Vor langer Zeit veröffentlicht, ist nach wie vor „Ai ferri corti con l‘Esistente, i suoi difensori e i suoi falsi critici“, so der Titel im Original, ein wichtiger Beitrag für die Debatte unter anarchistischen Gruppen und Individuen. Wir graben den Text wieder aus, da der Anarchismus so viele Feinde innerhalb wie außerhalb seiner Reihen hat und wir diesen bald auch brauchen werden.
In offener Feindschaft mit dem Bestehenden seinen Verteidigern und seinen falschen Kritikern
I
« Jeder kann dem Umherirren in der Sklaverei dessen, was er nicht kennt, ein Ende setzen – und, das Angebot leerer Worte zurückweisend, in offener Feindschaft dem Leben entgegentreten. »
C. Michelstaedter
Das Leben ist nichts anderes, als eine beständige Suche nach etwas, woran man sich festhalten kann. Man steht morgens auf, um sich ein paar Stunden später wieder ins Bett zu legen, wie traurige Pendler zwischen Lustlosigkeit und Müdigkeit. Die Zeit vergeht und treibt uns mit Sporen an, die immer weniger lästig scheinen. Auch die Last der sozialen Pflichten scheint uns nicht mehr den Rücken zu brechen, so dass wir sie überall mit uns tragen. Wir gehorchen, ohne uns noch die Mühe zu machen, ‘Ja‘ zu sagen. Der Tod wird durch das Leben gesühnt, schrieb der Dichter aus einem anderen Schützengraben.
Wir können ohne Leidenschaft und ohne Träume leben – dies ist die grosse Freiheit, die uns diese Gesellschaft bietet. Wir können ungehemmt sprechen, vor allem über all die Dinge, von denen wir nichts verstehen. Wir können alle Meinungen der Welt vertreten, selbst die gewagtesten, und hinter dem Gewirr von Stimmen verschwinden. Wir können unseren Lieblingskandidaten wählen und im Gegenzug das Recht einfordern, uns beschweren zu dürfen. Wir können jederzeit den Kanal wechseln, falls er uns dogmatisch zu werden scheint. Wir können uns zu festgelegten Zeiten amüsieren und mit immer höherer Geschwindigkeit traurig identische Landschaften durchqueren. Wir können uns wie junge Hitzköpfe aufführen, bevor wir eimerweise eiskalten, gesunden Menschenverstand verabreicht bekommen. Wir können nach belieben heiraten; so heilig ist die Ehe. Wir können uns sinnvoll betätigen und, falls wir wirklich kein Schreibtalent haben, Journalisten werden. Wir können auf tausend Arten Politik machen und sogar von exotischen Guerillas sprechen. In der Karriere sowie im Gefühlsleben können wir uns, falls wir es nicht schaffen, selbst zu befehligen, noch immer durch Gehorsamkeit profilieren. Auch durch Gehorsamkeit können wir zum Märtyrer werden, denn allem Anschein zum trotz, benötigt diese Gesellschaft noch immer Helden.
Unsere Dummheit wird bestimmt nicht grösser als jene der Anderen erscheinen. Falls wir nicht fähig sind, uns zu entscheiden, kein Problem, dann lassen wir eben die Anderen wählen. Anschliessend werden wir Position beziehen, wie man im Jargon der Politik und des Spektakels sagt. An Rechtfertigungen mangelt es nie, besonders nicht in einer Welt, die sie alle schluckt.
Auf diesem grossen Jahrmarkt der Rollen haben wir alle einen loyalen Verbündeten: das Geld. Demokratisch par excellence, schaut es niemandem ins Gesicht. In seiner Begleitschaft kann uns keine Ware und keine Dienstleistung dieser Welt verwehrt werden. Wer auch immer sein Besitzer ist, er fordert mit der Kraft einer ganzen Gesellschaft. Natürlich, dieser Verbündete gibt nie genug von sich selbst und vor allem gibt er sich auch nicht allen. Doch seine besondere Hierarchie vereinigt in ihren Werten das, was sich in den Lebensbedingungen entgegensteht. Wenn man es besitzt, hat man allen Grund dazu, wenn es mangelt, hat man nicht weniger Milderungsgründe.
Mit etwas Übung könnten wir ganze Tage ohne die geringste Idee verbringen. Die tägliche Routine übernimmt das Denken für uns. Von der Arbeit bis zur “Freizeit” dreht sich alles um den Erhalt des Überlebens. Es gibt immer irgendetwas, woran wir uns festhalten können. Im Grunde liegt die erstaunlichste Eigenschaft der heutigen Gesellschaft darin, die “kleinen Alltagskomforte” und die zum greifen nahe Katastrophe nebeneinander existieren zu lassen. Parallel zur technologischen Verwaltung des Bestehenden, schreitet auch die Ökonomie mit der verantwortungslosesten Unkontrollierbarkeit voran; man wechselt von Unterhaltung zu Massenmassakern mit der disziplinierten Leichtfertigkeit von vorberechneten Gesten. Der Kauf und Verkauf des Todes erstreckt sich über den gesamten Raum und die gesamte Zeit. Risiko und gewagter Aufwand existieren nicht mehr; es bleibt nur noch die Sicherheit oder das Desaster, die Routine oder die Katastrophe. Überlebende oder Untergehende. Lebende, niemals.
Mit etwas Übung könnten wir mit geschlossenen Augen von Zuhause zur Schule, vom Büro zum Supermarkt oder von der Bank zur Diskothek gehen. Langsam begreifen wir die ganze Weisheit jener Worte eines alten Griechens: « Auch die Schlafenden halten die Ordnung der Welt aufrecht. »
Es ist Zeit mit diesem Wir zu brechen, mit dieser Wiederspiegelung der einzigen Gemeinschaft, die gegenwärtig existiert, jener der Autorität und der Waren.
Ein Teil dieser Gesellschaft hat alles Interesse daran, dass die Herrschaft dieser Ordnung fortbesteht, der andere daran, dass alles so bald wie möglich kollabiert. Sich für eine Seite zu entscheiden, ist der erste Schritt. Doch überall herrschen die Resignierten – die wirkliche Basis zur Übereinkunft beider Seiten –, die Verbesserer des Bestehenden und dessen falsche Kritiker. Überall, auch in unserem Leben – dem echten Ort des sozialen Krieges –, unseren Träumen und unserer Entschlossenheit, sowie in unseren kleinen, alltäglichen Unterwerfungen.
All dem muss in offener Feindschaft entgegengetreten werden, um endlich das Leben selbst herauszufordern.
II
« Die Dinge, die notwendigerweise gelernt sein müssen, um sie zu tun, erlernen wir, indem wir sie tun. »
Aristoteles
Das Geheimnis liegt darin, wirklich zu beginnen.
Die gegenwärtige soziale Organisation schiebt nicht nur jegliches Ausleben der Freiheit hinaus, sondern verhindert und verdirbt es auch. Um zu erfahren, was Freiheit ist, gibt es keinen anderen Weg, als mit ihr zu experimentieren. Und um mit ihr zu experimentieren, braucht man den nötigen Raum und die nötige Zeit.
Die wichtigste Grundlage einer freien Handlung ist der Dialog. Nun, ein wirklich gemeinsamer Diskurs muss in sich zwei Voraussetzungen vereinen: Ein reelles Interesse der Individuen an den Fragen, die in der Diskussion aufgeworfen werden (das Problem des Inhalts) und eine freie Suche nach möglichen Antworten (das Problem der Methode). Diese beiden Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein, da der Inhalt die Methode bestimmt und umgekehrt. Von Freiheit kann nur in Freiheit geredet werden. Was nützen die Fragen, wenn wir nicht frei darauf antworten können? Was nützt es zu Antworten, wenn die Fragen falsch sind? Der Dialog existiert nur, wenn die Individuen ohne Mediation miteinander sprechen können, das heisst, wenn ihre Beziehung auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn der Diskurs einseitig geführt wird, ist eine Kommunikation unmöglich. Wenn jemand die Macht besitzt, die Fragen zu bestimmen, wird deren Inhalt genau seinen Zwecken entsprechen (und die Antworten werden in ihrer Methode die Zeichen der Unterwerfung tragen). Einem Untertan können ausschliesslich Fragen gestellt werden, deren Antworten seine Rolle als Untertan bestätigen, und aus eben dieser Rolle entnimmt der Herrscher die zukünftigen Fragen. Die Versklavung besteht also darin, weiterhin zu antworten, denn die Fragen der Herrschenden enthalten in sich selbst bereits die Antwort.
In diesem Sinne sind Marktforschungen identisch mit Wahlen. Die Souveränität des Wählers entspricht der Souveränität des Konsumenten und umgekehrt. Wenn die Passivität des Fernsehens eine Rechtfertigung braucht, spricht man von Audienz; wenn der Staat eine Legitimierung für seine eigene Macht braucht, spricht man vom souveränen Volk. In beiden Fällen sind die Individuen bloss Geiseln eines Mechanismus, der ihnen das Recht zu Reden zugesteht, nachdem er ihnen die Möglichkeit, es zu tun entzogen hat. Wo bleibt der Dialog, wenn man bloss zwischen dem einen oder anderen Kandidaten wählen kann? Wo bleibt die Kommunikation, wenn man bloss zwischen unterschiedlich identischen Waren und Fernsehprogrammen wählen kann? Der Inhalt der Fragen wird bedeutungslos, denn die Methode ist falsch.
« Nichts gleicht einem Repräsentanten der Bourgeoisie mehr, als ein Repräsentant des Proletariats », schrieb Sorel 1907. Das, was sie einander gleich machte, war die schlichte Tatsache, ein Repräsentant zu sein. Heute dasselbe über rechte oder linke Wahlkandidaten zu sagen, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Banalität. Die Politiker brauchen nicht originell zu sein (darum kümmern sich die Werbefachleute), es reicht, wenn sie diese Banalitäten zu verwalten wissen. Die schreckliche Ironie ist, dass die Massenmedien als Kommunikations-Mittel definiert werden und der Abstimmungszirkus als Wahl (was im ursprünglichen Sinn des Wortes für eine freie und bewusste Entscheidung steht).
Der Punkt ist, dass die Macht keine andere Handhabung zulässt. Selbst wenn man es wollte (womit wir uns bereits inmitten der “Utopie” befänden, um mit den Worten der Realisten zu sprechen), könnte nichts Bedeutendes von den Wählern verlangt werden, denn die einzige, freie Handlung – die einzige, wirkliche Wahl – die sie vollbringen könnten, wäre mit dem Wählen aufzuhören. Jemand, der sich an Wahlen beteiligt, kann sich gar nichts anderes als belanglose Fragen stellen, denn authentische Fragen lassen Passivität und Delegation nicht zu. Lasst uns das genauer erklären.
Nehmen wir an, der Kapitalismus soll durch ein Referendum abgeschafft werden (ungeachtet der Tatsache, dass eine solche Forderung innerhalb der heutigen, sozialen Verhältnisse unmöglich ist). Bestimmt würden die meisten Wähler für den Kapitalismus stimmen, und zwar aus dem schlichten Grund, dass man sich, während man gerade gemütlich das Haus, das Büro oder den Supermarkt verlässt, gar keine Welt ohne Waren und ohne Geld vorstellen kann. Doch selbst wenn dagegen gestimmt würde, würde sich nichts ändern, denn eine solche Forderung muss die Wähler ausschliessen, um authentisch zu sein. Eine ganze Gesellschaft kann nicht per Anordnung umgewälzt werden.
Dieselbe Überlegung kann auch auf weniger radikale Fragen angewandt werden. Nehmen wir das Beispiel eines Wohnviertel: Was wäre (wir befinden uns wieder inmitten der “Utopie” ), wenn sich die Bewohner über die Organisation ihrer Lebensräume (Häuser, Strassen, Plätze, usw.) aussprechen könnten? Lasst uns gleich klarstellen: Die Wahl der Bewohner wäre von Anfang an und unvermeidlich eine begrenzte; die Viertel sind das Ergebnis einer Verlagerung und Konzentrierung der Bevölkerung zugunsten der ökonomischen Anforderungen und der sozialen Kontrolle. Versuchen wir uns trotzdem eine andere Organisation dieser Ghettos vorzustellen. Ohne Furcht widerlegt zu werden, könnte man behaupten, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesbezüglich dieselben Ideen wie die Polizei haben würde. Und falls dem nicht so wäre (wenn eine Praxis des Dialogs, wenn auch eine begrenzte, das Verlangen nach einer neuen Umgebung entstehen liesse), dann würde man die Ghettos explodieren sehen. Wie versöhnt man in der heutigen sozialen Ordnung das Interesse des Autoherstellers mit dem Willen der Bevölkerung zu atmen; das freie Umherziehen der Individuen und die Angst der Besitzer von Luxusgeschäften; die Kinderspielplätze und den Beton von Parkplätzen, Banken und Einkaufszentren? Und all die leeren und verlassenen Häuser in den Händen von Spekulanten? Und die Wohnblöcke, die den Kasernen so schrecklich ähneln, die den Schulen so schrecklich ähneln, die den Krankenhäusern so schrecklich ähneln, die den psychiatrischen Kliniken so schrecklich ähneln? Das Verschieben einer kleinen Mauer in diesem Schreckenslabyrinth, bedeutet das ganze Projekt in Frage zu stellen. Je weiter wir uns von einer polizeilichen Betrachtung der Umwelt entfernen, desto näher rückt eine Konfrontation mit der Polizei.
« Wie kann man im Schatten einer Kapelle frei denken? », schrieb während des Pariser Mai eine anonyme Hand auf die heilige Stätte der Sorbonne. Diese einwandfreie Frage ist von umfassender Bedeutung. Jede wirtschaftlich und religiös gedachte Umgebung kann nichts anderes als wirtschaftliche und religiöse Wünsche auferlegen. Eine geschlossene Kirche wird weiterhin das Haus Gottes bleiben. In einem verlassenen Einkaufszentrum werden die Waren weiter quasseln. Der Hof einer unbenutzten Kaserne enthält noch immer den Marschschritt der Soldaten. In diesem Sinne hatten diejenigen Recht, die sagten, dass die Zerstörung der Bastille ein sozialpsychologischer Akt war. Keine Bastille kann auf eine andere Art genutzt werden, denn die Mauern würden weiterhin die Geschichte von gefangenen Körpern und Sehnsüchten erzählen.
Die Zeit der Leistungen, der Verpflichtungen und der Langeweile vermählt sich mit den Räumen der Konsumption in einer ununterbrochenen Trauerhochzeit. Die Arbeit reproduziert das soziale Umfeld, welches die Resignation bei der Arbeit reproduziert. Man liebt die Abende vor dem Fernseher, weil man den ganzen Tag im Geschäft und in der U-Bahn verbracht hat. Das Schweigen in der Fabrik lässt das Geschrei im Stadion wie versprochenes Glück erscheinen. Die Schuldgefühle in der Schule sind ein Bekenntnis für die idiotische Verantwortungslosigkeit des Samstagabends in der Disco. Die Werbung des Club Med lässt nur die Augen von Mc Donald’s Besuchern träumen. Et cetera.
Man muss mit der Freiheit zu experimentieren wissen, um frei zu sein. Man muss sich befreien, um mit der Freiheit experimentieren zu können. Innerhalb der gegenwärtigen sozialen Ordnung verhindern Zeit und Raum das Experimentieren mit der Freiheit, weil sie die Freiheit zu experimentieren unterdrücken.
III
« Die Tiger der Wut sind weiser als die Pferde der Belehrung. »
W. Blake
Nur durch den Umsturz der Imperative von Zeit und sozialem Raum können neue Beziehungen und neue Umgebungen gedacht werden. Ein alter Philosoph sagte einmal, dass man nur ausgehend von dem, was man kennt, begehren kann. Die Begierden können sich nur ändern, wenn sich das Leben ändert, das sie entstehen lässt. Um es deutlich auszudrücken, der Aufstand gegen die Zeiten und Orte der Macht ist eine materielle und gleichzeitig eine psychologische Notwendigkeit.
Bakunin sagte, Revolutionen werden aus drei Vierteln Fantasie und einem Viertel Realität gemacht. Das Wichtige ist, zu verstehen, woher diese Fantasie entspringt, die die generalisierte Revolte losbrechen lässt. Die Entfesselung aller bösen Leidenschaften, wie ein russischer Revolutionär sagte, ist die unwiderstehliche Kraft der Transformation. Auch wenn all dies die Resignierten oder die kalten Analytiker der historischen Bewegungen des Kapitals zum lächeln bringen mag, könnten wir behaupten – wenn uns ein solcher Jargon nicht anwidern würde –, dass eine solche Vorstellung der Revolution äusserst modern ist. Die Leidenschaften sind böse*, da sie gefangen sind, erstickt von der Normalität, diesem kältesten aller eisigen Monster. Doch sie sind auch böse, weil sich der Wille zu Leben, anstatt unter der Last der Pflichten und Masken unterzugehen, in das genaue Gegenteil verwandelt. Unter dem Zwang der alltäglichen Leistungen verleugnet sich das Leben und erscheint in der Rolle des Dieners wieder; verzweifelt nach Raum suchend, wird es zu traumartiger Anwesenheit, physischer Angespanntheit, nervösen Ticks und idiotischer Gruppengewalt. Wird der unerträgliche Charakter der aktuellen Lebensbedingungen angesichts der massiven Verbreitung von Psychopharmakas (dieser neuen Intervention des Sozialstaates) nicht offensichtlich? Die Herrschaft verwaltet überall die Gefangenschaft und rechtfertigt dies durch das, was wiederum ihr eigenes Produkt ist: die Boshaftigkeit. Der Aufstand stellt sich beidem entgegen.
Wenn man sich selbst und den Anderen nicht etwas vormachen will, kann kein Individuum, das für die Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Struktur kämpft verbergen, dass die Subversion ein wildes und barbarisches Kräftespiel ist. Der Eine nannte sie Kosaken, ein anderer die Kanaille, in Wirklichkeit sind es all die Individuen, denen der soziale Frieden nicht die Wut genommen hat.
Doch wie erschafft man aus Wut eine neue Gemeinschaft? Lasst uns ein für alle mal mit den Illusionen der Dialektik Schluss machen. Die Ausgebeuteten sind nicht Träger irgendeines positiven Projektes, im Sinne einer klassenlosen Gesellschaft (all dies sieht dem produktiven Muster allzu ähnlich). Ihre einzige Gemeinschaft ist das Kapital, dem sie sich nur entziehen können, indem sie alles zerstören, was sie zu Ausgebeuteten macht: den Lohn, die Waren, die Rollen und die Hierarchien. Der Kapitalismus präparierte nicht die Grundlage seiner eigenen Überwindung durch den Kommunismus – die berühmte Bourgeoisie, die “die Waffen ihres eigenen Untergangs schmiedet” – sondern jene, einer Welt des Schreckens.
Die Ausgebeuteten haben nichts selbstzuverwalten, ausser die eigene Negation als Ausgebeutete. Nur so werden ihre Bosse, ihre Führer und ihre Verfechter zusammen mit ihnen verschwinden. In dieser “immensen Arbeit dringender Zerstörung” müssen wir so schnell wie möglich Freude finden.
Bei den Griechen bezeichnete das Wort “Barbar” nicht nur den Fremden, sondern auch den “Stotterer”, wie man diejenigen mit Verachtung bezeichnete, die die Sprache der Polis nicht korrekt beherrschten. Sprache und Territorium sind zwei untrennbare Realitäten. Das Gesetz legt die Grenzen fest, denen die Ordnung der Benennung Achtung verschafft. Jede Machtstruktur hat seine Barbaren und jeder demokratische Diskurs hat seine Stotterer. Die Warengesellschaft will deren hartnäckige Präsenz – durch Ausschluss und Verschweigen – verbannen, als ob Nichts wäre. In eben diesem Nichts begründet sich die Rebellion. Keine Ideologie des Dialogs und der Partizipation wird jemals einem jeden die Ausgrenzung und die internen Kolonien verhüllen können. Wenn die alltägliche Gewalt des Staates und der Wirtschaft die böse Seite zum explodieren bringt, braucht man sich nicht wundern, wenn manche die Füsse auf den Tisch legen und sich weigern zu diskutieren. Nur durch Leidenschaften kann eine Welt des Todes verjagt werden. Die Barbaren lauern um die Ecke.
IV
« Wir müssen alle Modelle verlassen und
unsere Möglichkeiten studieren »
E. A. Poe
Notwendigkeit des Aufstands. Notwendigkeit, natürlich nicht im Sinne von etwas unabwendbarem (ein Ereignis, das früher oder später eintreten muss), sondern im Sinne der konkreten Voraussetzung einer Möglichkeit. Notwendigkeit des Möglichen. Das Geld ist notwendig in dieser Gesellschaft. Ein Leben ohne Geld ist möglich. Um mit diesem Möglichen zu experimentieren, ist es notwendig, diese Gesellschaft zu zerstören. Heute können wir nur mit dem experimentieren, was in sozialer Hinsicht notwendig ist.
Seltsamerweise sprechen die Leute, die den Aufstand als tragischen Fehler (oder je nach Geschmack, als unrealisierbaren, romantischen Traum) betrachten oft von sozialer Aktion und von dem Experimentieren mit Räumen der Freiheit. Dennoch reicht es aus, etwas an der Oberfläche solcher Argumente zu kratzen, um ihnen den ganzen Saft rauszulassen. Um frei zu handeln, ist es, wie bereits gesagt, notwendig, ohne Mediation miteinander sprechen zu können. Und nun sage uns jemand: Wie, wann und wo kann man heutzutage Dialoge führen?
Um frei zu diskutieren, muss man den sozialen Zwängen Zeit und Raum entreissen. In einem Wort, der Dialog ist nicht vom Kampf zu trennen. Er kann nicht separiert werden, sowohl materiell (um miteinander zu sprechen, muss man sich der auferlegten Zeit entziehen und die möglichen Räume ergreifen) als auch psychologisch (die Individuen sprechen gerne über das, was sie tun, denn nur so verändern die Worte die Realität.)
Was man vergisst, ist, dass wir alle in einem Ghetto leben, selbst wenn wir keine Miete bezahlen oder der Kalender viele Sonntage zählt. Wenn es uns nicht gelingt, dieses Ghetto zu zerstören, reduziert sich die Freiheit des Experimentierens auf eine ziemlich magere Sache.
Zahlreiche Libertäre denken, dass die soziale Veränderung stufenweise, ohne unerwarteten Bruch geschehen kann und muss. So sprechen sie von “nicht-staatlichen Sphären der Öffentlichkeit”, worin neue Ideen und Praktiken ausgearbeitet werden sollen. Lassen wir die wahrhaft komischen Aspekte der Frage beiseite (Wo ist der Staat abwesend? Wie soll man ihn ausklammern?). Man kann feststellen, dass die ideale Referenz dieser Diskurse die selbstverwaltende und föderalistische Methode ist, mit der Subversive zu gewissen historischen Momenten experimentierten (die Kommune von Paris, das revolutionäre Spanien, die Kommune von Budapest, usw.). Eine Banalität, die ausser Acht gelassen wird, ist, dass sich die Rebellen die Möglichkeit miteinander zu sprechen und die Realität zu verändern mit Waffen genommen haben. Man vergisst schlicht ein kleines Detail: den Aufstand. Man kann eine Methode (Quartiersversammlungen, direkte Entscheidungen, horizontale Verbindungen, usw.) nicht vom Kontext, der sie ermöglicht loslösen, und noch viel weniger, für die eine und gegen die andere Position ergreifen (mit Begründungen wie: « Es führt zu nichts, den Staat anzugreifen, wir müssen uns selbstorganisieren und die Utopie konkretisieren »). Noch bevor man in Betracht zieht, was beispielsweise die Arbeiterräte bedeuteten – und was sie heute bedeuten könnten –, ist es notwendig, sich die Bedingungen ins Bewusstsein zu rufen, unter denen sie geboren wurden (1905 in Russland, 1918-21 in Deutschland und Italien, usw.). Es handelte sich um aufständische Momente. Möge uns jemand erklären, wie es den Ausgebeuteten heute möglich sein soll, in ihrem eigenen Namen über Fragen von einer gewissen Wichtigkeit zu entscheiden, ohne gewaltsam die soziale Normalität zu durchbrechen; danach könnten wir von Selbstverwaltung und Föderalismus sprechen. Noch bevor man darüber diskutiert, was es hiesse, “nach der Revolution” die gegenwärtigen Produktionsstrukturen selbstzuverwalten, muss eine Basisbanalität hervorgehoben werden: die Bosse und die Polizei wären damit nicht einverstanden. Man kann nicht über eine Möglichkeit diskutieren, während die Bedingungen, die sie ermöglichen, ausser Acht gelassen werden. Jegliche Befreiungshypothese ist an einen Bruch mit der aktuellen Gesellschaft gebunden.
Nehmen wir uns einem letzten Beispiel an. Auch in libertären Kreisen wird von direkter Demokratie gesprochen. Man kann sofort erwidern, dass die anarchistische Utopie der Methode des Mehrheitsentscheides entgegengestellt ist. Sehr richtig. Doch Tatsache ist, dass niemend konkret von direkter Demokratie spricht. Lassen wir diejenigen beiseite, die als direkte Demokratie ihr exaktes Gegenteil durchgehen lassen, das heisst, die Erstellung von Bürgerlisten und die Beteiligung an Gemeindewahlen, und nehmen wir diejenigen, die sich wirkliche Bürgerversammlungen vorstellen, in denen man ohne Mediation miteinander sprechen kann. Worüber sollten sich die wohlgenannten Bürger aussprechen? Wie könnten sie anders antworten, ohne gleichzeitig auch die Fragen zu ändern? Wie soll die Trennung zwischen einer angeblichen, politischen Freiheit und den aktuellen ökonomischen, sozialen und technologischen Verhältnissen aufrechterhalten werden? Kurzum, wie man es auch dreht, das Problem der Zerstörung bleibt bestehen. Es sei denn, man ist der Meinung, dass nur eine technologisch zentralisierte Gesellschaft gleichzeitig föderalistisch sein kann; oder, dass die generalisierte Selbstverwaltung in diesen wahrhaften Gefängnissen, die die heutigen Städte darstellen existieren kann. Zu sagen, dass sich all dies stufenweise ändern wird, läuft bloss darauf hinaus, die Angelegenheit zu verschleiern. Ohne verbreitete Revolte kann überhaupt keine Veränderung begonnen werden. Der Aufstand ist die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, die sich, wenn die Maske der Spezialisierungen des Kapitals einmal gefallen ist, dem Abenteuer der Freiheit öffnet. Es stimmt, der Aufstand alleine bringt keine Antworten mit sich, er beginnt bloss, Fragen zu stellen. Die Frage ist also nicht, schrittweise oder abenteuerlich zu Handeln. Die Frage ist, zu handeln oder davon zu träumen, es zu tun.
Die Kritik der direkten Demokratie (um bei diesem Beispiel zu bleiben) muss diese letztere in ihrer konkreten Dimension in Betracht ziehen. Nur so kann sie weiter gehen, indem man darüber nachdenkt, was die sozialen Grundlagen der individuellen Autonomie sind. Nur so kann sich dieses Darüberhinausgehen unmittelbar in eine Methodes des Kampfes verwandeln. Die Subversiven befinden sich heute wieder in der Situation, die Hypothesen anderer kritisieren zu müssen, indem sie diese auf eine korrektere Weise definieren, als es ihre eigenen Verteidiger tun.
Um die eigenen Messer nachzuschleifen.
V
« Es ist eine axiomatische Wahrheit, eine Lapalie, dass die Revolution nur gemacht werden kann, wenn es ausreichend Kräfte gibt, um sie zu machen. Doch es ist eine historische Wahrheit, dass sich die Kräfte, die den Wandel und die sozialen Revolutionen bestimmen, nicht durch Volkszählungen messen lassen. »
E. Malatesta
Die Idee eines sozialen Wandels ist heute ausser Mode. Die “Massen”, so sagt man, sind völlig eingeschläfert und in die sozialen Normen integriert. Aus einer solchen Feststellung kann man mindestens zwei Schlussfolgerungen ziehen: Die Revolte ist nicht möglich; die Revolte ist nur mit wenigen möglich. Die erste Schlussfolgerung kann ihrerseits entweder in einen offen institutionellen Diskurs (Notwendigkeit zu Wählen, legale Eroberungen) oder in den sozialen Reformismus (syndikalistische Selbstorganisation, Kämpfe für kollektive Rechte, usw.) auseinanderfallen. Gleichermassen kann die zweite Schlussfolgerung entweder einen klassisch avantgardistischen Diskurs begründen, oder einen anti-autoritären Diskurs der permanenten Agitation.
Als Einleitung kann angemerkt werden, dass die scheinbar entgegengesetzten Hypothesen im Verlaufe der Geschichte eine gemeinsame Ausgangslage hatten.
Wenn man beispielsweise den Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Bolschewismus betrachtet, wird ersichtlich, dass sie beide von der Voraussetzung ausgehen, dass die Massen kein revolutionäres Bewusstsein besitzen und folglich geführt werden müssen. Sozialdemokraten und Bolschewisten unterscheiden sich nur in der Methode – reformistische Partei oder revolutionäre Partei, parlamentarische Strategie oder gewaltsame Machtergreifung –, womit sie dasselbe Programm durchsetzen: Von Ausserhalb den Ausgebeuteten ein Bewusstsein zu verleihen.
Nehmen wir die Hypothese einer “minoritären”, subversiven Praxis, die das leninistische Modell ablehnt. In einer libertären Perspektive verlässt man entweder jeglichen aufständischen Diskurs (zugunsten einer offen abgesonderten Revolte), oder man muss sich früher oder später dem Problem der sozialen Wirkungskraft der eigenen Ideen und Praktiken stellen. Wenn wir die Frage nicht im Rahmen linguistischer Wendungen einschliessen wollen (indem man beispielsweise sagt, dass die Thesen, die wir unterstützen, bereits in den Köpfen der Ausgebeuteten sind, oder, dass die eigene Rebellion bereits zu einer verbreiteten Bedingung gehört), drängt sich eine Tatsache auf: Wir sind isoliert – Um nicht zu sagen: Wir sind wenige.
Sich mit wenigen zu bewegen stellt nicht nur keine Grenze dar, es bedeutet auch, die soziale Veränderung auf eine andere Weise zu denken. Die Libertären sind die Einzigen, die sich eine Dimension des kollektiven Lebens vorstellen, das nicht der Existenz von Machtzentren untergeordnet ist. Die wirkliche, föderalistische Hypothese ist eben die Idee, die Abmachungen unter den freien Vereinigungen von Individuen ermöglicht. Die Affinitätsbeziehungen sind eine Art und Weise, die Vereinigung nicht mehr auf Basis von Ideologien und quantitativem Anhang zu verstehen, sondern im Gegenteil, ausgehen von der gegenseitigen Kenntnis, dem Vertrauen und dem Teilen von Leidenschaften in einem Projekt. Die Affinität innerhalb der Projekte und die Autonomie der individuellen Handlung bleiben jedoch tote Buchstaben, wenn es nicht gelingt, sie auszuweiten, ohne dass sie für angeblich übergeordnete Notwendigkeiten aufgeopfert werden. Die horizontale Verbindung ist das, was jegliche libertäre Praxis konkret werden lässt: eine informelle, tatsächliche Verbindung, die im Stande ist, mit jeglicher Repräsentation zu brechen. Eine zentralisierte Gesellschaft kommt ohne polizeiliche Kontrolle und ohne einen tödlichen technologischen Apparat nicht aus. Deshalb haben jene, die sich keine Gemeinschaft ohne staatliche Autorität vorstellen können, keine Mittel, um die Ökonomie, die den Planeten am zerstören ist, zu kritisieren; und jene, die sich keine Gemeinschaft von Einzigen denken können, haben keine Waffen gegen die politische Mediation. Die Idee des freien Experimentierens und der Vereinigung unter Gleichgesinnten [affini] als Grundlage für neue Beziehungen, macht hingegen eine komplette soziale Umwälzung möglich. Nur durch das Verlassen jeglicher Idee eines Zentrums (die Eroberung des Winterpalastes, oder, um mit der Epoche schrittzuhalten, des Staatsfernsehens), können wir ein Leben ohne Zwang und ohne Geld aufbauen. Somit ist die Methode des diffusen Angriffs eine Kampfform, die bereits eine andere Welt in sich trägt. Handeln, während alle das Warten predigen, während man nicht auf viel Unterstützung zählen kann, während man im Voraus nicht weiss, ob man Resultate erzielen wird – handeln bedeutet so, bereits das zu bekräftigen, wofür man kämpft: Eine Gesellschaft ohne Mass. Und hier enthält das Handeln in kleinen Gruppen von Gleichgesinnten seine wichtigste Qualität – jene, nicht ein schlichter, taktischer Ausweg zu sein, sondern gleichzeitig das eigene Ziel zu realisieren. Die Lüge der Übergangsperiode zu liquidieren (die Diktatur vor dem Kommunismus, die Macht vor der Freiheit, der Lohn vor der Plünderung, die Gewissheit von Resultaten vor der Handlung, die Finanzierungsanfragen vor der Enteignung, die “ethischen Banken” vor der Anarchie, usw.), bedeutet, aus der Revolte selbst ein anderes Mittel zu machen, die Beziehungen wahrzunehmen. Unmittelbar die technologische Hydra anzugreifen, bedeutet, sich ein Leben ohne Bullen in weissen Hemden zu denken (was heisst: ohne die ökonomische und wissenschaftliche Organisation, die sie notwendig macht); unmittelbar die Instrumente der medialen Domestizierung anzugreifen, bedeutet, von Bildern befreite Beziehungen aufzubauen (was heisst: von der alltäglichen Passivität befreit, die sie fabriziert). Jene, die schreien, dass es nicht mehr – oder noch nicht – Zeit ist, um zu rebellieren, enthüllen uns im Voraus, welcherart die Gesellschaft ist, für die sie kämpfen.
Das Verteidigen der Notwendigkeit eines sozialen Aufstands – einer unbezwingbaren Umwälzung, die mit der historischen Zeit bricht, um das Mögliche an die Oberfläche treten zu lassen – bedeutet hingegen eine einfache Sache zu sagen: wir wollen keine Führer. Heute ist der einzige konkrete Föderalismus die generalisierte Rebellion.
Um jegliche Form von Zentralisierung zurückzuweisen, ist es notwendig, die quantitative Idee des Kampfes zurückzulassen, das heisst, die Idee, die Ausgebeuteten aufzurufen, sich für einen frontalen Konflikt mit der Macht zu versammeln. Es ist notwendig, ein anderes Konzept von Stärke zu denken – um die Volkszählungszettel zu verbrennen und die Realität zu verändern.
« Regel Nummer Eins: Nicht in Massen bewegen. Aktionen zu dritt oder höchstens zu viert ausführen. Die Zahl der kleinen Gruppen muss so gross wie möglich sein und jede von ihnen muss lernen, schnell anzugreifen und zu verschwinden. Die Polizei kann eine Masse von tausend Personen mit einer einzigen Gruppe von hundert Kosaken niederschlagen. Es ist einfacher hundert Menschen zu besiegen als einen einzelnen, vor allem wenn er überaschend zuschlägt und mysteriös verschwindet. Die Polizei und die Armee sind machtlos, wenn Moskau von diesen kleinen, unangreifbaren Splittergruppen übersäht ist. […] Besetzt keine Festungen. Die Truppen werden sie stets erobern, oder schlicht mit ihrer Artillerie zerstören können. Unsere Stärken sollen Innenplätze sein, und alle Orte, von wo man leicht zuschlagen und einfach abhauen kann. Würden sie diese Orte einnehmen wollen, dann werden sie dort niemanden finden und hätten zahlreiche Männer verloren. Für sie ist es unmöglich, sie alle einzunehmen, denn, um dies zu tun, müssten sie jedes Haus mit Kosaken füllen. »
Anweisungen an die Aufständischen, Moskau
11.Dezember 1905
VI
« Die Poesie besteht darin, die Dinge ungesetzlich
zu vermählen und zu scheiden »
F. Bacon
Ein anderes Konzept von Stärke denken. Vielleicht liegt gerade darin die neue Poesie. Was ist im Grunde die soziale Revolte, wenn nicht ein generalisiertes Spiel von ungesetzlichen Vermählungen und Scheidungen zwischen den Dingen?
Die revolutionäre Stärke ist keine Stärke, die jener der Macht gleicht und ihr gegenübersteht. Wenn dies so wäre, wären wir schon im Voraus geschlagen, da jede Veränderung eine ewige Rückkehr des Zwangs bedeuten würde. Alles würde sich auf eine militärische Konfrontation reduzieren, auf einen makaberen Tanz von Bannern. Doch die wirklichen Bewegungen entziehen sich stets dem quantitativen Blick.
Staat und Kapital verfügen über die ausgefeiltesten Kontroll- und Repressionssysteme. Wie sich diesem Moloch engegensetzen? Das Geheimnis liegt in der Kunst des Zerlegens und wieder Zusammenfügens. Die Bewegung der Intelligenz ist ein fortwährendes Spiel von Brüchen und Korrespondenzen. Dasselbe gilt für die subversive Praxis. Die Technologie zu kritisieren, zum Beispiel, bedeutet, ihr allgemeines Ausmass zu begreifen, sie nicht als schlichte Gesamtheit von Maschinen zu betrachten, sondern als soziale Beziehung, als System; dies bedeutet, zu verstehen, dass ein technologisches Instrument die Gesellschaft widerspiegelt, die es produziert hat, und, dass seine Einführung die Beziehungen zwischen den Individuen verändert. Technologie zu kritisieren, heisst, die Unterordnung aller menschlichen Tätigkeiten unter die Zeit des Profits zu verweigern. Andernfalls würden wir uns selbst etwas vormachen, was ihre Auswirkung, ihre angebliche Neutralität und die Umkehrbarkeit ihrer Tragweite betrifft. Doch gleich darauf sollte man die Technologie in ihre tausend Verästelungen zerlegen; in ihre konkreten Realisierungen, die uns mit jedem Tag etwas mehr verstümmeln. Man muss verstehen, dass die Verbreitung der von ihr ermöglichten Produktions- und Kontrollstrukturen, die Sabotage einfacher machen. Ansonsten wäre es unmöglich, die Technologie anzugreifen. Dasselbe gilt für die Schule, die Kasernen und die Büros. Es handelt sich um Realitäten, die von den allgemeinen hierarchischen Verhältnissen und Warenbeziehungen nicht zu trennen sind, sich jedoch in präzisen Orten und Menschen konkretisieren.
Wie können wir – so wenig, wie wir sind – für Studenten, Arbeiter und Arbeitslose sichtbar werden? Wenn wir von Konsens und Bildern sprechen (eben, sich sichtbar machen), liegt die Antwort auf der Hand: Die Gewerkschaften und gewitzten Politiker sind stärker als wir. Woran es wiederum mangelt, ist die Fähigkeit, zusammenzufügen und voneinander zu scheiden. Der Reformismus nimmt sich der Details an und dies auf quantitative Weise: Er mobilisiert grosse Zahlen, um bestimmte Teilbereiche der Macht zu verändern. Eine globale Kritik der Gesellschaft hingegen kann eine qualitative Betrachtung der Aktion hervortreten lassen. Eben weil es keine revolutionären Zentren oder Subjekte gibt, denen man seine eigenen Projekte unterordnen könnte, verweist jeder Aspekt der sozialen Wirklichkeit auf die Gesamtheit, von der sie Teil ausmacht. Ob es sich um Umweltverschmutzung, das Gefängnis oder den Urbanismus handelt, ein wirklich subversiver Diskurs endet damit, alles in Frage zu stellen. Heute mehr denn je kann sich ein quantitatives Projekt (In permanenten Organisationen mit einem spezifischen Programm Studenten, Arbeiter oder Arbeitslose zu versammeln) bloss um ein Detail drehen, während es die Aktion ihrer wichtigsten Stärke beraubt – der Stärke, Fragen zu stellen, die nicht in kategorische Unterteilungen einzugrenzen sind (Studenten, Arbeiter, Migrant, Homosexueller, usw.). Dies gilt umso mehr, da der Reformismus immer unfähiger ist, auch nur irgendetwas zu reformieren (Man denke an die Arbeitslosigkeit, fälschlicherweise als – lösbarer – Fehler der ökonomischen Rationalität präsentiert). Irgendjemand sagte einmal, dass sogar das Bedürfnis nach unvergiftetem Essen bereits ein revolutionäres Projekt geworden ist, da es für dessen Befriedigung notwendig ist, alle sozialen Beziehungen zu verändern. Jegliche, an einen präzisen Verhandlungspartner gerichtete Forderung trägt ihr eigenes Scheitern bereits in sich, und sei es bloss, weil keine einzige Autorität – auch wenn sie es wollte – ein Problem von allgemeiner Bedeutung zu lösen vermag. An wen soll man sich wenden, um gegen die Luftverschmutzung anzukämpfen?
Die Arbeiter, die während eines Generalstreiks ein Transparent mit der Aufschrift Wir fordern nichts trugen, hatten verstanden, dass das Scheitern in der Forderung selbst liegt (“Gegen den Feind ist die Forderung unendlich” heisst es in einem der Zwölftafelgesetze). Es bleibt der Revolte überlassen, sich allem zu entledigen. Wie Stirner sagte: « Egal wieviel ihr ihnen abgebt, sie würden stets nach mehr fragen, denn was sie wollen, ist nichts geringeres als das Ende von jeglichem Zugeständnis ».
Und nun? Nun können wir daran denken, mit wenigen zu handeln ohne isoliert zu handeln, im Bewusstsein, dass ein paar gute Kontakte in explosiven Situationen zu mehr dienen, als grosse Zahlen. Die traurig fordernden, sozialen Kämpfe entwickeln sehr oft Methoden, die interessanter sind als ihre Ziele (eine Gruppe Arbeitsloser, zum Beispiel, die Arbeit fordert und schlussendlich ein Stellenvermittlungsbüro niederbrennt). Gewiss, wir können uns Abseits halten und sagen, dass Arbeit nicht gefordert sondern zerstört werden muss. Oder wir könnten versuchen, eine Verbindung zwischen der Kritik an der Ökonomie und dem leidenschaftlich abgebrannten Büro, oder der Kritik an Gewerkschaften und einem Diskurs über Sabotage zu machen. Jegliches spezifische Kampfziel enthält in sich, zum explodieren bereit, die Gewalt aller sozialen Beziehungen. Wie wir wissen, ist die Banalität ihres unmittelbaren Anlasses, die Visitenkarte der Revolten im Verlaufe der Geschichte.
Was könnte eine Gruppe von entschlossenen Gefährten in solchen Situationen tun? Nicht viel, wenn sie (beispielsweise) noch nicht darüber nachdachten, wie sie ein Flugblatt verteilen, oder an welchen Orte der Stadt sie eine Blockade ausbreiten könnten; und etwas mehr, wenn eine freudige und aufrührerische Intelligenz sie die grossen Zahlen und die grossen organisatorischen Strukturen vergessen lässt.
Ohne die Absicht, die Mythologie des Generalstreiks als den Aufstand entfesselnde Bedingung wiederzubeleben, ist es ziemlich klar, dass die Unterbrechung der sozialen Aktivität ein entscheidender Punkt bleibt. Was auch immer der Grund des aufständischen Konfliktes ist, die subversive Aktion muss auf eben diese Lähmung der Normalität abziehlen. Solange die Studenten weiterhin studieren, die Arbeiter – jene, die übrigbleiben – und die Angestellten weiterhin arbeiten und die Arbeitslosen weiterhin mit dem Suchen nach einer Arbeitsstelle beschäftigt sind, ist keine Veränderung möglich. Die revolutionäre Praxis bliebe den Leuten stets aufgesetzt. Eine von den sozialen Kämpfen getrennte Organisation nützt weder dazu, die Revolte zu entfesseln, noch ihre Wirkungskraft zu verbreitern und zu verteidigen. Wenn es stimmt, dass sich die Ausgebeuteten um diejenigen sammeln, die im Verlaufe des Kampfes die grössten, ökonomischen Vorteile garantieren können – wenn es also stimmt, dass jeder fordernde Kampf notwendigerweise einen reformistischen Charakter hat –, dann sind es die Libertären, die durch ihre Methoden (individuelle Autonomie, direkte Aktion, permanente Konfliktualität) danach drängen können, den Rahmen der Forderung zu übersteigen und alle sozialen Identitäten (Professor, Angestelter, Arbeiter, usw.) zu negieren. Eine spezifische, permanente Organisation von Libertären, die Forderungen stellt, würde abseits der Kämpfe bleiben (nur einige Ausgebeutete könnten sich entscheiden, an ihr teilzunehmen), oder die eigenen, libertären Charakterzüge verlieren (im Rahmen der syndikalistischen Kämpfe, sind die Syndikalisten die professionellsten). Eine von Revolutionären und Ausgebeuteten gebildete, organisatorische Struktur kann nur konfliktuell bleiben, wenn sie auf die Zeitlichkeit eines Kampfes, auf ein spezifisches Ziel und auf die Perspektive des Angriffs abgestimmt ist; schliesslich nur, wenn sie eine handelnde Kritik an Syndikaten und der Kollaboration mit den Bossen ist.
Im Moment kann man nicht sagen, dass die Kapazität der Subversiven, soziale Kämpfe (anti-militaristisch, gegen Umweltverschmutzung, usw.) zu lancieren bemerkenswert ist. Es bleibt noch immer die andere Hypothese (für all jene, wohlverstanden, die sich nicht ständig widerholen, dass “die Menschen mitschuldig und resigniert sind”, und gute Nacht den Träumern), jene einer autonomen Intervention in die Kämpfe – oder in die mehr oder weniger breiten Revolten –, die spontan entstehen. Falls man klare Diskurse über die Gesellschaft, für die die Ausgebeuteten kämpfen sucht (wie es ein raffinierter Theoretiker angesichts einer kürzlichen Streikwelle beabsichtigte), dann kann man in Ruhe Zuhause bleiben. Und falls man sich darauf beschränkt, “kritisch zuzustimmen” – was im Grunde nicht viel anders ist –, dann stellt man seine roten und schwarzen Flaggen schlicht neben jene der Parteien und Syndikate. Noch einmal, die Kritik des Details nimmt sich dem quantitativen Modell an. Wenn man denkt, man müsse während die Arbeitslosen vom Recht auf Arbeit sprechen, dies ebenso tun (mit der unerlässlichen Unterscheidung zwischen Lohnarbeit und “sozial nützlicher Aktivität”), dann wird der mit Demonstranten gefüllte Platz der einzige Handlungsort sein. Wie der alte Aristoteles wusste, gibt es keine mögliche Repräsentation ohne Einheit von Zeit und Ort.
Doch wer hat gesagt, dass wir – indem wir es praktizieren – zu den Arbeitslosen nicht von Sabotage, von der Abschaffung des Rechts oder der Weigerung den Anwalt zu bezahlen sprechen können? Wer hat gesagt, dass die Ökonomie im Verlauf eines Streiks auf der Strasse nicht woanders kritisiert werden darf? Das zu sagen, worauf der Feind nicht gefasst ist und da zu sein, wo er uns nicht erwartet.
Dies ist die neue Poesie.
VI
« Wir sind zu jung, wir können nicht länger warten. »
Wandgraffiti in Paris
Die Stärke eines Aufstands ist sozial, nicht militärisch. Das Mass, um die Auswirkung einer generalisierten Revolte abzuschätzen, ist nicht die bewaffnete Konfrontation, sondern vielmehr, in welchem Umfang die Ökonomie lahmgelegt und Produktions- und Distributionsstätten eingenommen wurden, das freie Geben jegliche Berechnung versengte und von den Pflichten und sozialen Rollen desertiert wurde; in einem Wort: die Umwälzung des Lebens.
Keine Guerilla, wie effektiv sie auch sein mag, kann diese überwältigende Bewegung der Zerstörung und Umformung ersetzen. Der Aufstand ist das anmutige Zutagetreten einer Banalität: Keine Macht kann herrschen, ohne die freiwillige Knechtschaft jener, die sie ertragen. Nichts bringt besser als die Revolte ans Licht, dass es die Ausgebeuteten selbst sind, die die mordende Ausbeutungsmaschine am Laufen halten. Die verbreitete und wilde Unterbrechung der sozialen Aktivität zieht plötzlich den Vorhang der Ideologie weg und lässt die wirklichen Kräfteverhältnisse hervortreten; so zeigt sich der Staat als das, was er ist – die politische Organisation der Passivität. Die Ideologie auf der einen und die schöpferische Fantasie auf der anderen Seite enthüllen nun ihr gesamtes materielles Gewicht. Die Ausgebeuteten entdecken schlicht eine Kraft, die sie schon immer besassen, und brechen mit der Illusion, dass sich die Gesellschaft von selbst reproduziert – oder irgendein Maulwurf ihr den Weg bereitet.
Sie erheben sich gegen ihre eigene, unterwürfige Vergangenheit – das, was eben der Staat** ist –, gegen die Gewohnheit, die zur Verteidigung der alten Welt errichtete wurde. Die Verschwörung von Aufständischen ist die einzige Gelegenheit, bei welcher die “Kollektivität” weder die Nacht ist, die den Flug der Glühwürmchen an die Polizei verrät, noch die Lüge, die aus der Summe der individuellen Unbehagen ein Allgemeingut macht, sondern das Schwarz, dass der Differenz die Stärke der Komplizenschaft verleiht. Das Kapital ist in erster Linie eine Gemeinschaft von Denunzianten, eine Vereinigung, die die Individuen schwächt, ein Zusammensein, das uns getrennt hält. Das soziale Bewusstsein ist eine Stimme in unserem Innern, die wiederholt: “die anderen akzeptieren es”. Die wirkliche Kraft der Ausgebeuteten richtet sich somit gegen sie selbst. Der Aufstand ist der Prozess, der diese Kraft befreit und sie auf die Seite der Lebensfreude und Autonomie trägt; es ist der Moment, in dem man gegenseitig denkt, dass die beste Sache, die man für die Anderen tun kann, ist, sich selbst zu befreien. In diesem Sinne ist er “eine kollektive Bewegung individueller Realisierung”.
Die Normalität der Arbeit und der “Freizeit”, der Familie und des Konsums tötet jede böse Leidenschaft für die Freiheit. (Selbst in diesem Moment, während wir diese Zeilen schreiben, sind wir von unseren Mitmenschen getrennt, und diese Trennung erleichtert den Staat um die Last, uns das Schreiben zu verbieten). Ohne einen gewaltsamen Bruch mit der Gewohnheit, ist keine Veränderung möglich. Doch Revolte ist stets das Werk von Minoritäten. Um sie herum gibt es die Masse, bereit sich zum Instrument der Herrschaft zu machen (für den rebellierenden Sklaven besteht die Macht zugleich aus der Gewalt des Meisters und aus der Unterwerfung der anderen Sklaven), oder durch Untätigkeit, die im Gange befindliche Veränderung hinzunehmen. An dem grössten, wilden Streik der Geschichte – jenem des Mai 68 – beteiligte sich bloss ein Fünftel der Bevölkerung eines einzigen Staates. Die einzige aus all dem zu ziehende Schlussfolgerung ist weder, die Macht an sich zu reissen, um die Massen zu führen, noch, dass es notwendig ist, sich als das Bewusstsein des Proletariats zu präsentieren; sondern schlichtwegs, dass es keinen Sprung von der heutigen Gesellschaft in die Freiheit geben kann. Die unterwürfige, passive Haltung ist keine Angelegenheit, die sich in einigen Tagen oder Monaten auflösen wird. Doch ihr Gegenteil muss sich Raum verschaffen und sich eigene Zeit nehmen. Die soziale Umwälzung ist bloss die Voraussetzung zum Aufbruch.
Die Verachtung der “Masse” ist nicht qualitativ, vielmehr ideologisch, also den herrschenden Vorstellungen unterworfen. Das Volk des Kapitals existiert, gewiss, aber es hat keine präzisen Konturen. Denn das Unbekannte und der Wille zu leben treten meuternd aus der anonymen Masse hervor. Zu sagen, wir seien die einzigen Rebellen in einem Meer aus Unterwerfung, ist im Grunde genommen beruhigend, denn es beendet das Spiel schon im Voraus. Wir sagen bloss, dass wir nicht wissen, wer unsere Komplizen sind, und dass es eines sozialen Sturmes bedarf, um diese aufzuspühren. Heute entscheidet jeder von uns darüber, inwiefern die Anderen nicht entscheiden können (indem man sein eigenes Entscheidungsvermögen aufgibt, lässt man eine Welt von Automaten funktionieren). Im Verlaufe des Aufstands vergrössert sich durch die Waffen die Möglichkeit zu Wählen und mit den Waffen gilt es, sie zu verteidigen; denn auf dem Kadaver des Aufstands, keimt die Reaktion. Auch wenn das aufständische Phänomen in seinen aktiven Kräften minoritär ist (doch in Bezug auf welche Masseinheit?), kann es äusserst weitreichende Dimensionen annehmen, und in dieser Hinsicht enthüllt es seine soziale Natur. Je umfangreicher und enthusiastischer die Rebellion ist, desto weniger wird die militärische Konfrontation zu seinem Mass. Mit der Ausbreitung der bewaffneten Selbstorganisation der Ausgebeuteten zeigt sich die ganze Gebrechlichkeit der sozialen Ordnung und verfestigt sich das Bewusstsein, dass die Revolte – ebenso wie die Hierarchien und Warenbeziehungen – überall ist. Wer hingegen an die Revolution als Staatsstreich denkt, hat eine militärische Auffassung der Konfrontation. Jegliche Organisation, die sich als Avantgarde der Ausgebeuteten hinstellt, neigt dazu, die Tatsache zu verbergen, dass die Herrschaft eine soziale Beziehung und nicht ein schlichtes zu eroberndes Hauptquartier ist; denn wie könnte sie sonst ihre Rolle rechtfertigen?
Das Nützlichste, was mit den Waffen getan werden kann, ist, sie so unnütz wie möglich zu machen. Aber das Problem der Waffen bleibt abstrakt, solange es nicht mit der Beziehung zwischen Revolutionären und Ausgebeuteten, zwischen Organisation und reeller Bewegung in Verbindung gebracht wird.
Allzuoft haben die Revolutionäre behauptet, das Bewusstsein der Ausgebeuteten zu sein und den Grad ihrer subversiven Reife zu repräsentieren. So ist die “soziale Bewegung” zur Rechtfertigung der Partei geworden (die in der leninistischen Version zu einer Elite von Berufsrevolutionären wird). Je mehr man von den Ausgebeuteten getrennt ist, desto mehr muss man eine Beziehung repräsentieren, die mangelt; hierin besteht der Teufelskreis. Die Subversion wird somit auf die eigenen Praktiken reduziert, und die Repräsentation wird zur Organisation einer ideologischen Erpressung – die bürokratische Version der kapitalistischen Aneignung. Die revolutionäre Bewegung identifiziert sich also mit ihrem “fortgeschrittensten” Ausdruck, demjenigen, der ihr Konzept realisiert. Die hegelianische Dialektik bietet ein perfektes Gerüst für diese Konstruktion.
Doch es gibt auch eine Kritik der Trennung und der Repräsentation, die das Warten rechtfertigt und der Rolle der Kritiker Wert beimisst. Unter dem Vorwand, sich nicht von der “sozialen Bewegung” zu trennen, endet man damit, jegliche Praxis des Angriffs, als “Flucht nach vorne” oder “bewaffnete Propaganda” anzuprangern. Ein weiteres Mal ist der Revolutionär dazu berufen, die wirklichen Bedingungen der Ausgebeuteten zu “entschleiern”, wenn auch durch seine eigene Untätigkeit. Demnach ist ausserhalb einer sichtbaren, sozialen Bewegung überhaupt keine Revolte möglich. Jene, die zur Tat übergehen, müssen sich also zwangsläufig an die Stelle der Proletarier setzen wollen. Die “radikale Kritik”, die “revolutionäre Erleuchtung” wird so zum einzigen zu verteidigenden Erbe. Das Leben ist ein Elend, man kann also nur das Elend theoretisieren. Die Wahrheit über alles. Auf diese Weise wird die Trennung zwischen den Subversiven und den Ausgebeuteten nicht im Geringsten beseitigt, sie wird bloss verschoben. Wir sind nicht Ausgebeutete an der Seite anderer Ausgebeuteter; unsere Träume, unser Wut und unsere Schwächen sind nicht Teil des Klassenkonfliktes. Wir können nicht handeln, wenn es uns danach ist: Wir haben eine Mission zu erfüllen – auch wenn sie sich selbst nicht so nennt. Es gibt also jene, die sich durch das Handeln für das Proletariat aufopfern und jene, die es durch die Passivität tun.
Diese Welt vergiftet uns, sie zwingt uns zu unnützen und schädlichen Handlungen, sie drängt uns die Notwendigkeit von Geld auf und beraubt uns der leidenschaftlichen Beziehungen. Wir werden alt, inmitten von Männern und Frauen ohne Träume, Fremde in einer Gegenwart, die unserem freizügigsten Elan keinen Platz übriglässt. Wir sind nicht Partisanen irgendeiner Selbstverleugnung. Das Beste was diese Gesellschaft anzubieten hat (eine Karriere, ein Ansehen, ein plötzlicher, grosser Gewinn, die “Liebe”) interessiert uns ganz einfach nicht. Das Erteilen von Befehlen ist uns genauso zuwider wie die Gehorsamkeit. Wir sind Ausgebeutete wie die Anderen und wir wollen unverzüglich mit der Ausbeutung Schluss machen. Die Revolte hat für uns keine weitere Rechtfertigung nötig.
Unser Leben entgleitet uns und jeglicher Klassendiskurs, der dies nicht zum Ausgangspunkt nimmt, ist nichts als eine Lüge. Wir wollen soziale Bewegungen weder dirigieren noch tragen, sondern an den bestehenden in dem Masse teilnehmen, wie wir in ihnen gemeinsame Ansprüche erkennen. In einer masslosen Perspektive der Befreiung gibt es keine übergeordneten Kampfformen. Die Revolte braucht alles, Zeitschriften und Bücher, Waffen und Sprengsätze, Überlegung und Blasphemie, Gifte, Dolche und Brandstiftungen. Die einzige interessante Frage ist, wie sie kombinieren?
VIII
« Es ist leicht ein Vogel zu treffen, der in gerader Linie fliegt. »
B. Gracián
Wir können das Verlangen, das eigene Leben umgehend zu verändern nicht nur verstehen, es stellt auch das einzige Kriterium dar, nach dem wir unsere Komplizen suchen. Dasselbe gilt für das, was man ein Bedürfniss nach Kohärenz nennen könnte. Der Wille seine Ideen auszuleben und die Theorie ausgehend von seinem eigenen Leben zu erschaffen, ist gewiss keine Suche nach Exemplarität (mit ihrer paternalistischen und hierarchischen Kehrseite), sondern im Gegenteil, die Verweigerung jeglicher Ideologie, einschliesslich jener der Freude. Noch bevor wir nachdenken, trennt uns die Art und Weise selbst, die Existenz zu betasten, von denjenigen, die sich mit den Lebensräumen, die sie in dieser Gesellschaft finden – und erhalten – zufriedenstellen können. Doch ebenso fern fühlen wir uns von jenen, die von der alltäglichen Normalität desertieren wollen, um sich der Mythologie der Klandestinität und der bewaffneten Organisation hinzugeben, was heisst, um sich in anderen Käfigen einzuschliessen. Überhaupt keine Rolle, wie gesetzlich Riskant sie auch sei, kann die reelle Veränderung der Beziehungen ersetzen. Es liegt keine Abkürzung zur Hand, es gibt keinen unmittelbaren Sprung ins Anderswo. Die Revolution ist kein Krieg.
Die unheilvolle Ideologie der Waffen hat schon in der Vergangenheit das Bedürfnis nach Kohärenz von einigen in eine Herdenmentalität von vielen verwandelt. Mögen sich die Waffen ein für alle mal gegen die Ideologie wenden.
Wer die Leidenschaft für soziale Umwälzung und eine “persönliche” Vision des Klassenkampfes besitzt, will sofort etwas tun. Wenn er den Wandel des Kapitals und des Staates analysiert, dann um sich für den Angriff zu entscheiden, und gewiss nicht, um mit klareren Ideen schlafen zu gehen. Wenn er die Verbote und Trennungen des herrschenden Gesetzes und der herrschenden Moral nicht verinnerlicht hat, dann mit der Absicht, alle Mittel zur Bestimmung der eigenen Spielregeln zu verwenden. Schreibfeder und Pistole sind für ihn in gleichem Masse Waffen, im Unterschied zum Schriftsteller und zum Soldaten, für welche die Dinge Berufsangelegenheiten und daher eine Warenindentität sind. Der Subversive bleibt subversiv, auch ohne die Feder oder die Pistole, solange er jene Waffe besitzt, die alle anderen enthält: seine Entschlossenheit.
Der “bewaffnete Kampf” ist eine Strategie, die in den Dienst eines beliebigen Projektes gestellt werden kann. Heute wird die Guerilla auch von Organisationen eingesetzt, deren Programm im Wesentlichen sozialdemokratisch ist; sie verteidigen ihre Forderungen schlicht mit einer militanteren Praxis. Politik lässt sich auch mit Waffen machen. In jeglicher Unterhandlung mit der Macht – das heisst, in jeder Beziehung, die sie als Gesprächspartner beibehält, wenn auch als Gegner – müssen sich die Verhandelnden als repräsentative Kraft darstellen. Eine soziale Realität zu repräsentieren, bedeutet aus dieser Sicht, sie auf die eigene Organisation zu reduzieren. Der beabsichtigte bewaffnete Konflikt ist folglich nicht diffus und spontan, sondern an diverse Unterhandlungsphasen gebunden. Die Organisation wird die Ergebnisse verwalten. Die Beziehungen zwischen den Organisationsmitgliedern, und zwischen diesen und dem Rest der Welt spiegeln als Folge das wieder, was ein autoritäres Programm ist; sie tragen die Hierarchie und die Unterwerfung in ihrem Herzen.
Das Problem ist bei denjenigen, die sich die gewalttätige Übernahme der politischen Macht zum Ziel machen nicht viel anders. Es geht ihnen darum, Propaganda für ihre Kraft als Avantgarde zu machen, die fähig ist, die revolutionäre Bewegung zu leiten. Der “bewaffnete Kampf” wird als die höchste Form der sozialen Kämpfe dargestellt. Diejenigen, die militärisch am repräsentativsten sind – dank der spektakulären Wirkung der Aktionen –, bilden folglich die authentische bewaffnete Partei. Die Prozesse und die Volksgerichte sind die konsequente in Szene Setzung von denjenigen, die sich an der Stelle des Staates sehen wollen.
Der Staat seinerseits hat alles Interesse daran, die revolutionäre Bedrohung auf eine Hand voll kämpfender Organisationen zu reduzieren, um so die Subversion in einen Konflikt zwischen zwei Armeen zu verwandeln: die Institutionen auf der einen Seite, die bewaffnete Partei auf der anderen. Wovor sich die Herrschaft wirklich fürchtet, ist die generalisierte und anonyme Revolte. Das mediale Bild des “Terroristen” arbeitet Hand in Hand mit der Polizei zur Verteidigung des sozialen Friedens. Der Bürger applaudiert oder empört sich, bleibt jedoch so oder so ein Bürger, das heisst, ein Zuschauer.
Schliesslich nährt die reformistische Verschönerung des Bestehenden die bewaffnete Mythologie indem sie die falsche Wahl zwischen legaler Politik und klandestiner Politik produziert. Es genügt festzustellen, wie viele aufrechte, linke Demokraten sich von den Guerillas in Mexiko oder Lateinamerika gerührt fühlen. Die Passivität benötigt stets Ratgeber und Spezialisten. Wenn sie von den einen – den traditionellen – enttäuscht wird, schart sie sich um die neuen.
Eine bewaffnete Organisation – mit einem Programm und einem Kennzeichen –, die ausschliesslich aus Revolutionären besteht, kann sicherlich libertäre Charakteristiken enthalten, ebenso wie die soziale Revolution, die zahlreiche Anarchisten wollen, zweifellos auch ein “bewaffneter Kampf” ist. Doch genügt das?
Wenn wir die Notwendigkeit erkennen, die bewaffnete Tat im Laufe der aufständischen Konfrontation zu organisieren; wenn wir von nun an die Möglichkeit verteidigen, die Menschen und Strukturen der Herrschaft anzugreifen; wenn wir schliesslich die horizontale Verbindung zwischen Affinitätsgruppen in den Praktiken der Revolte als entscheidend erachten, dann kritisieren wir im Gegenzug die Perspektive von jenen, die die bewaffneten Aktionen als eine wirkliche Überwindung der Grenzen der sozialen Kämpfe darstellen und somit einer Kampfform eine den anderen übergeordnete Rolle zuschreiben. Darüberhinaus sehen wir in dem Gebrauch von Kennzeichen und Programmen die Schaffung einer Identität, die die Revolutionäre von anderen Ausgebeuteten separiert, während sie sich gleichzeitig für die Augen der Macht sichtbar, das heisst, repräsentierbar macht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist der bewaffnete Angriff nicht mehr eines der zahlreichen Mittel zur eigenen Befreiung, sondern ein Ausdruck, der mit einem symbolischen Wert aufgeladen ist und zur Aneignung der anonymen Rebellion tendiert. Die informelle Organisation als Handlung an den zeitlichen Aspekt der Kämpfe gebunden, wird zur permanenten und formalisierten Entscheidungsstruktur. Was eine Gelegenheit war, sich in seinen Projekten zu treffen, verwandelt sich in ein Projekt an sich. Die Organisation beginnt, genauso wie die reformistischen, quantitativen Strukturen, ihre eigene Reproduktion anzustreben. Daraus folgt unabwendbar die triste Reihe von Bekennerschreiben und programmatischen Dokumenten, in welchen man den Ton anhebt, um sich folglich in der Suche nach einer Identität wiederzufinden, die nur existiert, weil sie deklariert wurde. Angriffsaktionen, die mit anderen, schlicht anonymen Aktionen vergleichbar sind, scheinen somit wer weiss was für einen qualitativen Sprung in der revolutionären Praxis darzustellen. Das Muster der Politik taucht wieder auf und man beginnt in gerader Linie zu fliegen.
Natürlich ist die Notwendigkeit sich zu organisieren etwas, das die Praxis der Subversiven, über die Erfordernisse eines Kampfes hinaus, immer begleiten kann. Doch um sich zu organisieren braucht es lebendige und konkrete Vereinbarungen, nicht ein Bild auf der Suche nach Scheinwerfern.
Das Geheimnis des subversiven Spiels ist die Fähigkeit, die deformierenden Spiegel zu zerschlagen und sich von Angesicht zu Angesicht mit den eigenen Nacktheiten wiederzufinden. Die Organisation ist die reelle Gesamtheit von Projekten, die sie zum Leben erweckt. Alles andere ist eine politische Prothese und nichts anderes.
Der Aufstand ist viel mehr als ein “bewaffneter Kampf”, denn die generalisierte Konfrontation macht aus ihm Eins mit der Umwälzung der sozialen Ordnung. Die alte Welt wird umgestürzt, insofern die aufständischen Ausgebeuteten alle bewaffnet sind. Nur dann sind die Waffen nicht mehr der abgetrennte Ausdruck einer Avantgarde, das Monopol zukünftiger Bosse und Bürokraten, sondern die konkrete Bedingung der revolutionären Fete: die kollektive Möglichkeit, die Umwandlung der sozialen Beziehungen auszuweiten und zu verteidigen. In Abwesenheit des aufständischen Bruchs ist die subversive Praxis noch weniger ein “bewaffneter Kampf”, es sei denn, man will das masslose Feld seiner Leidenschaften einzig auf bestimmte Werkzeuge beschränken. Die Frage ist, ob man sich selbst mit den bereits festgelegten Rollen zufriedengeben will, oder ob man die Kohärenz ausgehend vom entlegendsten Punkt sucht: dem Leben.
So werden wir in der diffusen Revolte, im Gegenlicht eine prächtige Verschwörung von Egos ausmachen können, um eine Gesellschaft ohne Chefs und ohne Schlafende zu erschaffen. Eine Gesellschaft freier und einzigartiger Individuen.
IX
« Frag uns nicht nach der Formel, die dir Welten zu öffnen vermag,
doch irgendeine deformierte Silbe, trochen wie ein Ast.
Heute können wir dir einzig sagen, was wir nicht sind,
was wir nicht wollen. »
E. Montale
Das Leben kann nicht nur etwas sein, woran man sich festhält. Es existiert eine Idee, die jeden zumindestens einmal flüchtig streift. Wir besitzen eine Möglichkeit, die uns freier macht als die Götter: Jene davonzugehen. Es ist eine Idee, die in aller Fülle auszukosten ist. Nichts und Niemand verpflichtet uns zu leben. Nicht einmal der Tod. Darum ist unser Leben eine tabula rasa; eine noch unbeschriebene Tafel, die folglich alle möglichen Worte enthält. Mit einer solchen Freiheit können wir nicht als Sklaven leben. Sklaverei ist für jene gemacht, die zum Leben verdammt sind, jene, die bis in die Unendlichkeit gezwungen sind, nicht für uns. Für uns gibt es das Unbekannte.
Das Unbekannte von Stimmungen, in denen es sich zu verlieren gilt, von nie erforschten Gedanken, von Gewissheiten, die in Luft aufgehen, von perfekten Fremden, denen wir das Leben anzubieten haben. Das Unbekannte einer Welt, der wir endlich den Überfluss an Selbstliebe geben können. Und auch das Risiko. Das Risiko von Brutalität und Angst. Das Risiko schliesslich dem Lebensschmerz ins Gesicht zu blicken. All dies betrifft jene, die mit dem Beruf des Existierens Schluss machen wollen.
Unsere Zeitgenossen scheinen beruflich zu leben. Sie schlagen keuchend mit tausend Verpflichtungen um sich, selbst mit der tristesten – jener, sich zu amüsieren. Sie verhüllen die Unfähigkeit, über ihr eigenes Leben zu bestimmen, mit detaillierten und hektischen Aktivitäten, mit einer Geschwindigkeit, die täglich passivere Verhaltensweisen verwaltet. Sie kennen die Leichtigkeit des Negativen nicht.
Wir können uns entscheiden, nicht zu leben. Dies ist der schönste Grund, um sich mit Stolz dem Leben zu öffnen. « Es ist noch immer Zeit, die Tür hinter sich zuzuschlagen; wir können also ebensogut rebellieren und spielen » – so spricht der Materialismus der Freude.
Wir können uns entscheiden, nichts zu tun. Dies ist der schönste Grund, um zu handeln. Wenn wir die Kraft aller Taten, zu denen wir fähig sind in uns versammeln, dann wird uns kein Boss jemals die Möglichkeit zu Verweigern entreissen. Was wir sind und was wir wollen beginnt mit einem Nein. Daraus gehen die einzigen Gründe hervor, sich Morgens zu erheben. Daraus gehen die einzigen Gründe hervor, um bewaffnet zum Angriff auf eine Ordnung überzugehen, die uns erstickt.
Auf der einen Seite gibt es das Bestehende, mit seinen Gewohnheiten und seinen Sicherheiten. Und an Sicherheiten, diesem sozialen Gift, kann man sterben.
Auf der anderen Seite gibt es den Aufstand, das Unbekannte, das im Leben eines jeden hervorbricht. Der mögliche Beginn einer exzessiven Praxis der Freiheit.