dann eine Revolution führt. Das erscheint uns als Wahnsinn. Das ist die Wahl, die angeblich von der PYD getroffen wurde und die dem alten „revolutionären“ Schema entspricht, der klassischen Übergangsphase, die sich auf eine „politische Revolution“ beschränkt. (…) In Rojava herrscht Krieg, ein Volkskrieg, wenn man so will, aber trotzdem Krieg.4

Natürlich muss man damals wie heute immer bedenken, dass diese Wiederaufnahme der Kontrolle, diese nationale Neukonfiguration nicht jeden Wunsch nach Kampf, nach Emanzipation jenseits des aufgezwungenen Rahmens ausgelöscht hat. Darauf zu achten bedeutet zunächst, sich zu weigern, die Wiederherstellung des Staates als Fortsetzung des Kampfes auszugeben, oder anders gesagt, dass es gemeinsame Interessen, irgendeine mögliche Konvergenz zwischen den beiden gäbe.

Die Verwirrung zwischen dem Kampf und seiner Beerdigung unter dem Vorwand einer „Pflicht zur Solidarität“ aufrechtzuerhalten, ist in Wirklichkeit das Schlimmste, was man gegenüber jeder Andeutung eines Kampfes tun kann, der fortbesteht oder gerade gegen den Strom wieder auftaucht. Diese ideologische Matrix ist so alt wie unsere Niederlagen – insbesondere seit dem Aufkommen der Sozialdemokratie, unseres obersten Totengräbers – und sie hat immer Vaterländer gebraucht, um sich zu verkörpern, vom bolschewistischen Russland über das maoistische China oder das Castro-Kuba bis hin zu den nationalen Befreiungskämpfen unter verschiedenen Emblemen.

Der Kampf in Chiapas seit den 1990er Jahren war – und ist bis zu einem gewissen Grad – ein Aushängeschild dieser Matrix, ohne dass dies jedoch mit ihrer komplexen und widersprüchlichen Realität übereinstimmt, deren ernsthafte Analyse hier zu viel Raum einnehmen würde. Wie dem auch sei, eine oberflächliche, linke Sicht auf Chiapas wird oft von den Eiferern des „revolutionären Rojava“ zur Unterstützung ihrer Thesen herangezogen, insbesondere zu diesen Themen: Autonomie, Territorium, Zivilgesellschaft, Demokratie ohne Staat, partizipative Regierungsführung, bewaffneter Kampf, Gender. All diese Elemente müssen kritisch hinterfragt werden, aber das Wesen der ideologischen Matrix besteht darin, sie unbestreitbar zu machen, in einer gefürchteten Maschinerie, die in Bezug auf Rojava einen enormen Aufschwung erlebt hat. Anstatt über das Schicksal des aufständischen Kampfes von 2011 und darüber hinaus zu sprechen, anstatt die kurdische Nationalbewegung als antagonistisch zu diesem Kampf zu sehen, werden wir mit Volk, Militärfeminismus, partizipativer Ökonomie und der Verherrlichung der „Zivilgesellschaft“ beräuchert, als ob diese nicht der Raum par excellence für die Klassenkollaboration wäre, die andere Seite des Staates, sein Garant und seine Stütze.

Die internationale Polemik über diese Fragen, über den revolutionären Charakter oder nicht dessen, was in Rojava geschieht, über die Bedeutung einer Solidarität, die mit wem und was und gegen was aktiviert werden muss, entstand bereits in den ersten Jahren nach 2011 insbesondere in anarchistischen Kreisen (und darüber hinaus) und ist auch heute noch lebendig, wenn das Thema wieder auf den Tisch kommt.

Wir würden die wichtigen Fragen wie folgt zusammenfassen:

  • Was ist aus der Kampfwelle der frühen 2010er Jahre angesichts der Staatsbildung von Rojava (der „autonomen Verwaltung“) geworden, die hinter dem steht, was uns international verkauft wird?
  • Wie konnte diese Welle des Kampfes ihre Militarisierung unter internationaler Ägide überleben, in einem Kontext der Zerschlagung, des Zermalmens der Kämpfe in einem tiefen innerimperialistischen Schlamassel, von der Repression der Kämpfe 2011 in Syrien bis zur internationalen militärischen Neukonfiguration „gegen Daesh“, zum Preis von Bündnissen mit den internationalen Unterdrückern?
  • Welchen sozialen, politischen, emanzipatorischen Inhalt und welche Perspektive hat diese „Autonomie“, wenn sie etwas anderes ist als die Wiederherstellung des Staates in einer neuen Form (Volksdemokratie, Gemeinschaftsdemokratie usw.) und der Aufstieg neuer Verwalter?
  • Anders ausgedrückt: Welchen Ansatz für einen Angriff – oder sogar eine Kritik – auf die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse und den Staat gibt es in dem Prozess, von dem in Rojava seit so vielen Jahren die Rede ist?

Die Antworten auf diese Fragen wurden im letzten Jahrzehnt dokumentiert und gehen leider nicht in die Richtung, die von den Befürwortern der „Revolution in Rojava“5 vorgegeben wird. Aus theoretischer Sicht dient die Erwähnung von Murray Bookchins „libertärem Munizipalismus“ in der Regel als Garantie für Anarchistinnen und Anarchisten, als wäre es selbstverständlich, dass diese verwaltungstechnische Doktrin revolutionär ist und dass man dem Gründer der PKK, Abdullah Öçalan, einen Blankoscheck ausstellen kann, da er im Gefängnis durch einen Briefwechsel mit dem Autor zu dieser Doktrin konvertierte und daraus seine eigene Doktrin, den demokratischen Konföderalismus, ableitete. Diese ideologische Wende würde sicherstellen, dass das, was in Rojava unter der Ägide der PKK und ihres größeren Ablegers, der KCK, geschieht, nicht mehr die Kontinuität der klassischen Eroberung des Staates durch eine marxistisch-leninistische Partei darstellt, sondern sich den emanzipatorischen Bestrebungen der Bewegung von 2011 anschließt und sie sogar verkörpert. Hier ist, was Gilles Dauvé und Tristan Leoni 2015 hinter diesem verführerischen Fassade analysierten:

Die PKK hat das natürliche Ziel jeder nationalen Befreiungsbewegung nicht aufgegeben. Obwohl sie nun ein Wort vermeidet, das zu autoritär klingt, ist es die Schaffung eines zentralen Verwaltungs- und politischen Entscheidungsapparates in einem Gebiet, die die PKK heute wie damals anstrebt; und es gibt kein besseres Wort als Staat, um die Sache zu bezeichnen. Der Unterschied, abgesehen von der administrativen Qualifikation, besteht darin, dass er so demokratisch wäre, so sehr in den Händen seiner Staatsbürger, dass er den Namen Staat nicht mehr verdienen würde. So viel zur Ideologie.

In Syrien hat die kurdische Nationalbewegung (unter dem Einfluss der PKK) daher die Forderung nach einem vollwertigen Staat durch ein bescheideneres und „basisorientierteres“ Programm ersetzt: Autonomie, demokratischer Konföderalismus, Rechte für Mann und Frau usw. Statt der Ideologie eines Sozialismus, der von einer Arbeiter-Bauern-Einheitspartei geführt wird, die die Schwerindustrie entwickelt, statt „klassenbezogener“ und „marxistischer“ Bezüge werden Selbstverwaltung, Genossenschaft, Kommune, Ökologie, Antiproduktivismus und, als Bonus, Gender hervorgehoben.“6

Der demokratische Konföderalismus von Abdullah Öçalan, der von der PKK und ihren Anhängern umgesetzt wurde, fand seine erste politische Umsetzung im Januar 2014 in der Charta des Gesellschaftsvertrags7, einer Verfassung, die die Grundsätze und die Gesamtarchitektur der sozialen und politischen Organisation des Territoriums, d.h. des Staates in Rojava, festlegt. Wenn wir uns die Artikel durchlesen, müssen wir feststellen, dass es sich wie bei jeder Verfassung um ein demokratisches Bollwerk gegen jede Emanzipation außerhalb des staatlichen und kapitalistischen Rahmens und damit gegen die Revolution handelt. In der eloquenten Präambel heißt es, dass der Text „die territoriale Integrität Syriens anerkennt und die Wahrung des inneren und internationalen Friedens anstrebt“.

Im Zusammenhang mit dieser Charta des Gesellschaftsvertrags zitieren wir den Text „Rojava: Fantasien und Realitäten“ von Zafer Onat (2014)8:

„Zu diesem Punkt ist es hilfreich, den KCK-Vertrag zu untersuchen, der den demokratischen Konföderalismus definiert, der die Grundlage des politischen Systems in Rojava bildet. Einige Punkte in der von Öcalan verfassten Einleitung verdienen unsere Aufmerksamkeit:

Dieses System ist eines, das die ethnischen, religiösen und Klassenunterschiede auf sozialer Basis berücksichtigt.“ (…) „In Kurdistan werden drei Rechtssysteme gelten: Das EU-Recht, das Recht des Einheitsstaates und das demokratische konföderale Recht.“

Zusammenfassend wird festgestellt, dass die Klassengesellschaft bestehen bleibt und es ein föderales politisches System geben wird, das mit dem globalen System und der Nation-Staat vereinbar ist. In Übereinstimmung damit verteidigt Artikel 8 des Vertrages mit dem Titel „Persönliche, politische Rechte und Freiheiten“ das Privateigentum und Abschnitt C von Artikel 10 mit dem Titel „Grundpflichten“ definiert die verfassungsrechtliche Grundlage der Wehrpflicht, indem es heißt: „Im Falle eines legitimen Verteidigungskrieges besteht als Erfordernis des Patriotismus die Verpflichtung, sich aktiv an der Verteidigung des Vaterlandes und der Grundrechte und -freiheiten zu beteiligen.“ Während der Vertrag feststellt, dass das Ziel nicht die politische Macht ist, verstehen wir auch, dass die Zerstörung des Staatsapparats ebenfalls nicht angestrebt wird, was bedeutet, dass das Ziel die Autonomie innerhalb der bestehenden Nation-Staaten ist. Betrachtet man den Vertrag in seiner Gesamtheit, stellt man fest, dass das vorgestellte Ziel nicht über ein bourgeoises demokratisches System hinausgeht, das als demokratischer Konföderalismus bezeichnet wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die in den sozialen Medien häufig verbreiteten Fotos von zwei Frauen mit Gewehren, von denen eine im Spanischen Bürgerkrieg und die andere in Rojava aufgenommen wurde, zwar eine Ähnlichkeit im Sinne von Frauen, die für ihre Freiheiten kämpfen, aufweisen, aber es ist klar, dass die Personen, die in Rojava gegen ISIS kämpfen, nicht die gleichen Ziele und Ideale haben wie die von Arbeiterinnen und Arbeitern und armen Bäuerinnen und Bauern, die innerhalb der CNT-FAI für die Abschaffung des Staates und des Privateigentums gekämpft haben.

Die CNT kämpfte ab 1936 für die „ Abschaffung des Staates und des Privateigentums “, was historisch nicht korrekt ist, da sie sich vom libertären Kommunismus abwandte, sich der Republik anschloss und sich der Logik des Krieges gegenüber der der Revolution unterwarf. In Bezug auf Rojava und jetzt auch auf die Ukraine gilt: Sobald „die Gesellschaft“, „das Land“, „das Volk“ und seine Varianten wie Stämme, Ethnien usw. zu eigenständigen Themen im Diskurs werden, hat man bereits akzeptiert, das Wesentliche aufzugeben, nämlich die Abgrenzung der Klasse und die Abgrenzung vom Staat. „Die Gesellschaft“ und „das Volk“ sind Abstraktionen des zugrunde liegenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisses, des Klassenkampfes und der zugrunde liegende Natur des Staates, aber sie nehmen Gestalt an und materialisieren sich als konkrete ideologische Kraft durch den sozialen Frieden, die Knechtschaft der Staatsbürger, die nationale Union…

Wenn man die Propaganda für den Krieg unter anarchistischer Flagge analysiert, hat man den Eindruck, dass der Krieg überhaupt nicht als das verstanden wird, was er ist, ein Höhepunkt unserer Niederlage, sondern als ein sozialer Umstand wie jeder andere, an dem man „als Anarchist“ teilnehmen kann, ja sogar als eine Verlängerung des Kampfes durch ein anderes Mittel, das Emanzipation bringt, um den Preis, dass wir unser Leben, aber nicht unsere Prinzipien opfern müssen. Die entscheidende Frage der Insubordination, der Verweigerung der Einberufung und des revolutionären Defätismus ist vom Tisch, da sie sich aus dieser Perspektive nicht einmal stellt, in einer Art totaler Umkehrung jedes subversiven Standpunkts. Sobald „Gefährtinnen und Gefährten“ sich entschieden haben, „als Anarchistinnen und Anarchisten zu gehen“, sollten wir ihren „freien Willen“ respektieren und sie unterstützen, da sonst ein „Mangel an Solidarität“ oder ein „Mangel an Internationalismus“ droht! Angesichts des realen antagonistischen Konflikts zwischen Klassenkrieg und imperialistischem Krieg, zwischen dem Kampf gegen den Staat und die Grenzen und dem Kampf an den Grenzen für den Staat, öffnet jede Ausflucht oder jedes Schlingern das Feld für den bourgeois-demokratischen Horizont und seine Nicht-Wahl zwischen Krieg und Frieden, zwischen militärischem Einsatz und Pazifismus, zwischen einer fehlgeleiteten, beschwörenden Solidarität und Resignation.

Um diese Ungeheuerlichkeit zu erreichen, den Krieg und die nationale Verteidigung im Namen des Kampfes und des Anarchismus zu rechtfertigen, müssen bemerkenswerte Verrenkungen gemacht werden, um sowohl den Staat als auch das, was ein Kampf gegen den Krieg von einem Klassenstandpunkt aus wirklich wäre, nämlich den revolutionären Defätismus, den Klassenkrieg gegen die Ausbeuter, gegen die Kriegsmaschinerie, auf allen Seiten, zu eskamotieren. Dass dieser Kampf nicht automatisch ausbricht, ist jedoch keine Rechtfertigung dafür, sich an der Front zu engagieren. In Rojava wie in der Ukraine wird uns versichert, dass keine Gefährtin und kein Gefährte für den Staat kämpft, entweder weil dieser so gut wie nicht existiert wie in Rojava oder weil man „neben“ dem Staat agiert und nicht „an seiner Seite“ wie in der Ukraine, wo die Regierung und die NATO sich mit der Aktion von bewaffneten Gruppen unter schwarzer Fahne, die keinem Generalstab unterstehen, abfinden würden! In beiden Fällen handelt es sich um eine große Bewegung des „Widerstands“ und der „Selbstverteidigung“. „Selbst-“ deutet darauf hin, dass Gefährtinnen und Gefährten direkt für ihre eigenen kollektiven Interessen kämpfen, ohne die Vermittlung des Staates. Diese ist aber sehr wohl im Spiel, denn indem die angeworbenen Proletarier unter dieser oder jener Flagge gegen die Angriffe der umliegenden Armeen oder des Daesh kämpfen, kämpfen sie in Wirklichkeit für eine neue lokale Verwaltung des Kapitals. Wir sprachen von taktischer Flexibilität, und die ist in dem Maße erforderlich, wie der innerimperialistische Schlamassel es erfordert, wenn die „Selbstverteidigung“ sich mit militärischen Bündnissen mit lokalen und internationalen imperialistischen Mächten arrangieren muss.

Daher ist die Rede vom „Kampf in dieser Region“, von „dieser Region im Kampf“ oder in überschwänglicherer Weise von „der Revolution in dieser Region“ völlig missverständlich, solange man nicht das Vorhergehende klarstellt. Im Oktober 2014, während des Angriffs auf Kobane, erklärte der linke US-amerikanische Ökonom David Graeber in einem Interview mit der Zeitung The Guardian, dass es sich tatsächlich um eine Revolution wie 1936 in Spanien handele, und rief zu internationaler Solidarität auf, wobei er das Modell der „internationalen Brigaden“ wiederbelebte (in denen sein Vater 1937 freiwillig mitmachte), von denen er nebenbei verschwieg, dass sie von der stalinistischen Aufstandsbekämpfung organisiert wurden, parallel zur fatalen Militarisierung der revolutionären Milizen. Nichts Neues unter der verschleierten Sonne des Kapitals, zwischen Kommunikation und Paralleldiplomatie :

Im Dezember 2014, während sich weniger bedeutende Rojava-Funktionäre mit den US-Aktivisten Janet Biehl und David Graeber trafen, besprach der oberste PKK/PYD-Funktionär Salih Muslim die militärische Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen „Neokonservativen“ Zalmay Khalilzad.9

In diesem Zusammenhang picken wir Folgendes aus dem „Brief an „rojavistische“ Freunde10 heraus:

Was die diplomatische Agenda angeht, so werden Vertreter (sic) der YPG regelmäßig in westliche Länder geschickt, um neue Kontakte zu knüpfen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sie als völlig isoliert oder als Opfer ihrer revolutionären Positionen dargestellt wurden, auch wenn ihr Kommandeur im Élysée-Palast empfangen wurde. Ihre Anwesenheit bei den Verhandlungen in Genf wurde durch die Bemühungen der Türkei verhindert, während die Anwesenheit Russlands dort günstig war. Seitdem hat die Regierung von Rojava im vergangenen Februar (2016) eine diplomatische Vertretung in Moskau eingerichtet, was Anlass für eine schöne und bescheidene Feier war (im April auch in Prag).

Aus politischer, diplomatischer und militärischer Sicht ist es der PYD/YPG-Führung, die sowohl von den USA als auch von Russland opportunistisch umworben wurde, gelungen, den Einsatz zu erhöhen und das Spiel für sich zu nutzen, d.h. sie hat ihren politischen Einfluss gestärkt und militärische Unterstützung und quasi internationale Anerkennung gewonnen.

Die Medienunterstützung ist umfangreich und besonders positiv. In Frankreich werden die YPG-Kämpfer (aber vor allem die YPJ) als Vorbilder für Mut, Demokratie und Toleranz dargestellt. Das ist bei „Art in France 2“ über „LCP“ der Fall und dasselbe gilt für das Radio, wo man auf „Radio Libertaire“ und sogar auf „Radio Courtoisie“‚ und „France Culture“ die Tugenden der Freiheitskämpfer hören kann.

Während die PKK selbst von den Terrororganisationen, die man Großmächte nennt, immer noch als „terroristische Organisation“ betrachtet wird, haben ihr kurdischer Ableger PYD und ihre bewaffneten Zweige YPG & YPJ eine Existenz auf der internationalen diplomatischen und militärischen Bühne. Der Grund dafür ist einfach: Jenseits aller Rhetorik suchen sich die Mächte ihre Verbündeten nicht nach dem Grad ihrer Erfüllung der liberalen (oder gar „lokalen“ oder „volksnahen“) Demokratie, sondern nach ihrer Fähigkeit, die Region, die sie abdecken, zu kontrollieren und das Proletariat dort zu disziplinieren. Trotz aller Unkenrufe sind es nicht die Vollversammlungen der Stadtviertel oder die Produktionsgenossenschaften, die die politische Kraft in Kurdistan darstellen (sie dienen höchstens als ideologischer Narrenspiegel), sondern die PYD und ihre bewaffneten Arme, was zu beweisen ist. Um es mit den Worten von Gilles Dauvé und Tristan Leoni zu sagen: „Wir haben noch nie gesehen, dass sich der Staat in der lokalen Demokratie auflöst“.

Dies wird von den Verfechtern – insbesondere unter anarchistischer Flagge – der „Revolution in Rojava“ behauptet, die sich zu eigen machen, was der inhaftierte PKK-Anführer Abdullah Öcalan 2005 mit den folgenden Worten zusammenfasste:

Der Demokratische Konföderalismus Kurdistans ist kein staatliches System, sondern ein demokratisches System eines Volkes ohne Staat … Er zieht seine Macht aus dem Volk und ergreift Maßnahmen, um in allen Bereichen, einschließlich der Ökonomie, Selbstversorgung zu erreichen.“11

So von einer „Demokratie ohne Staat“ (subtiles Oxymoron) oder einer „Gesellschaft ohne Staat“ in Rojava zu sprechen, ist aus politischer, institutioneller und militärischer Sicht nicht ernsthaft haltbar.

Es gibt in Rojava sehr wohl einen Staat „die alle Merkmale eines Staates aufweist, mit einer von der „Einheitspartei“ PYD geführten Regierung, Ministerien, einer Vielzahl von Mini-Parlamenten, Gerichten, einer „Verfassung“ (genannt „Gesellschaftsvertrag“), einer Armee (die zunehmend militarisierten YPG/YPJ-Milizen), eine Polizei (die Asayish), die die innere soziale Ordnung durchsetzt (…).12

Allgemeiner gesprochen, wie der andere Text, der in der gleichen Broschüre wiedergegeben wird, in Erinnerung ruft:

Der Staat ist auch und vor allem das Ergebnis spezifischer sozialer Beziehungen. Das bedeutet, dass er auf der Dynamik des Verhältnisses zwischen den sozialen Klassen und ihrem Verhältnis zum Eigentum beruht. Wo also die Klassen und das Privateigentum erhalten bleiben, gibt es einen Staat“.13

Es wird auch angeprangert, dass man „die Vision einer sozialen Revolution als globalen Prozess aufgibt und an der Idee der Revolution in einem einzigen Land festhält“. Die Tatsache, dass es sich in Rojava um eine „Volks“-, Versammlungs- oder Rätedemokratie handelt, ändert nichts an ihrem bourgeoisen Charakter, d. h. an der schlichten Konservierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Hier gewinnt die Frage der Radikalität an Bedeutung, die weder ein Titel ist, den man sich anmaßt, noch ein Werturteil. Wenn wir der Meinung sind, dass die Ursache unseres Elends in einem Mangel an Gleichheit, einem Demokratiedefizit bei der Verwaltung der Angelegenheiten und einem Problem der Staatsführung liegt, dann kann jedes fortschrittliche bourgeoise Projekt als eine Revolution angesehen werden. Wenn wir im Gegenteil davon ausgehen, dass die Ursache unseres Elends das kapitalistische Gesellschaftsverhältnis selbst ist und nicht die Art und Weise, wie es verwaltet wird, dass der Staat und die Politik nur ein Anhängsel davon sind und kein neutrales Werkzeug, dessen wir uns bemächtigen können … dann wird es schon schwieriger, uns unter diesen Fahnen zu rekrutieren.

Einige Anarcho-Texte erwähnen Rojava nur unter dem Gesichtspunkt der lokalen Errungenschaften, der Vollversammlungen, fast ohne die PYD, die PKK usw. zu erwähnen. Als ob es sich nur um spontane Aktionen handeln würde. Es ist ein bisschen so, als würde man bei der Analyse eines Generalstreiks nur von den AGs der Streikenden und den Streikposten sprechen, ohne sich mit den lokalen Gewerkschaften/Syndikaten, den Manövern ihrer Führungsstäbe, den Verhandlungen mit dem Staat und den Arbeitgebern usw. zu beschäftigen.

Die Revolution wird immer mehr als eine Frage des Verhaltens gesehen: Selbstorganisation, Interesse an Gender, Ökologie, das Herstellen von Verbindungen, Diskussionen, Affekte. Wenn man das Desinteresse und die Sorglosigkeit in Bezug auf den Staat und die politische Macht hinzufügt, ist es logisch, eine Revolution zu sehen, und warum nicht „eine Revolution der Frauen“ in Rojava. Da immer weniger von Klassen und Klassenkampf die Rede ist, spielt es keine Rolle, dass dies auch in den Reden der PKK-PYD nicht vorkommt?14

Dieser Punkt ist sehr interessant und würde weitere Ausführungen verdienen. Die entscheidende Frage der Bekräftigung unserer Kampfgemeinschaft gegen alle falschen kapitalistischen Gemeinschaften (politische, soziale, kulturelle, religiöse, „ethnische“ Gemeinschaften, …) umfasst voll und ganz die Dimension der Affekte und Verhaltensweisen (deren kollektive Akzeptanz noch lange nicht erreicht ist), und dies zu bekräftigen bedeutet, das hervorzuheben, was wir uns auf diesem verwüsteten Terrain wieder aneignen müssen, indem wir uns stärken und gemeinsam gegen die individuelle und relationale Entfremdung kämpfen, gegen die kollektive Reproduktion aller Formen der Entfremdung, deren Matrizen Rassismus, Sexismus und Ableismus sind.

Die gewaltsame Unterschlagung dieses lebenswichtigen Bedürfnisses besteht hingegen darin, die nicht weniger entscheidende Frage nach dem Inhalt des Kampfes verschwinden zu lassen, indem man die Frage nach den Affekten, dem Verhalten und den formalen Zeichen als Ersatz, als Kunstgriff, als Verschleierung benutzt. Dies ist der Fall in Bezug auf Rojava, mit einer Fülle von sehr emotionalen Zeugenaussagen, die zu diesem ideologischen Unterfangen beitragen. Nicht, dass diese Zeugenaussagen notwendigerweise falsch wären, aber sie werden von ihrer allgemeinen Dynamik isoliert, um uns vergessen zu lassen, dass das Echte – der Beginn der Befreiung von bestimmten sozialen Zwängen – ein Moment des Falschen sein kann, in diesem Fall der sogenannten „Revolution in Rojava“. Als Moment des Falschen verwirklicht sich das Wahre dann in der egalitären Erfüllung des patriotischen Opfers. Man kann den Himmel nicht mit nationalem Blei in den Flügel erstürmen.

Wir sind der Meinung, dass das Phänomen der Jineologie, der „Wissenschaft der Frauen“, die als Bestandteil des demokratischen Konföderalismus in Rojava gepriesen wird, als die andere Seite des vielfach propagierten „martialischen Feminismus“ analysiert werden sollte.

Wie Gilles Dauvé und Tristan Leoni richtig feststellten:

Der subversive Charakter einer Bewegung oder einer Organisation lässt sich nicht an der Anzahl der Frauen in Waffen messen. Ebenso wenig ist es der feministische Charakter. Seit den 1960er Jahren gab und gibt es in den meisten Guerillas auf allen Kontinenten sehr viele weibliche Kämpferinnen, z. B. in Kolumbien. Dies gilt noch mehr für maoistisch inspirierte Guerillas (Nepal, Peru, Philippinen usw.), die die Strategie des „Volkskriegs“ anwenden: Die Gleichstellung von Männern und Frauen soll dazu beitragen, die traditionellen, feudalen oder tribalen (immer patriarchalischen) Strukturen zu zerstören. Die Quelle dessen, was Fachleute als „martialischen Feminismus“ bezeichnen, liegt in den maoistischen Ursprüngen der PKK-PYD.“15

Hinzuzufügen ist, dass dieser Konföderalismus sich absolut nicht als Überwindung der falschen kapitalistischen (und insbesondere „ethnischen“) Gemeinschaften darstellt, sondern als ihre durchdachte Anordnung in der organisierten und systematischen Leugnung des Klassenwiderspruchs. Zum Vergleich: Im Iran 1979 sprachen sogar die muslimischen Oppositionsführer gegen das Schah-Regime von Klassenkampf, offensichtlich um die Kampfbewegung, die sich zu einem Aufstand zu entwickeln begann, besser begraben zu können.

In dem breiten Spektrum der „Unterstützung für Rojava“ spielen marxistisch-leninistische Organisationen wie die Parti Socialiste de Lutte und Secours Rouge (A.d.Ü., Rote Hilfe in frankophonen Ländern) eine aktive Rolle. Letztere flankiert sich in Brüssel mit selbstgefälligen „libertären“ Verbündeten als undogmatischen und antiautoritären Werbeträgern und wirbt für die Unterstützung des revolutionären Kampfes der Völker in Rojava und anderswo gegen die Islamisten, die USA, die NATO und die reaktionären Staaten!“ und fordert uns implizit auf, die Augen zu schließen – eine historisch bewährte marxistisch-leninistische-Manie – vor all den militärischen und geostrategischen Bündnissen, die dieses verbindende Banner widerlegt haben.

Die „alten Meinungsverschiedenheiten“ wurden an der Garderobe abgegeben, man sammelte für Pflaster und verteilte ihre Propaganda. Diese Organisationen sind weniger naiv als die „anarchistischen“ Unterstützer und sind sich der Tatsache bewusst (und sogar beruhigt), dass es in Rojava tatsächlich einen Staat gibt, umso mehr, wenn ihre lokalen Gegenstücke an den Schalthebeln der Macht sitzen. Der strategische Opportunismus dieser marxistisch-leninistischen Organisationen entspricht natürlich dem der PKK, die sie zusammen mit der PYD ebenfalls als „fortschrittlich“ im Gegensatz zu den reaktionären Nachbarstaaten“ betrachten – eine alte antiimperialistische Antithese -, während sie gleichzeitig die ökofeministisch-libertäre Fassadenrenovierung im Gewand eines ideologischen Paradigmenwechsels billigen. Wenn die Ablehnung der Grundlagen einer solchen Unterstützungsfront bedeutet, ein Purist zu sein, wie man es oft hört, dann ja, lasst uns entschiedene Puristen sein, mehr denn je und bis zum Ende!

Die Frage ist wie immer, uns nicht die sozialdemokratischen Blasen als revolutionäre Laternen erscheinen zu lassen, uns nicht in eine Kampagne zur Unterstützung jeglicher staatlicher, ökonomischer und sogar sozialer Umstrukturierung unter dem Deckmantel des revolutionären Internationalismus einzuwickeln. In Bezug auf Rojava wie auch auf die Ukraine ist das Argument, dass das, was vor Ort getan wird – und insbesondere von „Gefährtinnen und Gefährten“ unter „unserem“ Banner (Elend der Familie!) – mehr Wert hat als das, was wir hier darüber denken können, oder auch die Behauptung, dass dort gehandelt wird, während hier theoretisiert wird, die Negation einer internationalistischen Solidarität selbst, ihre Auflösung im Mythos des freien Willens und die Einschließung in nationale Lager. Jeder Kriegseintritt hat das Potenzial, soziale Widersprüche aufzuspalten, aber es gibt keinen Determinismus, und was zumindest in der ersten Zeit vorherrscht, ist die Vernachlässigung des Kampfes und die ideologische Unterwerfung. Die Aussetzung gegenüber Granatsplittern bietet keinen zusätzlichen Einblick.

Diese Versuche der Hierarchisierung, Trennung und Atomisierung im Namen des Status der „Betroffenen“ haben in der Tat einen sehr trivialen Ursprung. Jedes Mal, wenn der Anarchismus aufgibt, revolutionär zu sein, entleert er sich seiner Substanz und degradiert sich zu einer eifrigen Variante der Linken, während er sich selbst als solche ignoriert und sich kopfüber in seine abgedroschensten Phrasen stürzt: Selbstbestimmung der Völker, Antiimperialismus, nationale Befreiung, getrennter bewaffneter Kampf, Minimal- („realistische“) und Maximalprogramme (revolutionäre Rhetorik), weltweite Unterstützung aller Fronten der Klassenzusammenarbeit.

Nun bedeutet die Behauptung, dass die revolutionäre Bewegung internationalistisch ist, zu behaupten, dass „ die genossenschaftliche Kritik in alle Richtungen fließen muss, um ein konstruktiver Teil des Prozesses der Schaffung einer gemeinsamen Theorie und Praxis zu sein“.16

Eine Sache ist es, die soziale Dynamik zu analysieren und zu verstehen, die dazu führt, dass eine „genossenschaftlichere“ Art der (Markt-)Verwaltung gegen eine andere, die direkter von den Imperativen des Weltmarkts diktiert wird, gefordert oder verteidigt wird, d.h. eine Produktion, die einen gewissen Spielraum für den Lebensunterhalt lässt, gegen eine Ökonomie, die uns völlig entwurzelt und an die Industrie kettet … Eine andere Sache ist es, dies als „revolutionäres“ Programm oder als „Schritt zur Revolution“ zu akzeptieren. Eine andere Sache ist es, die politische Umsetzung dieser Illusion zu fördern, indem man eine „partizipativere“ und auf sozialen Frieden bedachte Politik gegen eine vertikalere und frontale Politik verteidigt. Eine andere Sache ist es, einen vollendeteren nationalen Zusammenschluss als „revolutionäre Selbstverteidigung“ zu verteidigen … ohne zu sehen, wie der Staat und damit das Kapital in vollem Umfang am Ruder bleiben. Denn genau dadurch werden wir immer wieder in denselben katastrophalen Sumpf zurückgeworfen, in den Schoß der Politik; dadurch wird auch der autoritäre Charakter der Ware und des Werts, die unser Leben beherrschen, sowie jede Aussicht auf eine radikale und endgültige Emanzipation von ihnen grundlegend geleugnet. Das ist die Schlangengrube der „Revolution in Rojava“, die man uns zu schlucken versucht, sei es aus politischem Opportunismus oder aus dem Bedürfnis nach Exotik, um einen völligen Verlust des revolutionären Sinns zu beheben.

Es ist auch wichtig zu sehen, dass diese Programme der „Volksdemokratie“, der direkten Demokratie, der partizipativen Demokratie oder der gemeinschaftlichen „guten Regierungsführung“ viel mehr eine ideologische Mobilisierungs- und Propagandarolle spielen, als pseudorevolutionäres Modell, das es zu verteidigen gilt, um die ideologische Matrix des Sozialismus in einem Land am Tropf zu halten (mit ökologischen, feministischen, inklusiven, antiautoritären Farben aktualisiert…), als dass sie eine echte Alternative zum Kapitalismus darstellen würden, die für die Erhaltung des sozialen Friedens auf der ganzen Welt von Bedeutung wäre.

Am Ende dieser kurzen Klarstellung möchten wir auf ein Thema zurückkommen, das ebenso missbraucht wird wie lebenswichtig ist: die Solidarität. Wie stichhaltig unsere Argumente auch sein mögen, würden wir sie nicht wie eine Mauer zwischen uns und denjenigen errichten, denen gegenüber wir zur Solidarität aufgerufen wurden? Haben wir das Recht, dazu aufzurufen, uns von einem „Experiment“ abzuwenden, das trotz seiner Schwächen und ideologischen Verirrungen unsere Unterstützung gegen seine Feinde braucht, die nicht zögern werden, uns zu unterstützen? Wäre es nicht besser, sich einer etwas zu breiten Solidaritätsfront anzuschließen, als zu riskieren, dass wir, wie David Graeber mahnte, ein historisches Treffen mit einer Notwendigkeit revolutionärer Solidarität verpassen? So aufrichtig die Absicht auch sein mag, diese Bemerkungen entspringen dennoch einer verkürzten und verzerrten Sicht dessen, was unsere Kampf- und Klassensolidarität sein sollte.

Dass man sich mit der Geschichte bis in die kleinsten Ereignisse hinein verabredet, können wir uns zu eigen machen, aber alles hängt davon ab, in welcher Strömung – oder Gegenströmung – der Geschichte man sich einschreiben will. Aus revolutionärer Sicht stellt uns die Frage der Solidarität vor folgende Alternative: Entweder wir geben uns der Verführung der „Kampffronten“ hin, indem wir unsere Prinzipien überstrapazieren, oder wir gehen vom Inhalt des Kampfes und seinen Perspektiven aus und bestätigen nicht nur, mit welchen Brüchen wir uns solidarisieren – ob diese sich in sporadischen Aktionen verkörpern oder von einer größeren Bewegung getragen werden -, sondern auch gegen was. Im Gegensatz zu dem, was der herrschende Relativismus und Zynismus verbreiten, sind Prinzipien von einem subversiven Standpunkt aus nicht das, was vom Denken befreit, sondern im Gegenteil die Art und Weise, wie wir unseren eigenen Kampf im historischen Faden seines Antagonismus zu allen Parteien der Ordnung denken, die im Laufe der Geschichte weltweit aufeinander folgten, seit dem Beginn der Klassengesellschaften, dieser Gesellschaften der Aneignung, der Ausbeutung, der Herrschaft, der Entfremdung.

Wir sprachen oben über das seifige Abgleiten eines gewissen verarmten und desorientierten Anarchismus in der karikaturistischsten Linken; die Frage der Solidarität ist davon nicht ausgenommen. Von einem internationalistischen Standpunkt aus verkörpert sich die Solidarität mit jedem sich radikalisierenden Bruch irgendwo auf der Welt vor allem im Kampf dort, wo man sich befindet, gegen die „eigenen“ Ausbeuter, gegen den „eigenen“ Staat, gegen jede Aufopferung. In Bezug auf Rojava wie auch auf den Rest der Welt läuft die höchste Stufe der linken Auffassung und Praxis der Solidarität auf Rekrutierung und stellvertretende Unterstützung hinaus: sich in den Dienst „der Sache“ stellen (hier oder sogar vor Ort) und „Unterstützung“ sammeln (Geld sammeln und Propaganda verbreiten), nachdem man zuvor den Frontismus, die Fahnen und die Verwischung der wesentlichen Abgrenzungen (Klassen, Staat) akzeptiert hat.

Ein Zitat, dessen Tragweite auf den Rest der Welt ausgeweitet werden kann, wird uns helfen, zum Schluss zu kommen:

„(…) dass die Ereignisse in Rojava, um wirklich revolutionär zu werden, über den bestehenden Inhalt hinausgehen müssen, der die Selbstverteidigung des Lebens, der Kultur, der Sprache, der Ethnie, des Territoriums, der lokalen Ökonomie, der Arbeitsplätze, der zivilen und religiösen Rechte darstellt. Die Ereignisse müssen sich weiterentwickeln. Zu dem Inhalt, der die offensive Phase darstellt. Dabei wird es nicht um zivilen Aktivismus und bloße demokratische Verwaltung gehen, sondern um den proletarischen Klassenkampf.“

„Weiter“ aber damit vor allem in eine ganz andere Richtung als die in Rojava eingeschlagene.

In der Praxis setzt dies Kampfformen voraus, die die Säulen des Kapitals wie Klassen, Eigentum, Tausch, Arbeit, Geld, Markt, Staat untergraben – und gleichzeitig nicht nur andere Organisationsformen, sondern vor allem einen anderen sozialen Inhalt schaffen. Dies ist in Rojava noch nicht der Fall. (…) Es geht nicht darum, sich von Rojava abzuwenden, aber auch nicht darum, alles, was dort geschieht, unkritisch zu unterstützen. Weder Ablehnung noch Romantik. Es geht darum, einen nüchternen, nicht propagandistischen Blick zu bewahren.“17

Die Wiederbelebung einer Klassen-, Kampf- und internationalistischen Solidarität beginnt damit, dass wir ideologische Anordnungen und Nicht-Wahlmöglichkeiten, die uns als unumgänglich präsentiert werden, ablehnen, mit der Selbstgefälligkeit gegenüber übergreifenden Unterstützungsfronten brechen und uns den entscheidenden, heiklen Fragen stellen, die oft auch „die Fragen, die ärgern“ sind, vor allem wenn die Kritik an Inhalten, Positionen und Praktiken als „Angriff“ oder „Verrat“ erlebt oder umgedreht wird. Es ist Teil des Kampfes, die Irrwege und Widersprüche, die in unserer Kampfgemeinschaft erlebt werden, aufzudecken und zu versuchen, zu ihrer Lösung beizutragen. Die Ziele der Kritik hinter all dem sind diejenigen, die uns wissentlich für ihre „militanten“ politischen Berechnungen benutzen, und darüber hinaus der Staat und die Gesellschaftsordnung, denen diese Berechnungen letztendlich zugute kommen.


1A.d.Ü., oder auch Rojava Revolution.

2Gilles Dauvé & Tristan Leoni, „Kurdistan?“, DDT21, 2015, https://ddt21.noblogs.org/?page_id=324. (Anm. auch von uns übersetzt)

3Die Abkürzung KCK steht für die „Gruppe der Gemeinschaften Kurdistans“, eine politische Struktur, die aus der PKK hervorgegangen ist und die PKK in der Türkei, die PYD in Syrien, die PJAK im Iran und die PÇDK im Irak sowie eine Reihe von sozialen Organisationen, die mehr oder weniger mit diesen Schwesterparteien verbunden sind, vereint. Die KCK wird von einer Art Parlament geleitet, das Kongra Gelê oder „Volkskongress von Kurdistan“ genannt wird.

4Auszug aus dem „ Brief an ‚rojavistischeFreunde “, unterzeichnet mit TKGV, den Initialen der Autoren, 2016, https://paris-luttes.info/lettre-a-des-amis-rojavistes-5649. (Anm. auch von uns übersetzt)

5A.d.Ü., oder auch Rojava Revolution.

6Gilles Dauvé & Tristan Leoni, „Kurdistan?“, op. Cit. (Anm. auch von uns übersetzt)

7Der Vertrag kann hier auf Französisch gelesen werden: https: //serhildan.org/un-nouveau-contrat-social-pour-le-rojava/.

8Dieser kritische englische Text stammt aus dem verstorbenen türkischsprachigen Blog Servet Düşmani („Feind des Reichtums“); er wurde von Třídní válka („Klassenkrieg“) ins Französische übersetzt: https: //www.autistici.org/tridnivalka/rojava-fantasmes-et-realites/ (Anm. auch von uns übersetzt)

9Ich habe die Zukunft gesehen, und sie funktioniert‘. -Kritische Fragen für die Unterstützer der Revolution in Rojava „, Veröffentlichung auf Englisch auf Libcom, französische Übersetzung von Třídní válka („Guerre de Classe“), https://www.autistici.org/tridnivalka/jai-vu-le-futur-et-ca-fonctionne/. (Anm. auch von uns übersetzt)

10Brief an ‚rojavistischeFreunde “, op. Cit. (Anm. auch von uns übersetzt)

11http://www.freemedialibrary.com/index.php/Declaration_of_Democratic_Confederalism_in_Kurdistan

12„Rojava Revolution“? „Antistaatlich“? „Antikapitalistisch“? Oder eine neue Mystifizierung?“, in: Class War 13/2021, https://www.autistici.org/tridnivalka/guerre-de-classe-13-2021-revolution-au-rojava-antietatique-anticapitaliste-ou-encore-une-nouvelle-mystification/. (Anm. auch von uns übersetzt)

13„Un aperçu du Rojava ou la critique comme une occasion de croissance et de développement“, französische Übersetzung in Guerre de classe 13/2021, op. cit.

14Gilles Dauvé & Tristan Leoni, „ Kurdistan? “, op. cit.

15Gilles Dauvé & Tristan Leoni, „ Kurdistan? “, op. cit.

16Un aperçu du Rojava ou la critique comme une occasion de croissance et de développement“, französische Übersetzung in Guerre de classe 13/2021, op. cit.

17Un aperçu du Rojava ou la critique comme une occasion de croissance et de développement“, französische Übersetzung in Guerre de classe 13/2021, op. cit.

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